Mein liebster Jesus ist verloren

BWV 154 // zum 1. Sonntag nach Epiphanias

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe d’amore I+II, Streicher und Basso continuo

Wie sich aus nur einem Satz des Sonntagsevangeliums von Lukas 2, 41–52 (1. Sonntag nach Epiphanias) ein ganzer Kompass christlicher Lebensführung gewinnen lässt, das haben der unbekannte Texter der Kantate BWV 154 und Bach als Komponist beispielhaft vorexerziert: Im Lukasevangelium liest sich der Satz «Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?» (Lukas 2, 49) noch als trotzige und zugleich vielsagende Antwort des seinen Eltern hin zum Tempel entlaufenen Jesusknaben. – In Bachs Musik wird die ganze Szene mit dem Verlustschock der Eltern zur individuellen Erfahrung und Gewissensbefragung, zum aufrüttelnden «Donnerwort», weil sie als emotional durchlebte Gottesferne gedeutet wird: «Mein liebster Jesus ist verloren.» Die um die Christusfrage im Bach-Arioso gruppierten Arien und Rezitative zeichnen das sorgende Suchen und beglückte Wiederfinden nach und verknüpfen Choralstrophen, Hoheliedmotive und Bibeldeutung in einer Weise, die die quellenkritisch (noch) nicht beweisbare Entstehung der Kantate bereits in Bachs musiktheologischer «Gesellenstube» Weimar plausibel macht.

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Jessica Jans

Alt/Altus
Elvira Bill

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Jonathan Sells

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Péter Barczi, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen, Dorothee Mühleisen, Petra Melicharek

Viola
Martina Bischof, Sonoko Asabuki, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Guisella Massa

Oboe d’amore
Katharina Arfken, Clara Espinosa

Fagott
Gilat Rotkop

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Alfred Pfabigan

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
24.02.2023

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
9. Januar 1724, Leipzig

Textdichter
Unbekannt (Sätze 1, 2, 4, 6, 7); Martin Jahn (Satz 3); Lukasevangelium 2, 49 (Satz 5); Christian Keymann (Satz 8)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Arie — Tenor

Mein liebster Jesus ist verloren:
O Wort, das mir Verzweiflung bringt,
o Schwert, das durch die Seele dringt,
o Donnerwort in meinen Ohren.

1. Arie

Die Tenorarie fasst den Kern der in Lukas 2, 41–52 erzählten Legende zusammen: Auf der Rückreise vom Passahfest geht Jesus seinen Eltern verloren, sie wissen noch nicht, dass der Zwölfjährige im Tempel mit Gelehrten die Bibel auslegt. Diese «Verlustanzeige» wird als dramatische Erfahrung des Glaubens zum Thema der Kantate ausgeweitet: «Mein liebster Jesus ist verloren.» Während der Text sich auf Johann Rists Kirchenlied «O Ewigkeit, du Donnerwort» bezieht, tastet sich Bach auch musikalisch an seine gleichnamige Choralkantate vom Sommer 1724 heran: Drängende Punktierungen, harte Sprünge, Lautstärkekontraste sowie dramatische Orchestertremoli illustrieren die Verzweiflung der suchenden Seele.

2. Rezitativ — Tenor

Wo treff ich meinen Jesum an,
wer zeiget mir die Bahn,
wo meiner Seelen brünstiges Verlangen,
mein Heiland, hingegangen?
Kein Unglück kann mich so empfindlich rühren,
als wenn ich Jesum soll verlieren.

2. Rezitativ

Das Rezitativ des unbekannten Textdichters verdeutlicht, was diese Erfahrung für einen auf Christus zentrierten Glauben emotional bedeuten muss: Kein grösserer Verlust ist denkbar, weil es sich um die alles entscheidende Gottesbeziehung handelt.

3. Choral

Jesu, mein Hort und Erretter,
Jesu, meine Zuversicht,
Jesu, starker Schlangentreter,
Jesu, meines Lebens Licht!
Wie verlanget meinem Herzen,
Jesulein, nach dir mit Schmerzen!
Komm, ach komm, ich warte dein,
komm, o liebstes Jesulein!

3. Choral

Mit der 2. Strophe des Chorals «Jesu, meiner Seelen Wonne» von Martin Jahn (1661) wird diese umfassende Bedeutung Jesu für den christlichen Glauben besungen: als Hort und Erretter, als Zuversicht, als starker Schlangentreter (Überwinder des Bösen) und als Lebenslicht. Sie mündet in den Ausruf: «Komm, ach komm, ich warte dein, komm, o liebstes Jesulein!»

4. Arie — Alt

Jesu, laß dich finden,
laß doch meine Sünden
keine dicke Wolken sein,
wo du dich zum Schrecken
willst für mich verstecken,
stelle dich bald wieder ein!

4. Arie

Die Altarie ist als Bittgebet gestaltet: Trotz dichten «Sündenwolken», aufgrund derer man nur Gottes Absenz erfährt, möge Jesus sich nicht verstecken, sondern sich wieder zeigen. Mit wohlklingend geführten Liebesoboen besetzt sowie im pastoralen 12∕8-Takt und leuchtenden A-Dur angesiedelt, kommt diese noch von der Krippenseligkeit inspirierte Arie mit ihrer Unisonobegleitung sämtlicher Streicher als luftiger Gegenentwurf zum Eingangssatz daher, der in Tönen bereits die Gewährung jener Bitte verspricht.

5. Arioso — Bass

«Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines
Vaters ist?»

5. Arioso

Im Arioso wird dieser eine Satz Jesu aus Lukas 2, 49, welcher der Kantate ihre dramatische Mitte gibt, eindringlich variiert: «Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?» – also im Tempel, was zugleich eine österliche Andeutung ist: in Gottes ewigem Haus. Sonore Bassbesetzung und kantige Melodik verdeutlichen, dass im Kind schon dieser auferstehende König mitgemeint ist.

6. Rezitativ — Tenor

Dies ist die Stimme meines Freundes,
Gott Lob und Dank!
Mein Jesu, mein getreuer Hort,
läßt durch sein Wort
sich wieder tröstlich hören;
ich war vor Schmerzen krank,
der Jammer wollte mir das Mark
in Beinen fast verzehren;
nun aber wird mein Glaube wieder stark,
nun bin ich höchst erfreut;
denn ich erblicke meiner Seelen Wonne,
den Heiland, meine Sonne,
der nach betrübter Trauernacht
durch seinen Glanz mein Herze fröhlich macht.
Auf, Seele, mache dich bereit!
Du mußt zu ihm
in seines Vaters Haus, hin in den Tempel ziehn;
da läßt er sich in seinem Wort erblicken,
da will er dich im Sakrament erquicken;
doch, willst du würdiglich sein Fleisch und Blut genießen,
so mußt du Jesum auch in Buß und Glauben küssen.

6. Rezitativ

Das Tenorrezitativ antwortet auf diesen Jesussatz mit dem von der Liebeslyrik in Hohelied 2, 8 inspirierten Satz «Dies ist die Stimme meines Freundes!» und beschreibt den erfahrenen Wandel von Schmerz und Krankheit zu Jubel und Gesundheit: «Nun aber wird mein Glaube wieder stark, nun bin ich höchst erfreut; denn ich erblicke meiner Seelen Wonne, den Heiland, meine Sonne.» Und so sagt er nun zu sich: «Auf, Seele, mache dich bereit! Du musst zu ihm in seines Vaters Haus, hin in den Tempel ziehn.»

7. Arie — Duett: Alt und Tenor

Wohl mir, Jesus ist gefunden,
nun bin ich nicht mehr betrübt.
Der, den meine Seele liebt,
zeigt sich mir zur frohen Stunden.
Ich will dich, mein Jesu, nun nimmermehr lassen,
ich will dich im Glauben beständig umfassen.

7. Arie

Das beschwingte Duett von Alt und Tenor gestaltet diese Freude des Wiederfindens «Der, den meine Seele liebt, zeigt sich mir zur frohen Stunden» – und bekräftigt: «Ich will dich, mein Jesu, nun nimmermehr lassen, ich will dich im Glauben beständig umfassen.» Strahlendes D-Dur, paukenartige Continuoformeln, beständig auffahrende Gesten sowie eine rhythmische Schlussbeschleunigung unterstreichen die in Jesu wiedergefundene Sicherheit.

8. Choral

Meinen Jesum laß ich nicht,
geh ihm ewig an der Seiten;
Christus läßt mich für und für
zu den Lebensbächlein leiten.
Selig, wer mit mir so spricht:
Meinen Jesum laß ich nicht.

8. Choral

Die Kantate schliesst mit der 6. Strophe von Christian Keymanns Choral aus dem Jahr 1658, die allerdings mit der alles zusammenfassenden Anfangszeile der 1. Strophe einsetzt: «Meinen Jesum laß ich nicht.»

Reflexion

Alfred Pfabigan

«Sie werden lachen, die Bibel!», mit diesen vielzitierten Worten soll der dreissigjährige Bert Brecht 1928, also nach dem grossen Erfolg der «Dreigroschenoper», die Frage eines Reporters des Ullstein-Magazins «Die Dame» nach dem wichtigsten Buch der Weltliteratur beantwortet haben.

Das wird oft als Provokation des damals schon kommunistisch denkenden aufstrebenden Literaten gedeutet, doch Vorsicht: Brecht hatte eine religiöse Erziehung genossen, das erste dramatische Fragment des Fünfzehnjährigen – es wurde 2013 in der Augsburger Barfüsserkirche, wo Brecht getauft und konfirmiert wurde, uraufgeführt ‒ trägt den Titel «Die Bibel», und Anspielungen auf Konstellationen und Episoden aus der Heiligen Schrift durchziehen das Werk.

Doch erfordert ein solches Urteil nicht eine bestimmte Lesehaltung? Vor allem: Wie ist Brecht mit dem Heilsversprechen, das die Evangelien verkünden, umgegangen? Es lassen ja die in den Evangelien berichteten Episoden aus Jesu Leben mehrere Betrachtungsperspektiven zu. Viele behandeln zutiefst menschliche Ereignisse und Konstellationen – Geburt, Tod, Sünde, Sehnen, Strafe und Vergebung – und verweisen gleichzeitig, der Doppelnatur des Protagonisten entsprechend, auf die eschatologische Dimension. Bei der Lektüre im Fliesstext ist sie offensichtlich; greifen wir eines der Stücke heraus, so laden viele davon zu einer scheinbaren Veralltäglichung ein. Das ist wohl eine wesentliche Verführungsstrategie des Textes: dass das Alltägliche in all seiner gelegentlichen Dramatik, aber auch seiner fallweisen Banalität auf das Höhere verweist.

Entziehen konnte sich Brecht dem nicht, wenn er auch die kollektive Erlösung durch die Seeräuber-Jenny individualisiert und als Erlöser ein «Schiff mit zwanzig Segeln» einführt.

Eine solche quasi säkularisierte Lektüre wird ja auch durch die klassische Diagnose Max Webers von der «Entzauberung» der Welt, von einer nüchtern-pragmatisch-regelorientierten Denkweise als einem Charakteristikum der Moderne, gefördert. Scheinbar bedeutet der Wegfall dessen, was Weber «Zauber» nennt, ja auch eine Verarmung, manchmal auch eine Kränkung jener, die dem «Zauber» immer noch eine höhere Bedeutung zumessen – legen wir die kulturkritische Brille ab, dann bewirkt die «Entzauberung» häufig eine Trivialisierung. Doch als heuristisches Verfahren erweitert sie das Bedeutungsspektrum des Textes.

Das gilt auch für Lukas 2, 41‒50, aus dessen Kontext unter Verwendung geistlicher Dichtungen das textliche Material der Kantate BWV 154 stammt. «Mein liebster Jesus ist verloren», «wo treffe ich ihn an?», «lass dich finden», so zentrale textliche Aussagen. Lukas berichtet eine zutiefst im menschlichen Alltag wurzelnde Geschichte, einen Vorfall, wie ihn uns die Boulevardpresse mit einer gewissen Regelmässigkeit berichtet. Er ist einer einzelnen Familie widerfahren, doch kündigt er gleichzeitig jene Sprengung des Alltags an, die nicht nur das Leben dieser Familie, sondern das einer ganzen Gesellschaft verändern wird.

Scheinbar sind die Protagonisten einfache Leute, ein Zimmermann, seine Frau und ein Sohn. Doch Lukas hat uns schon vorher informiert, dass der Vater Josef aus dem Geschlecht Davids stamme, und wird das später mit einer genauen Vorfahrensliste bekräftigen. Schon früh hat es Gerede gegeben, seltsame Geschehnisse haben sich rund um Schwangerschaft und Niederkunft ereignet und das Kind steht in einem Zusammenhang mit dem von Herodes angeordneten Gemetzel.

Den religiösen Vorschriften folgend ist diese Familie zum Passahfest nach Jerusalem gepilgert und hat ihren vom Kind zum Jüngling gereiften Sohn im Tempel präsentiert. Die Heimkehr erfolgte wohl in Eile oder schlecht organisiert – vielleicht haben die Eltern auch auf die Mündigkeit des Heranwachsenden vertraut, wie auch immer: Nach einem Tag stellt sich heraus: Jesus ist nicht in der Reisegesellschaft! Drei Themen werden von nun an angespielt: Verzweiflung – Trennung – die Zumutung, die der Doppelcharakter des Jünglings zunächst für seine Mutter bedeutet. Alle drei werden uns aus der Sphäre des Alltags in die des göttlichen Charakters des Kindes führen ‒ es ist also die Trennung, die ich von nun an vornehmen werde, gegen die Intention des Gesamttextes und isoliert als Episode.

Die Eltern eilen zurück nach Jerusalem, fragen sich drei ihnen wohl endlos vorkommende Tage lang durch die vermuteten Aufenthaltsorte des Sohnes. Die Phantasien, die sie auf ihrer schier endlosen Suche quälen, sind nachvollziehbar, Lukas bleibt – wie meist – knapp; doch das Thema des verlorenen Kindes ist und wird immer wieder künstlerisch dargestellt werden: Hat das Kind einen Unfall erlitten, hat es sich auf der Suche nach seinen Eltern verirrt, ist es gar einem Verbrechen zum Opfer gefallen, wie etwa das kleine Mädchen in Friedrich Dürrenmatts «Versprechen» ‒ oder war es einfach ungehorsam und wird jetzt ähnliche Abenteuer erleben wie der kleine Kevin in dem Film «Kevin – allein in New York»?

Endlich – wohl schon total aufgelöst – gehen die Eltern zurück an den Ausgangspunkt, in den Tempel, und finden Jesus unter den Lehrern, die eigentlich ihn befragen sollten, als Hörern und Disputanten. Und solches ist dem Knaben, über dessen «Einsicht und Antworten» alle staunen, durch mehrere Tage gelungen.

Das klingt wie ein Happy End, fast wie die Urversion von Andersens Kind, das mehr wahrnimmt als die Regierenden, doch gibt es dem Vorfall eine neue alltägliche Qualität. Das Wort «Jesusknabe», das in vielen Übersetzungen verwendet wird, geht an der Realität eines Heranwachsenden in jener Zeit und jenem geografischen Raum vorbei – Jesus steht an der Schwelle zur Mündigkeit. Auch damit landen wir in einer archetypischen Situation: Alterstypisch ist der Heranwachsende eigene Wege gegangen. Und hat damit bei der Mutter Schmerzen und Ängste ausgelöst.

Und gleichzeitig wird hier noch ein anderer uns vertrauter Aspekt angespielt: das grandiose Erstaunen der Eltern über die Besonderheit eines aussergewöhnlichen Kindes und die daraus resultierenden notorischen Verstehensschwierigkeiten. Der für die Pubertät charakteristische Regelbruch verstärkt diese Konstellation.

Doch dieses Kind, dieser Jüngling, sprengt den Rahmen einer bloss menschlichen Aussergewöhnlichkeit – er ist keiner jener «Hochbegabten», die unverstanden von Eltern und Lehrern, denen sie überlegen sind, häufig als Minderbegabte diskriminiert werden. Das Unverständnis und die Verzweiflung von Eltern, die merken, dass ihr Kind ein anderer ist und aller Bereitschaft zum toleranten «Verstehen» zum Trotz jenseits der Verstehensgrenze lebt. Er ist der Sohn Gottes, und das gibt den drei Aspekten die Brücke in die Metaphysik. Maria und Josef sind mehr als verzweifelte Eltern, sie stehen für das Bild einer Menschheit auf der Suche nach Gott. Jesus ist mehr als ein Heranwachsender auf der Suche nach Autonomie – er, der bisher nur ein Besprochener war, wird hier das erste Mal sich selbst definieren. Und wird dabei – bei einer veralltäglichenden Lektüre ‒ ein anderes Thema anschneiden: das vom Kind, das an der Legitimität seines Vaters zweifelt und den wahren Vater höher denkt. Dieser Heranwachsende lebt also in zwei Sphären, doch rebelliert er zunächst nicht, sondern «war ihnen untertan».

Doch vorher bekräftigt er auf Marias Vorwurf, Josef – der hier sein Vater genannt wird – und sie hätten ihn mit Schmerzen gesucht, seine Andersartigkeit: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?» Jesus outet sich hier. Dass die Eltern «das Wort nicht verstanden», lässt ein Zentralthema seines Lebens anklingen: den Kampf um Anerkennung als Sohn Gottes und den damit verbundenen speziellen Charakter seiner irdischen Mission. Beim Redekampf im Tempel werden etwa die Pharisäer den Sohn des Zimmermannes nach seiner «Vollmacht» fragen. Und die Bewohner von Gadara werden ihn – ungeachtet der Heilung eines besessenen Mitbürgers – bitten, ihre Stadt zu verlassen. Das Phänomen der Menschwerdung Gottes ist ja tatsächlich undenkbar und einer alltäglichen Logik gemäss nicht akzeptabel.

Liegt, was die Haltung der Gottesmutter betrifft, zwischen Lukas und Johannes 2, 4 ein Widerspruch vor oder können wir hier eine Entwicklung sehen? Im Bericht über die Hochzeit von Kana wird je suggeriert, dass Maria einen Hintergedanken bei ihrer Mitteilung an Jesu, dass der Wein ausgehe, gehabt hätte und dass Jesus zunächst abwehrt ‒ «Weib, was ist mit mir und dir? Meine Stunde ist noch nicht gekommen?» ‒ und dann aber sozusagen gehorsam ist und Wasser in Wein verwandelt. Da hat sich die Dynamik Mutter–Sohn gewandelt: Jesus vollbringt sein erstes Wunder auf Befehl und im Einverständnis mit seiner Mutter.

Der Kampf um die «Vollmacht» beginnt ja in dieser Auseinandersetzung des 13-Jährigen mit den Lehrern, und es ist kein Wunder, dass die Frage nach dem Inhalt dieser Gespräche schon die Apokryphen und Pseudoepigraphen beschäftigte – etwa das im zweiten Jahrhundert entstandene Kindheitsevangelium nach Thomas, das dem Kind Jesus nicht nur Wundertaten zuschreibt, die wir auch in den Legenden rund um Buddha finden, sondern es auch böse handeln lässt.

Der Inhalt dieser Gespräche beschäftigt auch die fromme Dichtung. Besonders genannt sei der Grazer Musiker und Schüler Paganinis Jacob Lorber (1800‒1864), der selbsternannte «Schreibknecht Gottes», dem 1840 der Befehl «Nimm den Griffel und schreibe» geoffenbart wurde und der – nach seiner Aussage – ohne stützende Literatur auf Diktat Gottes mehr oder minder in einem Zug etwa 25 Bücher mit 10 000 Druckseiten füllte. In Ergänzung seiner «Jugend Jesu», einer Neuoffenbarung des apokryphen Protoevangeliums des Jacobus, verfasste er 1859/60 die 150 Druckseiten umfassende Schrift «Die drei Tage im Tempel». Hier streitet Jesus mit den Lehrern – er fragt nach der irdischen Präsenz der von Jesaja prophezeiten Jungfrau und ihres Sohnes und pocht darauf, dass Maria und er diese seien. «Was würdet ihr denn tun, wenn ich doch der Messias wäre?», outet er sich hier.

Eine internationale Jacob-Lorber-Gemeinde vertreibt die Bücher noch heute; sie bestreiten das Monopol der Evangelisten und glauben an eine permanente Offenbarung. Das Rätsel, das uns Lukas durch sein Verschweigen des Gesprächsinhaltes gibt, ist offensichtlich schwer erträglich.

Der Inhalt der Gespräche im Tempel hat auch den portugiesischen Nobelpreisträger José Saramago beschäftigt, der 1991 ein «Evangelium des Jesus» veröffentlichte, in dem der Herr in Ich-Form erzählt. Der Vatikan hat die Schrift als blasphemisch kritisiert. In diesem subversiven Text leidet Jesus an seiner Doppelexistenz, an seiner Mission und hat Schuldgefühle ob seines irdischen Lebenswandels. Im Tempel spricht er noch davon, dass sein Vater tot sei, und konzentriert sich auf eine einzige Frage: die Vererbbarkeit von Schuld und damit die Berechtigung der Idee von einer Erbsünde ob des Vergehens von Adam und Eva.

Brecht und Saramago haben uns zur politischen Linken geführt, aus der ich am Ende ein ein wenig absurdes Beispiel anführen möchte. Im Kontext des Personenkultes um den 1994 verstorbenen Präsidenten der Volksrepublik Korea ist dessen Kindheitsgeschichte in mehrbändigen Biografien als Lehrmaterial für die von ihm begründete Dschudsche-Philosophie jedem Nordkoreaner präsent. Episoden aus dieser gefälschten Biografie zieren in Monumentalbildern die leeren Autobahnen des Landes. Und werden in Bühnenrevuen aufgeführt. Zahlreiche dieser Episoden nützen Elemente aus der christlichen Folklore: Bei der Geburt des späteren Diktators schwebt ein Stern über der Hütte, der kleine Kim Il Sung verwandelt wie im Kindheitsevangelium des Thomas Schlamm in Sperlinge, die davonfliegen, und als Dreizehnjähriger stellt er in einem Parteilokal der gegen die japanische Besatzung kämpfenden Nationalisten sein Konzept einer autonomen Zukunft, des Dschudsche, vor.

Das, was Herbert Marcuse die «Sehnsucht nach dem ganz Anderen» genannt hat, gibt selbst diesen von staatlicher Gewalt gestützten Texten eine offenkundige Attraktivität. Doch davor warnt Lukas: Wenn er Jesus Maria an seinen wahren Vater erinnern lässt, dann verlieren die irdischen Sorgen ihre Bedeutung – das säkulare «ganz andere» widerspricht der Idee vom Heilsprozess, die dem Evangelium seine Bedeutung gibt. Das musste Maria in der sanften Warnung ihres Sohnes erfahren.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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