Die Kantate BWV 29

Johann Sebastian Bachs Kompositionsstil ist einzigartig und unverkennbar. Seine Fähigkeit, für jede ihm gestellte Aufgabe ein ideales musikalisches Material zu schöpfen und dabei nahezu unbegrenzte Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung vorauszudenken, war schon zu Lebzeiten legendär und beeindruckt noch heute.

Dennoch hat Bach wie fast alle seiner komponierenden Zeitgenossen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Vorlagen anderer Meister zu bearbeiten sowie eigene ältere Werke in revidierter Form erneut heranzuziehen. Obwohl derartige Praktiken schon im 18. Jahrhundert nicht unumstritten waren, werden der dem Kunstideal der Frühklassik und Romantik entstammende Gedanke des „Originalgenies“ und das moderne Konzept eines künstlerischen Urheberrechtes der musikalischen Realität des Barock nicht gerecht. Neben der Überlastung durch zahlreiche oft kurzfristig angesetzte Dienstaufgaben und Nebenauftritte spielte dabei gewiß die reizvolle Möglichkeit eine Rolle, einmalige Gelegenheitswerke (etwa für Hochzeiten oder Beerdigungen) durch Aufnahme in einen anderen Darbietungskontext dauerhaft zu bewahren und damit – in einer Zeit ohne Gesamtausgaben und Tonaufnahmen – geniale Ideen und Entwürfe nicht ungenutzt liegen zu lassen. Hinter manchem Zitat verbarg sich überdies eine nur für Eingeweihte erkennbare Reverenz an musikalische Lehrer und Vorbilder.

Die einfachste Form dieser Umarbeitung lässt sich als sogenanntes „Parodieverfahren“ bezeichnen. Bei einem Stück mit Singstimmen wird dabei der ursprüngliche Notentext weitgehend beibehalten und nur der Wortlaut so ausgetauscht, dass er vom Gefühlsausdruck sowie von der Sprachdeklamation her passt. Wie gut dies gerade Johann Sebastian Bach mit Hilfe begabter Textdichter gelang, zeigen etwa die großen Chorsätze des Weihnachtsoratoriums, deren neue Textgestalt („Jauchzet, frohlocket, auf! preiset die Tage!“) die ursprünglichen Vorlagensätze trotz ihrer engen musikalischen Bindung an den Wortlaut nahezu in Vergessenheit geraten ließ („Tönet ihr Pauken! Erschallet Trompeten!“). Für derartige Transformationen ist der Eingangschor der von Bach eigenhändig auf 1731 datierten Kantate zum Leipziger Ratswechsel „Wir danken dir, Gott, wir danken dir“ BWV 29 ein gutes Beispiel. Denn als Bach 1733 dem neuen sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. ganz karrierebewußt eine repräsentative Musik widmen wollte, kam für diesen katholischen Fürsten eine protestantische deutsche Kirchenkantate keinesfalls in Betracht. Bach wählte deshalb einige seiner gelungensten Kantatensätze aus und stellte damit eine aus nur aus den Abschnitten Kyrie und Gloria bestehende Kurzmesse (Missa brevis) zusammen: die sogenannte Dresdener „Missa“ als Frühfassung der Messe in h-Moll. Dabei unterlegte er der Musik unseres Eingangschores den neuen Text „Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam“, was nahezu eine Übersetzung des deutschen Textes darstellt und als Dankgebet auch im emotionalen Gestus übereinstimmt. Als Bach dann 1748/49 seine Dresdener Messe aus bisher nicht sicher bekannten Gründen zur „h-Moll-Messe“ erweiterte, verwendete er dieses klangvolle „Gratias“ ein zweites Mal für den abschließenden Chor „Dona nobis pacem“. In dieser finalen Gestalt ist der Satz heute weltberühmt. Diese werkinterne Zweittextierung hatte jedoch wenig mit Zeitknappheit oder Arbeitsunlust zu tun, sondern entsprach der katholischen Meßtradition seiner Zeit, die im Dienst der formalen Abrundung das „Dona nobis pacem“ häufig einem bereits im Laufe der Messe erklungenen Fugensatz entnahm.

Dr. Anselm Hartinger (2013)