Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz

BWV 136 // zum 8. Sonntag nach Trinitatis

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Corno, Oboe, Oboe d’amore, Fagott, Streicher und Basso Continuo

Die Kantate legt das Evangelium des 8. Trinitatissonntages aus, Matthäus 7, 15–23, einen Abschnitt aus der Bergpredigt: «Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafspelzen zu euch kommen – darunter aber sind reissende Wölfe! An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Lassen sich etwa Trauben ernten von den Dornen oder Feigen von Disteln? So trägt jeder gute Baum gute Früchte, jeder faule Baum aber trägt schlechte Früchte.»

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 136

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Markus Forster

Tenor
Johannes Kaleschke

Bass
Ekkehard Abele

Chor

Sopran
Susanne Frei, Leonie Gloor, Guro Hjemli, Noëmi Sohn, Noëmi Tran-Rediger

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Damaris Nussbaumer, Alexandra Rawohl

Tenor
Clemens Flämig, Manuel Gerber, Nicolas Savoy, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Chasper Mani, Valentin Parli, Philippe Rayot

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova, Christine Baumann, Sylvia Gmuer, Martin Korrodi, Olivia Schenkel

Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein, Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Katharina Arfken, Dominik Melicharek

Fagott
Susann Landert

Corno
Olivier Picon

Orgel
Norbert Zeilberger

Cembalo
Thomas Leininger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Bea Wyler

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
12.08.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Unbekannt

Textdichter Nr. 1
Zitat aus Psalm 139,23

Textdichter Nr. 6
Johann Heermann, 1630

Erste Aufführung
8. Sonntag nach Trinitatis,
18. Juli 1723

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate BWV 136 gehörte mit ihrer Präsentation am 8. Sonntag nach Trinitatis 1723 zu Bachs ersten in Leipzig dargebotenen Kantaten. Dass Bach dabei – wie vom Erstherausgeber Wilhelm Rust 1881 vermutet – auf eine Weimarer Vorlage zurückgriff, lässt sich aus den erhaltenen Quellen weder belegen noch entkräften; sicher ist hingegen, dass der Eingangschor um 1737 für das Cum sancto spiritu der Missa brevis A-Dur (BWV 234) wiederverwendet wurde, wobei Bach seiner Parodie noch einen dreitaktigen Grave-Abschnitt vorschaltete.

Der Eingangschor kommt mit seinem beschwingten 12/8 -Takt sowie der leichtfüssigen Hornpartie derart frohgemut daher, dass man fast an ein Missverständnis des von der Ungewissheit der Errettung und der Sorge vor falschen Propheten redenden Wochenevangeliums (Matthäus 7, 15–23) glauben möchte. Klingt die Musik doch eher nach einem selbstgewissen «Prüfe mich nur, denn ich bin sowieso rein!» als nach der erwartbaren angstvollen Zerknirschung. Da dem Satz jedoch ein Dictum aus Psalm 139 zugrunde liegt, der sich von der allem menschlichen Tun vorausgehenden Präsenz Gottes getragen weiss, kann diese Sicherheit als Ausdruck umfassender Geborgenheit verstanden werden, die dann sogar in einen gewissen Eifer mündet, die Richtigkeit des eigenen Weges bestätigt zu sehen. Diese aus sich heraus schlüssige und unüberhörbar mitreissende Bibeldeutung vermag auch zu erklären, warum Bach an die Stelle einer sukzessiven Vertonung der einzelnen Textglieder eine unkonventionelle Reihung von Komplettdurchläufen setzte, aus der die Emsigkeit spricht, sich im Angesicht des Höchsten als glaubensstark zu erweisen.

Das mit einem dissonierenden «Ach!» anhebende Tenorrezitativ nimmt das Evangelienbild von den «guten und schlechten Früchten » wieder auf. «Sündendornen» und «Lasterdisteln » werden zum Ausweis verfluchten menschlichen Bemühens; in beschleunigtem Duktus warnt die Rezitation vor der Verstellung von Höllenkindern in Engel des Lichtes, was die Hoffnung auf solcherart verdorbene Trauben zum lächerlichen Selbstbetrug stempelt. Dass der hereinbrechende Tag des Gerichtes diesen Verkehrungen ein schreckliches Ende bereiten wird, macht Bach in erregtem Tonfall plausibel.

Die nach fis-Moll gerückte Altarie beginnt über unerbittlich tickenden Bassschritten mit einer Kantilene der Oboe d’amore, deren edle Modulationen eher einer leisen Mahnung denn einer lautstarken Drohgebärde entsprechen. Wie die verdrängte Stimme des Gewissens in einer Welt der Falschheit und angemassten Autorität bringt sich der Soloalt hier in Erinnerung, bevor der Presto-Mittelteil die Vernichtung der Heuchler durch den Grimm des Höchsten evoziert – ein dramatischer Ausbruch, der die folgende Wiederkehr des Eingangs mit beträchtlichem Ernst auflädt.

Gegen diese ausweglose Verworfenheit mobilisiert das Bassrezitativ theologische Argumente, die gewissermassen durch die Hintertür die lutherische Lehre von der unverdienten Gnade im Glauben entfalten. Da «selbst die Himmel nicht rein», also frei von Fehlern und gefallenen Engeln seien, könne schliesslich kein Mensch vor dem Richterstuhl bestehen – wären nicht alle Sünden und der Mangel an guten Werken bereits in Jesu Blut gesühnt. Dass jeder Mensch somit in Christo an dessen Gerechtigkeit und Stärke teilhaben kann, wird in Bachs arioser Schlusswendung mit väterlicher Würde Gestalt.

Dem Tenor-Bass-Duett kann man diese Kräftigung nur bedingt ablauschen. Eingeführt von einem Unisono der beiden Geigen, dessen kantiger Impetus wie der Schlusssatz eines Violinkonzerts wirkt, klagen sich eingedenk der Adam’schen Erbsünde die beiden Singstimmen zunächst selber an. Im Modus dieses lutherischen Gewissens-Belcanto werden danach Jesu Wunden als «großer Strom von Blut» gezeichnet, der alles wieder rein macht. Von Vorfreude und Befreiung ist in diesem dichten Konstrukt wenig zu spüren; die Vergebung im Zeichen des Kreuzes bleibt ein fremdartig heiliges und den Verstand überwältigendes Geschehen.

Mit der neunten Choralstrophe des Liedes «Wo soll ich fliehen hin» greift Bach diesen Gestus auf, indem er das Reden von der Wunderkraft des edlen Blutsaftes in ein pathetisches Singen von der Weltüberwindung und jenseitsbezogenen Lossprechung des Menschen transformiert. Passend dazu ist das lichte A-Dur des Eingangschores einem schneidenden h-Moll gewichen, dessen endzeitliche Wucht durch die gen Himmel vorauseilende Violinstimme rettend ausbalanciert wird.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

«Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ichs meine!»

1. Chor
Der Psalm 139, dessen 23. Vers das Thema der Kantate ankündigt, beginnt mit den Worten: «Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich. Ich sitze oder stehe, du weisst es, du verstehst meine Gedanken von fern.» Die grosse zweiteilige Chorfuge geht wenig auf den Inhalt des Textes ein. Das lässt die Forschung vermuten, dass Bach hier auf eine frühere Vorlage mit anderem Text zurückgegriffen hat, nachgewiesen ist dieser Sachverhalt aber noch nicht. Hingegen besteht kein Zweifel, dass der Eingangschor der Kantate später als Parodievorlage für das «Cum sancto spiritu» der Messe A-Dur BWV 234 diente.

2. Rezitativ (Tenor)

Ach, daß der Fluch, so dort die Erde schlägt
auch derer Menschen Herz getroffen!
Wer kann auf gute Früchte hoffen,
da dieser Fluch bis in die Seele dringet,
so daß sie Sündendornen bringet
und Lasterdisteln trägt.
Doch wollen sich oftmals die Kinder der Höllen
in Engel des Lichtes verstellen;
man soll bei dem verderbten Wesen
von diesen Dornen Trauben lesen.
Ein Wolf will sich mit reiner Wolle decken,
doch bricht ein Tag herein,
der wird, ihr Heuchler, euch ein Schrecken,
ja unerträglich sein.

2. Rezitativ
Das erste Rezitativ (Tenor) knüpft an beim Fall Adams und seinen Folgen: «Verflucht ist der Erdboden um deinetwillen, mit Mühsal wirst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln wird er dir tragen, und das Kraut des Feldes wirst du essen.» (Genesis 3, 17).

3. Arie (Alt)

Es kömmt ein Tag,
so das Verborgne richtet,
vor dem die Heuchelei erzittern mag.
Denn seines Eifers Grimm vernichtet,
was Heuchelei und List erdichtet.

3. Arie
Wie es um den Menschen steht, wird offenbar «an dem Tag, da Gott richtet über das, was im Menschen verborgen ist.» (Römer 2, 16). Dieser Tag des Gerichts wird musikalisch angekündigt, indem das eröffnende Motiv der Oboe d’amore drei Mal und immer eine Stufe höher einsetzend den Gläubigen wachrüttelt. Die Warnung, dass der Richttag «vernichtet, was Heuchelei und List erdichtet», bricht als Schrecken in Form eines presto-Mittelteils in die Arie ein: atemlos fast wird der Gesang, die sanfte Oboe d’amore verstummt.

4. Rezitativ (Bass)

Die Himmel selber sind nicht rein,
wie soll es nun ein Mensch vor diesem
Richter sein?
Doch wer durch Jesu Blut gereinigt,
im Glauben sich mit ihm vereinigt,
weiß, daß er ihm kein hartes Urteil spricht.
Kränkt ihn die Sünde noch,
der Mangel seiner Werke,
er hat in Christo doch
Gerechtigkeit und Stärke.

4. Rezitativ
Das zweite Rezitativ (Bass) spricht von Jesus, dem «neuen Adam» und seiner Erlösungstat. Nach dem Wort aus Hiob 15, 15–16 ist in den Augen Gottes selbst der Himmel nicht rein, wie viel weniger ein sündiger Mensch. Wer jedoch die Erlösungstat Jesu im Glauben annimmt, wird trotz dem «Mangel seiner Werke» gerechtfertigt. Beim Herrn ist «Gerechtigkeit und Stärke» (Jesaja 45, 24).

5. Arie (Tenor, Bass)

Uns treffen zwar der Sünden Flecken,
so Adams Fall auf uns gebracht.
Allein, wer sich zu Jesu Wunden,
dem großen Strom voll Blut gefunden,
wird dadurch wieder rein gemacht.

5. Arie
Die Arie bestätigt, was im vorherigen Rezitativ angesprochen worden ist: Der Mensch ist wie Adam von «der Sünden Flecken» betroffen, kann aber durch Christus «rein gemacht» werden. Die zweite Arie der Kantate ist als Duett für Tenor und Bass gestaltet und wird von einem tänzerischen Ritornell begleitet, das die ersten und zweiten Violinen unisono vortragen. Der Blutstrom Jesu wird von den Sängern durch eine wogende Klangfigur versinnbildlicht.

6. Choral

Dein Blut, der edle Saft,
hat solche Stärk und Kraft,
daß auch ein Tröpflein kleine
die ganze Welt kann reine,
ja, gar aus Teufels Rachen
frei, los und ledig machen.

6. Choral
Eine Strophe aus dem Lied «Wo soll ich fliehen hin» von Johann Heermann greift die Gedanken aus den Sätzen 4 und 5 auf. «Wenn wir aber unseren Weg im Licht gehen, wie er (Gott) selbst im Licht ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut seines Sohnes Jesus reinigt uns von aller Sünde.» (1. Johannes 1, 7). Den vierstimmigen Choralsatz überwölbt eine frei geführte Linie der ersten Violinen.

Reflexion

Rabbiner Bea Wyler

«Gottgefällig weiterleben»

Im Text der Kantate «Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz» kommt die Erlösung von aussen. Die Juden dagegen sind aufgerufen, den Weg, auf dem sie sich verirrt haben, selber und aktiv zu korrigieren, denn es ist ja nicht unbekannt, wie ein gottgefälliger Lebenswandel aussieht.

«Eycha ess‘ah lewadi, torchachem umassa‘achem veriwechem».
«Wie doch soll ich für mich allein tragen
eure Bürde, eure Tracht, euren Streit?»
(5. Buch Mose Deuteronomium-Dewarim 1, 12)

«Eycha hajeta lesona, qirja ne‘emana, mele‘ati mischpat,
zedeq jalin ba, ve‘ata merazchim».
«Ach, wie ist sie zur Hure geworden,
die getreue Burg!
Von Recht war sie erfüllt,
Wahrspruch nachtete drin,
jetzt aber Mordgeübte!»
(Jesaja-Jeschajahu 1, 21)

«Eycha jaschwa wadad, ha‘ir rabati am, hajeta ke‘almana,
rabati wagojim, sarati bamedinot, hajeta lamass».
«Wehe, wie weilt die Stadt einsam,
die einst viel bevölkerte,
einer Witwe gleich ist sie worden,
die unter den Weltstämmen so viel war,
die Fürstin unter den Gauen,
zur Frönerin ist sie geworden.»
(Klagelieder-Eicha 1, 1)

Das ist nicht Bach. Sondern es sind Moses, Jesaja und Jeremia, die sich über die sündenreiche Gesellschaft äussern. ihr Jammern drückt weniger Ärger oder Wut aus als Ohnmacht, Unverständnis und Trauer. Moses ist ratlos: Wie kann er ein solches Volk erfolgreich führen? in seiner Wahrnehmung übersteigt die Aufgabe seine Kräfte. Jesaja und Jeremia sind nicht mit vergleichbaren Führungsaufgaben betraut, aber auch sie sind frustriert: ihr Warnen gilt dem moralischen Zerfall und dem dadurch drohenden Untergang und Exil. Sie fordern das Volk auf, immer wieder, immer wieder, Reue zu zeigen, indem es sich von seinem sündhaften Wandel wegdrehe, abwende, distanziere. Jesaja und Jeremia sind ohnmächtig: der Tempel wird ja zerstört und die Menschen werden ins Exil geführt, Jeremia ist gar ein Zeitzeuge.
Alle drei Verse haben Juden in der vergangenen Woche in den Synagogen gelesen und gehört. Denn am letzten Dienstag war Tischa beAw, der 9. Tag des Monats Aw, der traurigste Tag im jüdischen Jahr. Tischa beAw erinnert an die Zerstörung des ersten wie des zweiten Tempels in Jerusalem sowie an eine ganze Anzahl weiterer Kalamitäten in der jüdischen Geschichte. Tischa beAw mit seiner Aufforderung zu Trauer über die Katastrophe und Reflexion über deren Wie und Warum kommt mit einer solchen Wucht daher, dass wir schon in den Schriftlesungen am Schabbat davor darauf hinweisen, nämlich mit den eben zitierten Versen aus dem fünften Buch Mose (Dewarim-Deuterono-mium) und Jesaja. in den Synagogen sind am Tischa beAw die Torarol len entfernt. Die Toraschränke sind offen und leer, wenn wir am Abend davor bei Dämmerlicht auf dem Boden sitzen und die Klagelieder von Jeremia leise singen. Auf Hebräisch heissen sie nach dem ersten Wort schlicht Eycha. Eycha ist das allen drei zitierten Versen gemeinsame erste Wort: Wie ist es möglich, dass …? Wie kommt es, dass wir hierher gelangt sind? Nach wenigen Sätzen schleicht sich eine Stimmung völ liger Zerknirschtheit in die Herzen der Anwesenden, das konsternierte Bedauern ist greifbar – der traurige Jammerton der traditionel len Melodie, in der Eycha, die Klagelieder Jeremias, gesungen wird, gibt dies treffend wieder. Tischa beAw ist ein Fasttag – wer könnte denn angesichts der entsetzlichen Ereignisse an einem solchen Tag essen und trinken!? Unsere Weisen im Talmud vertreten die Ansicht, dass der erste Tempel wegen Götzendienst, Unzucht und Blutver giessen, der zweite Tempel aber wegen grundloser Feindschaft zer stört wurde: «mischum sin‘at chinam». Und entschieden halten sie fest, dass grundlose Feindschaft die schlimmere Sünde sei als die drei erst genannten zusammen!

«Wer kann auf gute Früchte hoffen,
da dieser Fluch bis in die Seele dringet,
so dass sie Sündendornen bringet
und Lasterdisteln trägt. (…)
man soll bei dem verderbten Wesen
von diesen Dornen Trauben lesen.»

So heisst es bei Bach und dem unbekannten Textautor der Kantate 136. Und dann:

«(…) doch bricht ein Tag herein,
der wird, ihr Heuchler, euch ein Schrecken,
ja unerträglich sein.»

Göttlicher, grimmiger Eifer wird alles vernichten, was aus Heuchelei und List erdacht wurde, auch Verborgenes hat keine Chance durch zukommen. «Es kömmt ein Tag (…)» – mit dem Konzept eines göttlichen Gerichtstages kann ich gut leben, wie ich ihnen gleich zeigen werde. Von hier aus geht die Kantate auf der Suche nach erlösendem Trost aber in eine für mich schwierige Richtung.
Vielleicht entspricht es sogar einem Wunsch des Autors, dass der Mensch «vor diesem Richter» rein werden könnte, in seiner Vorstellung jedoch ist es gar nicht möglich. Aber nicht etwa, weil es für das indivi duum zu schwer wäre, Reinheit – zum Beispiel durch persönliche Anstrengung – zu erlangen, sondern weil «die Himmel selber nicht rein» sind. Deshalb müsse der Mensch auch gar nicht rein werden. Auch nicht vor dem himmlischen Richter.
Dies grenzt an Anmassung, auch wenn er sich von Hiob sekundie ren lässt (Hiob 15, 15-16) – und bringt mich zu Tischa beAw zurück: Der zweite Tempel wurde «mischum sin‘at chinam» «wegen sinnlosem Hass zerstört». Sinnloser Hass? Grundlose Feindschaft? «Sin‘at chi­ nam» – da steht das Ego des Hassers im Mittelpunkt, er bezieht alles nur auf sich selbst, ist Subjekt und Objekt zugleich, ist selbstsüchtig.
«Sin‘at chinam» ist die Weigerung, dem Nächsten das Existenzrecht zuzugestehen, sie bedient sich aus der Schublade von «Heuchelei und List», ist in den Worten unserer Kantate ein «Wolf, der sich mit reiner Wolle deckt». Der Mensch, der sich dem grundlosen Hass hingibt, steht nicht in Beziehung zu Gott, sondern seiner Meinung nach sollte Gott in Beziehung zu ihm stehen. «Sin‘at chinam» bringt den Menschen zur vermessenen Ansicht, dass er, und nur er, das Mass aller Dinge sei. Und deswegen – so die Meinung der Rabbiner im Talmud – endete der Tempel zu Jerusalem, das Zentralheiligtum der israeliten, vor fast 2000 Jahren in Trümmern, und das daraus resultierende Exil fand erst im vergangenen Jahrhundert ein Ende.
Aber zurück zu Bach, denn Tischa beAw ist vorbei, der tiefste Punkt des Jahres ist vergangen. Am Boden zerstört und voller Scham wollen wir uns jetzt ändern, möchten wieder aufstehen, von Neuem aufstei gen, möchten auf gottgefällige Pfade zurückkehren – gesunden eben. Und wir werden die Gelegenheit dazu bekommen; vorerst bedarf es aber einer grossen Portion Trost, denn die Zerstörung von Tischa beAw ist niederschmetternd, da umfassend.
Anders als im Kantatentext vorgeschlagen, können wir Juden die Erlösung nicht delegieren. Vielmehr sind wir aufgerufen, den Weg, auf dem wir uns verirrt haben, selber und aktiv zu korrigieren, denn ei gentlich wissen wir ja, wie ein gottgefälliger Lebenswandel aussieht. Doch ist es nicht jedermanns Sache, sich selbstständig zu ändern, wenn man wieder in die gottgefällige Strasse zurückfinden möchte. Bekannt lich ist dies ja auch nicht ganz einfach, besonders dann nicht, wenn wir Schiefgelaufenes zu erkennen und in einem Sündenbekenntnis zu beichten haben. Zusätzlich neigen wir Menschen zum Verdrängen unangenehmer Erkenntnisse. Da ist es doch eigentlich gar nicht so schlecht, dass sowohl die Tora als auch der Kantatenautor wissen, dass sich vor Gott nichts verbergen lässt: Wenn Gott sowieso alles weiss, wie kommt es, dass uns ein Sündenbekenntnis so schwer fällt? So heisst es etwa in der Liturgie von Jom Kippur (vgl. 5. Buch Mose Deuterono-mium-Dewarim 29, 28):

«Ma nomar lefanecha joschew marom (…)» – «Was sollen wir vor Dir sprechen, der Du in der Höhe thronst, und was vor Dir erzählen, der Du im Himmel wohnst, fürwahr alle Geheimnisse und alles Offenkundige kennst Du (…) Du durchforschst alle Gemächer unseres Innern und prüfst Nieren und Herz. Nichts ist vor Dir verborgen und nichts verhüllt vor Deinen Augen.»

Gerade hier kommt es mir vor, als ob Bach respektive der unbe kannte Textautor nicht nur in die Hebräische Bibel, sondern auch in jüdische Gebetsbücher für die Hohen Feiertage hineingeschaut hätte, öffnet die Kantate doch mit dem Psalmvers (Psalm-Tehilim 139, 23):

«Choqreni el, veda‘ lewawi, bechoneni veda‘ sarapai.»
«Erforsche mich Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich und erkenne meine Gedanken.»

Es wird uns nichts geschenkt – zumindest vorerst nicht. Und genau hierin liegt der Vorteil eines Systems, das grosses Gewicht auf Eigeninitiative legt. Es ist allein unsere Entscheidung, ob wir bereuen und umkehren wollen. Nicht der Erfolg ist wichtig – was zählt, ist die persönliche Anstrengung, die Absicht, der Wille des Individuums. Ausgehend vom Tiefpunkt von Tischa beAw bereiten wir uns in sieben Wochen der Tröstung auf Rosch Haschana und Jom Kippur vor. Rosch Haschana ist das jüdische Neujahr, Jom Kippur als Versöhnungstag am zehnten des Monats der höchste jüdische Feiertag. Die ersten zehn Tage des neuen Jahres sind Busse, Reue und Umkehr, generell der Erneuerung unserer Beziehung zu unseren Mitmenschen und zu Gott gewidmet. Rosch Haschana ist der Tag des göttlichen Gerichts, Jom Kippur der Tag der Versöhnung. An Rosch Haschana ist Gott, Elohim, das Mass für das Recht (midat hadin), an Jom Kippur ist der Ewige, Adonai, das Mass für Barmherzigkeit (midat harachamim). Es gibt eine rabbinische Vorstellung von Gott, der wie ein Buchhalter über den Büchern sitzt und einträgt, wer im kommenden Jahr zu leben und wer zu sterben hat. Und wenn Gott nur das Recht walten liesse, verdienten wir Menschen mit unserer miesen Natur und unserem kleinkarierten, futterneidischen Charakter eigentlich alle ein Todesurteil. Nur bei ganz vereinzelten Menschen, so die rabbinische Einsicht, wird die göttliche Entscheidung – positiv oder negativ – schon am Jahresanfang getroffen. Die allerallermeisten Menschen sind Pendenzen in der göttlichen Buchhaltung und bekommen deshalb eine Frist zur Besinnung eingeräumt. Und diese zweite Chance gilt es zu nutzen.
Und jetzt kommt der springende Punkt. Durch den Propheten Ezechiel lässt Gott uns wissen (Ezechiel-Jecheskel 18, 32):
«Ki lo echpoz bemot hamet» «Denn ich habe nicht Gefallen am Sterben dessen, der sterben muss», sondern, fährt die Liturgie von Jom Kippur fort, «dass er, der Todesschuldige, von seinem Wandel ablasse und – lebe.» «ki im beschuwo midarko vechaja.» Gott ist an der Vollstreckung eines Todesurteils für sündhaften Lebenswandel nicht interessiert, sondern will, dass wir dem sündhaften Lebenswandel den Rücken kehren.
Gott sieht die Sünde zwar, verzeiht aber und bleibt dem Bund treu – sofern das Individuum aus den Fehlern lernt und sich anstrengt, ein besserer Mensch zu werden. Gott ist barmherzig und versöhnlich – wenn wir das auch wollen. Jom Kippur ist, wie Tischa beAw, ein Fasttag, doch das Fasten hat eine ganz andere Qualität. Mit erwartungsvoller Hoffnung steigen wir in diesen intensiven Tag des Nachdenkens und der Besinnung, der Umkehr und des Gebets ein und hoffen auf ein gnädiges Urteil. Nicht Erlösung ist das Ziel, sondern Weiterleben: Trotz all unserer menschlichen Unzulänglichkeiten haben wir nämlich durchaus die Möglichkeit, auf Gottes Wegen zu wandeln, so zu leben, dass es Gott gefällt. Und wer wollte denn an einem solchen Tag der Zukunftsgestaltung essen und trinken!?
Raschi, der grosse Kommentator des Mittelalters, schliesst aus den beiden unterschiedlichen Gottesnamen Adonai (Ewiger) und Elohim (Gott) im Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose (Genesis-Bereschit), dass es zwei Schöpfungen gab. Ursprünglich wurde die Welt im Zeichen des Rechts geschaffen. Als Gott aber feststellte, dass die Welt mit Recht allein nicht überleben kann, musste sie noch einmal erschaffen werden, und jetzt bekam das Recht als gleichwertige Partnerin die Barmherzigkeit zur Seite gestellt. Der Ewige, unser Gott, ist das Mass für Gerechtigkeit und für Barmherzigkeit.
Der Kantatenschreiber verwendet vom 139. Psalm nur den vorletzten Vers, denn auf seiner Agenda steht etwas anderes als auf derjenigen von König David, dem Verfasser des Psalms. Dieser fährt nämlich fort mit den folgenden Worten, die den Psalm dann auch abschliessen:

«Ure‘e im derech ozew bi, unecheni bederech olam.»
«Und sieh, ob ein zu verlassender Weg in mir ist,
und führe mich in den Weg der Wahrheit.»
(Psalm-Tehilim 139, 24)

Menschen haben ein ausgeprägtes Bedürfnis für Korrekturen. Mit der Einladung für Besinnung und Umkehr ist uns ein erstklassiges instrument gegeben, dieses Bedürfnis zu bedienen. Tischa beAw ist vorbei, jetzt sind wir auf dem Aufstieg zu einem hoffentlich guten Neuanfang. «Ergründe mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken, und sieh, ob ein zu verlassender Weg in mir ist, und leite mich in den Weg der Ewigkeit.»
Ich wünsche uns allen ein gutes und gesegnetes neues Jahr, «schana towa umeworechet.»
Und da in kurzer Zeit die Sonne untergeht, möchte ich auch die Gelegenheit nicht missen, ihnen einen guten Schabbat zu wünschen:
«Schabbat Schalom.»

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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