Weichet nur, betrübte Schatten

BWV 202 // zur Hochzeitsfeier

für Sopran Oboe, Streicher und Basso continuo

Mit einem pastellzarten Sonnenaufgang beginnt die Kantate «Weichet nur, betrübte Schatten», die in für Bach seltener Weise den Ausdruck menschlicher Liebensempfindungen mit der feinsinnigen Nachzeichnung von Naturerscheinungen verknüpft. Und so verrät der allgegenwärtige Frühlingsbezug auch den Anlass der sonst quellenmässig nicht genau zu lokalisierenden Komposition – es ist eine Hochzeitskantate, deren charmante sängerische Virtuosität und deren leichter, augenzwinkernder und tänzerischer Tonfall einen reizvollen Blick in die Inspirationskraft und Werkstatt des weltlichen und selbst unüberhörbar liebeskundigen Bach gestattet.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 202

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Werkeinführung
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Carolyn Sampson

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Lenka Torgersen, Ildikó Sajgó

Viola
Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Andreas Helm

Fagott
Susann Landert

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Gunhild Kuebler

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
30.06.2017

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Einstein Saal

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
nicht bekannt

Erste Aufführung
nicht bekannt

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Partitur dieser Kantate ist nur in einer Abschrift vorhanden, die ein dreizehnjähriger Schüler des Thüringer Organisten Johann Peter Kellner 1730 anfertigte. Im frühen 19. Jahrhundert gelangte diese Kopie in die Hände kundiger Sammler in Berlin, die sie der Nachwelt bewahrten. Welchem Hochzeitspaar die Kantate gewidmet war, wann und wo sie aufgeführt wurde, lässt sich nicht eruieren. Aus dem Stil der Dichtung und der musikalischen Gestaltung darf geschlossen werden, dass es sich wohl nicht um eine Fürstenhochzeit, sondern eher um eine Vermählung aus bürgerlichen Kreisen handelte. Dass sich naturbezogene Frühlingsfeier und erotische Anspielungswelt konstant durchdringen, verleiht dem Libretto einen besonderen Reiz, der dem Komponisten hörbar Freude und Inspiration bereitet hat. Der konzentrierten Knappheit der Textvorlagen entspricht eine bei Bach (vielleicht nicht zufällig mit Ausnahme der späten «Bauernkantate» BWV 212) selten anzutreffende Effizienz gedrängter und plastischer Formen.

1. (Adagio)

Weichet nur, betrübte Schatten,
Frost und Winde, geht zur Ruh!
Florens Lust will der Brust
nichts als frohes Glück verstatten,
denn sie träget Blumen zu.

1. (Adagio)
Offensichtlich fand die Hochzeit im Frühling statt, in der Zeit, da Frost und Winde sich zurückziehen und die Göttin Flora mit Blumen zur Festfreude beiträgt. Bach komponiert dafür einen musikalischen Sonnen­aufgang par excellence, bei dem sich über aufsteigenden Brechungen der Streicher Oboe und Sopranstimme in expressiven Kantilenen mit ausdrucksstarken Akzenten («betrübte Schatten») umschlingen. Demgegenüber setzt der kompaktere Mittelteil auf volkstümlich zupackende Akzente.

2. Rezitativ

Die Welt wird wieder neu,
auf Bergen und in Gründen

will sich die Anmut doppelt schön verbinden,
der Tag ist von der Kälte frei.

2. Rezitativ
Wenn Schnee und Kälte verschwunden sind, erscheint die Welt wie neu und «doppelt schön».

3. Arie

Phoebus eilt mit schnellen Pferden
durch die neugeborne Welt.
Ja, weil sie ihm wohlgefällt,
will er selbst ein Buhler werden.

3. Arie
Nochmals wird «die neugeborne Welt» gepriesen, an welcher auch Phoebus, der licht­strahlende Gott, sein Wohlgefallen hat. Das «Eilen der schnellen Pferde» fasst Bach in ein motorisches Continuomodell, das die in sich beschleunigte Solostimme beständig vorantreibt. Zugleich wird damit die Leidenschaft des «buhlenden» Göttergatten illustriert.

4. Rezitativ

Drum sucht auch Amor sein Vergnügen,
wenn Purpur in den Wiesen lacht,
wenn Florens Pracht sich herrlich macht,
und wenn in seinem Reich,
den schönen Blumen gleich,
auch Herzen feurig siegen.

4. Rezitativ
Der Frühling zeigt seine Blütenpracht. Neben den Gottheiten Flora und Phoebus hat sich nun auch Amor eingestellt und sucht hier «sein Vergnügen».

5. Arie

Wenn die Frühlingslüfte streichen
und durch bunte Felder wehn,
pflegt auch Amor auszuschleichen,
um nach seinem Schmuck zu sehn,
welcher, glaubt man, dieser ist,
daß ein Herz das andre küsst.

5. Arie
«Dass ein Herz das andre küsst», sei Amors Erfolg und «Schmuck». Das «Schleichen» des verliebten Amor drückt eine ausdrucksstarke Violinstimme aus, die der verhangenen e-Moll-Musik einen zugleich emsigen wie geheimnisvollen Charakter verleiht. Gewisse Schwächen der Textunterlegung lassen bei dieser Arie ganz besonders an die Parodiebearbeitung einer älteren Vorlage denken, was sich aufgrund des Fehlens Bach’scher Originalquellen für die ganze Kantate nur bedingt untersuchen lässt.

6. Rezitativ

Und dieses ist das Glücke,
daß durch ein hohes Gunstgeschicke
zwei Seelen einen Schmuck erlanget,
an dem viel Heil und Segen pranget.

6. Rezitativ
Es gilt ein Brautpaar zu feiern. Den Hinweis auf «ein hohes Gunstgeschicke» könnte man als Anspielung auf eine obrigkeitliche Heiratserlaubnis verstehen. Der reiche Fluss des Segens hat Bach zu einer ariosen Schlussdehnung inspiriert.

7. Arie

Sich üben im Lieben,
in Scherzen sich herzen
ist besser als Florens vergängliche Lust.
Hier quellen die Wellen,
hier lachen und wachen
die siegenden Palmen auf Lippen und Brust.

7. Arie
Die Göttin Flora hat ausgespielt und Amor behauptet das Feld; denn die von «siegenden Palmen» gekrönte Liebe «ist besser als Florens vergängliche Lust». Die sehr tanzbetonte Musik im geschwinden 3⁄8-Takt ver­leiht der Arie im Zusammenklang mit dem elegant-bukolischen Oboenklang einen mer­k­­lich aufgeräumten Charakter, der einen ausgelassenen Hochzeitsreigen evoziert.

8. Rezitativ

So sei das Band der keuschen Liebe,
verlobte Zwei,
vom Unbestand des Wechsels frei!
Kein jäher Fall
noch Donnerknall
erschrecke die verliebten Triebe!

8. Rezitativ
An das Hochzeitspaar ergehen gute Wünsche, dass die Ehe beständig und von Unglück verschont bleibe.

9. Arie (Gavotte)

Sehet in Zufriedenheit
tausend helle Wohlfahrtstage,
daß bald bei der Folgezeit
eure Liebe Blumen trage!

9 Arie (Gavotte)
Den Neuvermählten wünscht der Dichter «Wohlfahrtstage» und andeutungsweise bald eintreffenden Nachwuchs. Mit der handfest aufstampfenden und überraschend kur­zen Gavottenform scheint sich die kunsthafte Musik direkt in die Hochzeitsfeier hinein zu verabschieden.

Reflexion

Gunhild Kübler

Die Erde ist der Ort des Wunderbaren

Anmerkungen zu Johann Sebastian Bachs Kantate zur Hochzeitsfeier «Weichet nur, betrübte Schatten» (BWV 202)

Ich freue mich über die Gelegenheit, mit Ihnen diese strahlend lebensfrohe Hochzeitskantate von Johann Sebastian Bach anzuhören und zu bedenken. Sie ist besetzt mit einer einzigen Vokalstimme und einem kleinen Instrumentalensemble. Und doch: Was für grosse und weitreichende Themen: Lenz, Liebe, Lebensglück – weltliche Themen. Aber an Zeichen und Wundern mangelt es hier keineswegs, und auch Glaube und Zuversicht spielen eine grosse Rolle, samt einer gewissen Hartnäckigkeit, die als Resistenz gegen Anfechtungen gelten kann. Beim Zuhören kann man durchaus auf die Idee kommen, dass sich hier Irdisches und Himmlisches gegenseitig durchdringen.
Die Kantate inszeniert ein Wunder, doch muss sie dafür zunächst die Voraussetzungen schaffen und alle Mächte, die ihm entgegenstehen, austreiben. In den ersten Worten der ersten Arie geschieht genau das: «Frost», «Wind» und Düsternis werden mit einem Bann belegt. Besonders widerspenstig und überraschend dissonant gebärden sich dabei die «betrübten Schatten». Düstere Schatten sind das übrigens, nicht traurige. Denn das Wort «betrüben» hatte zur Zeit Bachs (nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuchs) noch die ihm heute verloren gegangene zweite Bedeutung von «trüb machen», «eintrüben» – damals konnten beispielsweise Wolken den Himmel «betrüben» und der Wolf aus der Fabel dem unschuldigen Lamm vorwerfen, es hätte ihm das Wasser «betrübt».
Ist erst die winterliche Unbill gebieterisch zur Ruh gebracht, setzt sich der Sonnenaufgang durch und beleuchtet einen der schönsten Vorgänge des ganzen Vegetationsjahrs – die Wiederkehr der Blumen. Wahrscheinlich sind es die Frühblüher, die hier plötzlich den eben noch wüst-und-leeren Boden tüpfeln: Winterlinge, Anemonen, Leberblümchen, Himmelsschlüssel – all die botanischen Winzlinge, die sich trotz des Risikos eines Frosteinbruchs hervorwagen, weil sie die Zeit nutzen müssen, in der die grösseren Pflanzen noch keine Blätter haben. – Das ist der Moment, in dem die alt-italische Göttin Flora erscheint. Sandro Botticelli hat sie rund 250 Jahre vor Bachs Kantate auf seinem berühmten Bild «Primavera» unvergesslich gemalt. Gehüllt in ein helles, blumenbesticktes Schleiergewand schreitet sie durch einen Orangenhain. Unter ihren schmalen, nackten Füssen blühen die Blumen auf. Eine zauberhafte Vorstellung.
Man kann das Vegetationswunder aber auch ganz anders fassen. Farbstoffe in den Blättern der Blumen, las man kürzlich auf der Forschungsseite der NZZ, registrierten Dauer und Stärke des Sonnenlichts und setzen im günstigen Fall «eine spezifische Signalkaskade» in Gang, an deren Ende die Stabilisierung des sogenannten «Constans-Proteins» steht. «Dieses schaltet das Gen Flowering Locus T an, dessen Produkt (das FT-Protein) als Langstrecken-‹Blühsignal› von den Blättern in jenes Gewebe wandert, das schliesslich die Blüten bildet.» Wenn die Tage noch zu kurz sind, ist es dann schon wieder dunkel und das Protein wird sofort wieder abgebaut. Doch ist die Tageslänge bloss einer von vielen Faktoren, deren Zusammenspiel die Frühblüher hervorbringt. – Schörkellos exakt wird hier die «molekulare Maschinerie» beschrieben, die hinter der ersten Frühlingsblüte steht. Verliert der Naturvorgang dadurch seinen Zauber? Im Gegenteil. Bei uns, die wir davon hören oder lesen, stellt sich angesichts von so viel bisher ungeahnter Komplexität erst recht die in dieser Hochzeitskantate so beschwingt gefeierte Einsicht ein: Die Erde ist der Ort des Wunderbaren.
Zu Flora gesellt sich nun Phoebus, der Sonnengott. Erpicht auf Liebesabenteuer, ist er im Feuerwagen mit schnellen Pferden unterwegs (man hört im Continuo das schnelle Huf-Getrappel seines Vierergespanns). Auch Amor, die Personifikation der Liebe, stellt sich ein. Kein harmloser Gott. Der geflügelte Sohn von Venus und Mars ist ein berüchtigter Bogenschütze und bekanntlich unkontrollierbar und unbesiegbar. Hier schleicht er aus wie ein Detektiv und beobachtet still vergnügt, was er initiiert hat: Einen Moment der Offenbarung – «dass ein Herz das andre küsst». Beweis und Bekräftigung der Liebe.
Damit sind wir im Zentrum der Kantate, das Brautpaar, die «verlobten Zwei» rücken in den Blick. Nun zeigt sich: Der ganze von Wundern und Offenbarungen begleitete Frühlingszauber ist ihnen zugedacht und zugesungen, weil sich darin ihre verliebte Vorgeschichte spiegelt, das Aufblühen ihrer Gefühle füreinander. Die beiden Sphären, frühlingshafte Natur und menschliche Innenwelt, verschränken sich, um sich gegenseitig zu erhellen. Was ja auch wunderbar gelingt. Denn durch die Liebe gewinnt die Welt auch für das Hochzeitspaar Liebe an Licht, Wärme, Farbe, Wert und Bedeutung. Die Liebe ist ein vitalisierendes, euphorisierendes Programm, sie dient der Lebensglanzsteigerung. Die beiden haben es erlebt.
Das berühmte Gefühl, die Bedingungen seines Entstehens, seine Begleiterscheinungen, Verlaufsformen und Nachwirkungen ist eins der am häufigsten bedachten, beredeten, beschriebenen, besungenen, bebilderten und wissenschaftlich analysierten Themen. Circa 270 Millionen Treffer oder «Hits» erhält man in nicht ganz einer Sekunde, wenn man in die Google-Suchmaske das Stichwort «Liebe» eintippt (zum Vergleich: beim Stichwort Vernunft kommt man auf 9,5 Millionen Hits).
Der gewaltige Beschreibungs- und Analyseaufwand hat allerdings keine Einigkeit über das Phänomen und keine Lösung seiner Rätsel gebracht. Nur schon die Frage, seit wann es eine Sprache für die Liebe gibt, ist in der Literaturwissenschaft umstritten. Zu meiner Studienzeit galten die provenzalischen Minnesänger des 11. / 12. Jahrhunderts als die eigentlichen «Erfinder» unseres abendländischen Liebes-Begriffs und unsres Redens von der Liebe. Obwohl man damals schon wusste, dass einige Teile der rein weltlichen Liebeslyrik, die als «Das Hohe Lied Salomos» zu den Heiligen Schriften von Juden und Christen zählt, weit mehr als tausend Jahre älter sind als der Minnesang.
Auch die Philosophen streiten. Die Kategorie der Liebe sei «auf berüchtigte Weise schwer zu erhellen», schreibt vielsagend der heute 88-jährige Princeton-Philosoph Harry Frankfurt in seinem Buch über Gründe der Liebe. Er definiert die Liebe als selbstlose praktische Sorge um die Existenz des geliebten Wesens. Und warum liebt man? Aus Freude am Partner und am eigenen Hochgefühl. Für Harry Frankfurt ist die Liebe letztlich eine Sache des Willens. Doch hat er zuvor wohlweislich aus seiner Definition nicht bloss die romantische, sondern auch die vorwiegend sexuelle Liebe ausgeschlossen und zugleich alle Spielarten von «Vernarrtheit, Lust, Besessenheit, Besitzdrang und Abhängigkeit». Was für ein abgeklärter, vernunftgesteuerter Begriff von Liebe – wenn man sich den antiken Gott Amor vor Augen ruft, dem Caravaggio auf seinem Gemälde Omnia vincit amor (1602) zwei grosse, dunkle Flügel mitgegeben und ein spöttisches, ja herausforderndes Lächeln ins Gesicht gemalt hat.
Zurück zur Kantate. Zweimal ist darin von «Glück» die Rede: Eingangs beim Auftritt von Flora und hier mit Bezug auf die Hochzeit des Paars. «Hohes Gunstgeschicke » (vielleicht eine obrigkeitliche Heiratserlaubnis ?) hat alle Hindernisse beseitigt, die einer Hochzeit im Weg standen. Ein Wendepunkt. Nun geht es nicht mehr um ein vergängliches Frühlingswunder oder die erotische Illumination der Welt. Jetzt geht es um die Zukunft, eine stabile Bindung auf Lebensdauer und ein Versprechen vor wichtigen Instanzen und vielen Zeugen. Aus einer mehr oder weniger zufälligen Begegnung soll eine dauerhaft verpflichtende Konstruktion werden, ja ein mit Zuversicht und freundlicher Hartnäckigkeit jahrzehntelang verfolgtes Projekt. Im Gegenzug wird «viel Heil und Segen» garantiert.
Ein Happy End. Die Kantate könnte hier Schluss machen wie so viele Romane, die davon handeln, wie Liebespaare sich finden. Andere fangen an mit einer Heirat und berichten dann vom dramatischen Zusammenprall instabiler Gefühle mit der gesetzlichen Ordnung, ja von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe. Diese Lehre hat die europäische Literatur über Jahrhunderte hin produktiv gemacht und – von Goethes Wahlverwandtschaften über Fontanes Effi Briest bis zu Flauberts Madame Bovary – eine Fülle tragischer Geschichten generiert.
Heute generiert sie auch die vielen Geschichtchen der Populärpsychologie, die vorführen, wie die Liebe im trüben Alltag spurlos versickert. «Die Ehe», schreibt der britisch-schweizerische Erfolgsautor Alain de Botton, ist «eine zutiefst merkwürdige Lieblosigkeit, die man niemandem antun sollte, der einem viel bedeutet oder den man angeblich liebt.» Und der französische Soziologe Jean Claude Kaufmann erklärt in seiner Studie Was sich liebt, das nervt sich anhand von Hunderten von nervtötenden Fallgeschichten, dass und warum in modernen Ehen «das eheliche Ärgerpotential kontinuierlich ansteigt».
Vielleicht ist das Reden über die eheliche Liebe bei erfahrenen Paartherapeuten wie dem Zürcher Psychiatrieprofessor Jürg Willi besser aufgehoben. Er entwickelt in seinen Büchern über den Zusammenhalt von Paaren eine Theorie vom besonderen Wert der langjährigen Liebe. Paarbeziehungen sieht er als Ökosysteme, in denen sich die Partner gegenseitig stimulieren und so gemeinsam wachsen. Wir alle haben weit mehr Potenzial als wir je entfalten können, doch mit der Liebe kommt die grosse Chance, dieses Potenzial als Energiespender für die Beziehung zu erschliessen. Und mit ihrer Dauer entsteht eine gemeinsame Welt, in der das Paar Stabilität und Sinn findet. Kein schlechtes Rezept für ein langes, glückliches Liebesbeziehungsleben.
Auch unsere Kantate hat ein solches Rezept. «Sich üben im Lieben, im Scherzen sich herzen», heisst die Devise. Ganze zehn Mal wird sie uns vom Sopran eingeschärft. Und mit Recht. Denn man kann nicht besser sagen, was einer langen Liebe gut tut. Gerade ist im allerneusten Schweizer Kinogrosserfolg, dem in Trogen gedrehten hervorragenden Spielfilm «Die göttliche Ordnung», das zentrale Paar zu genau dieser Einsicht gekommen. Aber kein noch so begnadeter Paartherapeut und keine Filmcrew werden je die heitere Leichtigkeit und den tänzerischen Schwung erreichen, mit dem Bach hier diese Devise unters Volk bringt. Es heisst, diese Arie imitiere einen schnellen Tanz, den Passepied. Inzwischen hab ich mir ein halbes Dutzend verschiedener Tanzweisen des Passepied auf Youtube angesehen und muss gestehen: überzeugt hat mich keine. Stattdessen höre ich hier ständig den mitreissenden Dreivierteltakt eines schnellen Walzers. Vielleicht hatte ja die geniale Bach-Familie rund achtzig Jahre vor dem Wiener Kongress diesen Tanz ganz nebenbei schon mal erfunden.
Auf die möglichen Zerreissproben einer ehelichen Beziehung wird danach nicht länger eingegangen. Die musikalischen Illustrationen von «Jäher Fall» und «Donnerknall» hören sich eher an wie Schreckschüsse als wie echte Bedrohungen. Mehr Platz bekommt das zuletzt ermunternd ausgemalte Lebensglück des Paars im Schoss seiner neu gegründeten Familie. Auch dieser Schluss-Satz klingt wie ein Tanz, eine würdige Gavotte. Die Dreiteilung des Satzes und die den Sopran begleitenden Akkordbrechungen der hohen Streichinstrumente, so die Musikexperten, verweisen auf die Eröffnung der Kantate durch den dreiteiligen ersten Satz, der den Sonnenaufgang illustriert. Damit schliesst sich der Kreis.
Und ich habe mein Stichwort: Sonnenaufgang. Ich möchte nämlich noch einmal auf die Liebe zurückkommen und zeigen, wie gut das Reden über sie aufgehoben sein kann bei den Dichtern. Unter den rund 1 800 Gedichten der amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson (1830 – 1886), mit der ich mich nun seit fast zwanzig Jahren befasse, gibt es Hunderte von wunderbaren Liebesgedichten – sehnsüchtige, glückstrahlende, ironische, verzweifelte, zornige, erschreckende – man könnte einen eigenen Band zusammenstellen. Ich will hier zum Abschluss eins davon vortragen. Es sucht (wie Harry Frankfurt ) nach Gründen für die Liebe, tut das aber, anders als der Philosoph, im Gespräch mit einem geliebten Gegenüber. Das Gedicht wiederholt dessen Frage nach dem Warum der Liebe und preist dann in wunderbaren Bildern die Liebe als Naturgewalt wie Wind, Blitz und Sonnenaufgang. Und ganz nebenbei kommt es im allerletzten Wort vom Sie zum Du. Aber hören Sie selbst:

«Why do I love You, Sir?»
Because –
The Wind does not require the Grass
To answer – Wherefore when He pass
She cannot keep Her place.
Because He knows – and
Do not You –
And We know not –
Enough for Us
The Wisdom it be so –
The Lightning – never asked an Eye
Wherefore it shut – when He was by –
Because He knows it cannot speak –
And reasons not contained – of Talk –
There be – preferred by Daintier Folk –
The Sunrise – Sir – compelleth Me –
Because He`s Sunrise – and I see –
Therefore – Then –
I love Thee – »

«Warum ich liebe Sie, Sir?»
Weil –
Der Wind wenn übers Gras er eilt
Bestürmt es nicht – dass es Ihm sag,
Warum’s nicht stehen bleibt.
Weil Er es weiß – und
Sie nicht auch –
Wir wissen nicht –
Für Uns genügt
Der Weisheit Spruch – so sei’s –
Der Blitz – hat nie ein Aug gefragt –
Warum es zugeht – wenn Er naht –
Er weiß es kann nicht reden –
Und daß es für Sensiblere –
Mag stumme Gründe geben –
Der Sonnenaufgang – nötigt Mich –
Sir – weil Er da ist – sehe ich –
Darum – Dann –
Lieb ich Dich – »

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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