Was Gott tut, das ist wohlgetan

BWV 100 // unbekannte Bestimmung

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Horn I+II, Pauken, Traversflöte, Oboe, Streicher und Basso continuo

Dass auch die um 1734/35 entstandene und ohne liturgische Bestimmung überlieferte Kantate «Was Gott tut, das ist wohlgetan» mit einem Trauungsanlass verbunden war, ist zumindest denkbar. In jedem Fall handelt es sich um eine abwechslungsreich durch alle Strophen führende Choralvertonung, deren aus den Kantaten BWV 99 und 75 übernommene Rahmensätze Bach durch hinzugefügte Hörner und Pauken aufwertete. Auch die Duette und Arien bieten alles an Virtuosität, Klangreichtum und Tanzfreude auf, was dem hörbar um Eleganz und Modernität bemühten Bach der 1730er Jahre zur Verfügung stand.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Stephanie Pfeffer

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Patrick Grahl

Bass
Daniel Ochoa

Chor

Sopran
Maria Deger, Linda Loosli, Stephanie Pfeffer, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Ulla Westvik

Alt
Antonia Frey, Simon Savoy, Lea Scherer, Lisa Weiss, Sarah Widmer

Tenor
Marcel Fässler, Achim Glatz, Christian Rathgeber, Berthold Schindler

Bass
Jean-Christophe Groffe, Fabrice Hayoz, Israel Martins, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Péter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen

Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Sarah Mühlethaler

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Marc Hantaï

Oboe
Andreas Helm

Fagott
Gabriele Gombi

Horn
Stephan Katte, Thomas Friedlaender

Pauken
Inez Ellmann

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Reflexion
Paul Hoff

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
25.04.2025

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
Um 1732

Textgrundlage
Samuel Rodigast, 1676/1677

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

«Was Gott tut, das ist wohlgetan» (BWV 100) ist eine Kantate, die den Liedtext «per omnes versus», also auch in den Ariensätzen ohne freie Umdichtungen vertont. Um 1734/35 entstanden und ohne nähere liturgische Bestimmung überliefert, ist die Forschung bis heute hinsichtlich ihres Entstehungskontexts uneins. Neben einem vom Text her nicht sonderlich plausiblen Trauungsanlass wurde auch eine externe Bestellung durch den Herzog von Sachsen-Weissenfels – bei dem Bach seit 1729 als Titular-Kapellmeister in Diensten stand – ins Spiel gebracht. Mehrere in Bachs späteren Jahren nachweisbare Wiederaufführungen sprechen für eine besonders flexible Verwendbarkeit, und noch sein «Hamburger» Sohn Carl Philipp Emanuel hat später handschriftlich in der Originalpartitur Hinweise für eine eigene Einrichtung notiert. Trotz der sich sechsmal wiederholenden gleichen Anfangszeile führt Bach betont abwechslungsreich durch alle Strophen dieses von Samuel Rodigast 1676 gedichteten Chorals. Die beiden aus den Kantaten BWV 99 und 75 übernommenen Rahmensätze hat Bach durch hinzugefügte Hörner und Pauken geschickt aufgewertet. Dem offenbar festlichen Anlass entsprechend bieten auch die Duette und Arien alles an Virtuosität, Klangreichtum und Tanzfreude auf, was dem hörbar um Eleganz und Modernität bemühte Leipziger Musikdirektor der 1730er Jahre zur Verfügung stand.

1. Chor
Was Gott tut, das ist wohlgetan,
es bleibt gerecht sein Wille;
wie er fängt meine Sachen an,
will ich ihm halten stille.
Er ist mein Gott,
der in der Not
mich wohl weiß zu erhalten;
drum laß ich ihn nur walten.

1. Chor

Samuel Rodigast (1649–1708) ist der Dichter des Liedes, das Bach in dieser Choralkantate integral (per omnes versus) vertont hat. Die in allen Strophen wiederholte erste Zeile scheint dabei eine Entlehnung aus einem Lied des Komponisten und Kirchenlieddichters Michael Altenburg (1584–1640) zu sein, wobei «Was Gott tut, das ist wohlgetan» dort mit der weniger gelungenen Fortsetzung «kein einzig Mensch ihn tadeln kann» aufwartet. Sie setzt den auf Gottvertrauen trotz aller Lebenswidrigkeiten gestimmten kraftvollen Grundton der Kantate. Das luftige Streicher-Holzbläser-Konzertieren des Vorlagenchors BWV 99/1 wird durch die hinzugefügten Hörner und Pauken nirgends ausgebremst, sondern nur dezent überformt. Dass Bach den locker geformten Vokalapparat gerade nicht mit den Hornstimmen verdoppelt, trägt zur gestaffelten Eleganz eines Satzes bei, in dem sich Vielstimmigkeit und Farbreichtum aufs Schönste verbinden.

2. Duett – Alt, Tenor

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
er wird mich nicht betrügen;
er führet mich auf rechter Bahn,
so laß ich mich begnügen
an seiner Huld
und hab Geduld,
er wird mein Unglück wenden,
es steht in seinen Händen.

2. Duett – Alt, Tenor

Es sind konkrete Erfahrungen von Unglück, gegen die der Lieddichter das Vertrauen auf Gottes Führung anmahnt, mit Anspielungen auf Psalm 23. Es mutet an wie ein Selbstgespräch in Form eines Gebetes, sich zur Geduld mahnend und bekräftigend: «es steht in seinen Händen». Über einem durchlaufenden Bass duettieren Alt und Tenor in einer vom Cantus firmus gelösten Weise, bei der angedeutete Imitationen in kecke Kurzmotiv-Duelle und schwelgerische Textausdeutungen übergehen.

3. Arie — Sopran

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
er wird mich wohl bedenken;
er, als mein Arzt und Wundermann,
wird mir nicht Gift einschenken
vor Arzenei.
Gott ist getreu,
drum will ich auf ihn bauen
und seiner Gnade trauen.

3. Arie — Sopran

Das Wohltun Gottes wird mit der medizinischen Metapher beschrieben, ja fast beschworen: Gott, der getreue «Arzt» und «Wundermann», der kein Gift verabreichen werde, sondern «Arzenei». Das gespannte h-Moll und die weiten Figurationen der Traversflöte rufen eine Aura bittersüsser Eindringlichkeit hervor, die wie eine Übersetzung des alten Choral-Idioms in eine artifizielle höfische (Fremd-)Sprache wirkt.

4. Arie – Bass

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
er ist mein Licht, mein Leben,
der mir nichts Böses gönnen kann,
ich will mich ihm ergeben
in Freud und Leid!
Es kommt die Zeit,
da öffentlich erscheinet,
wie treulich er es meinet

4. Arie – Bass

Nicht nur Vertrauen, nötig ist auch ein fester Wille zur Ergebung «in Freud und Leid» gegenüber dem persönlichen Gott, der zugleich mit überpersönlichen, johanneischen Metaphern als «Licht» und „Leben» beschrieben wird. Gottes Zeit und öffentliche Bewahrheitung stehen allerdings noch aus. Dazu wechselt Bach in einen kernigen Tanzduktus, dessen vom Streichorchester getragene Synkopenketten bodenständige Entschlossenheit verkörpern.

5. Arie – Alt

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
muß ich den Kelch gleich schmecken,
der bitter ist nach meinem Wahn,
laß ich mich doch nicht schrecken,
weil doch zuletzt ich werd ergötzt
mit süßem Trost im Herzen;
da weichen alle Schmerzen.

5. Arie – Alt

Auch Erfahrungen des «bittren Kelchs» werden in diesem gebethaften Choral mit Abendmahls- und Passionsbildern angesprochen. Aber selbst die Bitterkeit tödlicher Kelche verwandelt sich letztlich in «süßen» Trost: «da weichen alle Schmerzen». Ein 12/8-Siciliano im elegischen e-Moll und die atmende Klangfarbe der Oboe d’amore umhüllen die empfindsamen und zuweilen bohrend insistierenden Melodiebögen der Altstimme.

6. Choral

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
darbei will ich verbleiben.
Es mag mich auf die rauhe Bahn
Not, Tod und Elend treiben,
so wird Gott mich
ganz väterlich
in seinen Armen halten;
drum laß ich ihn nur walten.

6. Choral

Unser Trostchoral bekräftigt in der letzten Strophe nochmals angesichts der «rauhen» Erfahrungen von «Not, Tod und Elend» die feste Zuversicht auf Gottes väterliches Walten. Bach entlehnte das Gerüst dieses figurierten Chorals seiner Leipziger Antrittsmusik «Die Elenden sollen essen» von 1723, begnügte sich jedoch nicht mit der Hinzufügung von Hörnern und Pauken. Vielmehr gestaltete er den Orchestersatz auch motivisch sowie in den Längenproportionen wirkungsvoll neu.

Reflexion

Paul Hoff

1. Zum Hintergrund
Meine Überlegungen zu dieser Bach-Kantate fussen auf mehr als vier Jahrzehnten psychiatrischer und psychotherapeutischer Tätigkeit. Wo denn da die Verbindung liege, werden Sie fragen, die Verbindung zwischen einer fast 300 Jahre alten, in einen theologischen Kontext eingebetteten Bach-Kantate einerseits und dem heutigen ärztlichen Umgang mit Menschen in Lebenskrisen sowie psychischen Erkrankungen andererseits? Bei der Vorbereitung zu dieser Reflexion habe ich mir diese Frage auch gestellt, etwas besorgt zunächst, um ehrlich zu sein. Doch ergab sich recht bald eine Antwort, die mir umso überzeugender erschien, je mehr ich mich – als theologischer und musikalischer Laie, der ich bin – in Musik und Text vertiefte.
Diese Antwort hat zu tun mit dem, was wir im ärztlichen Beruf – und hier vielleicht besonders in der Psychiatrie – von unseren Patientinnen und Patienten lernen können, wenn wir nur genau genug hinschauen. Es geht um Spannungen und Widersprüchlichkeiten, mit denen wir alle in unseren Leben konfrontiert sind, die wir nicht vermeiden können, auch wenn wir es noch so gerne täten. Hier, im Aushalten, im Gestalten und, bestenfalls, im Auflösen von schwierigen Situationen, von Unsicherheiten und Widersprüchen, sehe ich die inhaltliche Brücke zwischen dem, was therapeutische Arbeit leisten kann, und dem, was uns Bach in dieser Kantate in Musik und Text entgegenhält.

2. Therapie als interpersonale Beziehung
Ob psychisch gesund oder krank, uns alle verbindet die conditio humana, das, was uns Menschen ausmacht und von Tieren und unbelebten Objekten unterscheidet. Wir fragen und zweifeln, wir handeln und zögern, wir entscheiden und sorgen uns um die Konsequenzen. Dies gilt für die «grossen» Fragen wie etwa «Wer bin ich?», «Wem und welchem Thema widme ich meine Lebenszeit?», «Gibt es Schutz, wenn ich in eine Krise gerate, wenn mir gar der Boden unter den Füssen weggezogen wird?», «Lohnt es sich überhaupt, solche Fragen zu stellen, oder bin ich der Welt, dem Schicksal nicht ohnehin hilflos ausgeliefert?». Es gilt jedoch ebenso für die «kleineren», die alltäglichen Fragen, die nach Entscheidungen verlangen.
Wenn wir die Balance finden zwischen all diesen Herausforderungen, dann haben wir das Glück, uns im eigenen Leben gleichsam «zu Hause zu fühlen», ein Zustand, den wir psychische Gesundheit nennen können. Das ist aber, wie wir alle wissen, nicht immer so. In Krise und Krankheit drängen viele Fragen mit besonderer Macht an die Oberfläche.
Psychisch erkrankte Menschen konfrontieren uns (und natürlich sich selbst) oft in ungeduldiger, manchmal gar unerbittlicher Weise mit radikalen, mit existenziellen Fragen: Das kann zu ernsten, ja beklemmenden Gesprächen führen: So fragte mich kürzlich eine schwer depressive Patientin, die in Ängsten und Schuldgefühlen geradezu ertrank, was um Himmels willen eine derart schwache und fehlbare Person wie sie auf dieser Welt noch zu suchen habe. Der suizidale Tenor, obwohl von ihr nicht direkt angesprochen, war unüberhörbar.
Es kann jedoch auch ganz anders sein: Nie vergesse ich die von einem ernsten Lächeln begleitete Frage, mit der mich ein schizophren erkrankter Mann konfrontierte. Obwohl ich ihn zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zehn Jahre kannte, hat er mich damit völlig überrascht. Der schwer kranke Patient litt an Verfolgungswahn sowie quälenden Sinnestäuschungen. Abrupt unterbrach er unser Gespräch und fragte mit erhobener Stimme: «Woher nehmen Sie, Herr Hoff, eigentlich die verdammte Gewissheit, dass ich verrückt bin – und nicht Sie?» Und, als wolle er zeigen, dass es ihm nicht ums Scherzen ging, legte er nach: «Haben Sie überhaupt einmal ernsthaft darüber nachgedacht, ob Ihre Welt so klar, so sicher, so selbstverständlich ist, wie Sie denken?»
Verstehen Sie mich nicht falsch: Dieser Patient, ein differenzierter, kluger Mann, wusste genau, dass es ihm nicht gut ging, dass er Hilfe brauchte und ich ihm diese Hilfe zu geben versuchte. Das war nicht der springende Punkt. Was ihn störte, vielleicht auch kränkte, war sein Eindruck einer simplen Rollenverteilung: hier er, der verunsicherte Kranke, der unsinnige Dinge denkt, sagt und wahrnimmt, dort die Welt der Gesunden, der «Normalen», die keine Zweifel nötig hat, weil sie gleichsam per definitionem recht hat – eine Welt, vertreten durch mich, notabene. Dass er, wenn auch ironisch gebrochen, unverblümt das Risiko, ja die Falschheit einer solch groben Vereinfachung ansprach, das gab (und gibt) mir sehr zu denken. Ich habe von diesem Patienten etwas gelernt.
Nun ist es nicht vorrangiges Ziel einer Psychotherapie, dass der Therapeut möglichst viel lernt. Ziel ist, dass es der betroffenen Person nachhaltig besser geht. Aber wie kann das gelingen?
Im Zentrum steht dabei die tragfähige therapeutische Beziehung. Sie ist die Grund-lage, um eine von Krise oder Krankheit betroffene Person wieder zu Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verhelfen, Autonomie für sie wieder lebbar zu machen. Jedoch kann dies keine Einbahnstrasse sein. Es geht nämlich nicht um ein äusseres Objekt, auch nicht um blosse Informationsweitergabe, es geht um Personen – typischerweise um zwei interagierende Personen, die erkrankte und die behandelnde. Eine gelingende Therapie ist somit immer ein dialogischer Aushandlungsprozess. Er vermittelt zwischen zunächst unvereinbar erscheinenden Polen wie Verzweiflung und Hoffnung, Angst und Mut, Suizidalität und Lebenswillen – und zeigt im besten Fall neue, gangbare Wege auf.
Hier bewegen wir uns bereits im Feld unserer Kantate, auch wenn Ihnen das (genau wie mir bei der Vorbereitung) gar nicht so vorkommen mag.

3. BWV 100: Über Vertrauen in Beziehungen
Denn genau diese Fähigkeit zum Aushandeln von scheinbar Unvereinbarem, zum Handeln in schwierigen, in verzweifelten Situationen, adressiert die Kantate, die wir heute Abend gehört haben und bald nochmals hören dürfen.
Der Text – und erst recht die Musik – geben weder Anlass zu Fatalismus noch zu selbstgefälligem Zurücklehnen. Nicht: «Ich kann ja ohnehin nichts ausrichten, weil Gott alles lenkt» und auch nicht: «Ich muss ja gar nichts tun, muss keine Verantwortung übernehmen, weil Gott sich kümmert» sind die Botschaften, die uns die Kantate zuruft. Ganz im Gegenteil: Ihre Botschaft, wie ich sie lese, erinnert fast schon an den mutigen und anspruchsvollen Appell des grossen Aufklärers Immanuel Kant, der fast vierzig Jahre nach Bach geboren wurde und dessen 300. Geburtstag wir 2024 feierten: «Sapere aude!» forderte er uns auf. «Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!»
Ich wähle drei Perspektiven, um am Text der Kantate zu zeigen, dass sie tatsächlich eine solch mutige und ermutigende Botschaft überbringt.

Perspektive 1: Wir können und sollen selbst handeln
«Drum lass’ ich ihn nur walten», heisst es in der 1. Strophe, in der 5. Strophe ist die Rede von einem «Kelch …, der bitter ist nach meinem Wahn». Ich bin also, als die betroffene Person, selbst beteiligt, bin aktiv dabei: Ich lasse etwas zu, um «meinen Wahn» geht es, um meine Angst, meine Sucht. Es ist nicht alles schon entschieden von Gott. Vielmehr bin ich aufgefordert zu entscheiden, ob ich etwas geschehen lasse – oder eben nicht.

Perspektive 2: Vertrauen ist möglich, ist aber etwas Wechselseitiges
«Er wird mich nicht betrügen» (so im Duett der 2. Strophe), «wird mir nicht Gift einschenken vor Arzenei» (so in der Sopran-Arie der 3. Strophe): Möglich, mindestens denkbar wären Betrug und Vergiftung wohl, der Text lässt es offen. Doch vertraue ich darauf, dass es nicht geschieht, dass Gott es nicht tut.
Beeindruckend, wenn auch für uns heute auf den ersten Blick etwas befremdlich wirkt in dieser Strophe die doppelte Bezeichnung Gottes als «mein Arzt und Wundermann». Aber: Vertrauen ist kein Monolith, sondern etwas Vielschichtiges. Es setzt kein vollständiges, kein abschliessendes Wissen voraus, auch nicht in einer Therapie. Es dürfen Fragezeichen, dürfen Unsicherheiten bleiben. Ein klares, berechenbares ärztliches Verhalten – gleichsam das rationale Element – fördert natürlich die Heilung. Doch kann eine Besserung auch eintreten, ohne dass es in jedem Einzelschritt erklärbar wäre. Es geschieht eben. In jeder Behandlung gibt es diese Momente. Das Bild vom «Wundermann» könnte auf solche Erfahrungen abzielen – und wäre dann gar nicht mehr so geheimnisvoll und irrational, wie es zunächst wirken mag, sondern ermutigend.

Perspektive 3: Das Dialogische als Teil des Sozialen
Die 4. Strophe, die Bass-Arie, endet mit den Zeilen «Es kommt die Zeit, da öffentlich erscheinet, wie treulich er es meinet». Dies lese ich als Öffnung des persönlichen und des dialogischen Feldes hin zur Dimension des Sozialen: Wenn ich handle, in einen Dialog mit einer anderen Person eintrete – oder, theologisch gewendet, mit Gott –, so hat dies immer auch mit dem Umfeld zu tun – früher oder später, denn «Es kommt die Zeit». Anders ausgedrückt: Wir sind keine isolierten Monaden. Privates ist stets verwoben mit dem Sozialen, mit dem «Öffentlichen», wie es die Kantate nennt. Eben dies trifft auch auf die psychotherapeutische Arbeit zu.
Und die Essenz der drei Perspektiven? Nicht zu ängstlich-unehrlicher Anpassung will uns die Kantate bringen, nicht zu resignativer Passivität, aber auch nicht zu trotzig-überheblichem Pochen auf den eigenen Standpunkt, die eigenen Möglichkeiten. Sie fordert uns vielmehr auf, aktiv in Beziehungen einzutreten, damit ein Risiko einzugehen – und zu vertrauen.

4. Mein persönliches Fazit
Bei unserem heutigen Thema fliessen Fragen des Menschenbildes, Grundlagen therapeutischen Handelns und Bachs grandiose Musik ineinander zu einem gemeinsamen Bild, das ich so beschreiben möchte: Als Person stosse ich notwendig und ständig an Grenzen, auch an schmerzhafte und leidvolle. Dies nimmt mir jedoch nicht die Fähigkeit, zu vertrauen. Vertrauen wiederum, in andere und in mich selbst, ist eine Voraussetzung dafür, handeln und für mein Handeln Verantwortung übernehmen zu können.

Nun freue ich mich wie Sie auf ein erneutes, vielleicht durch unser gemeinsames Nachdenken anders akzentuiertes Eintauchen in Bachs Kantate «Was Gott tut, das ist wohlgetan» – und danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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