Schmücke dich, o liebe Seele

BWV 180 // zum 20. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto dolce I+II, Flauto traverso, Oboe, Oboe da caccia, Fagott, Streicher und Continuo

Die beiden grossen Bachkenner Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy müssen eines Tages über Bachs berühmten Orgelchoral «Schmücke dich, o liebe Seele» (BWV 654) gesprochen haben. Berichtet Schumann doch, Mendelssohn habe ihm dabei gestanden, dass wenn ihm das Leben auch alles genommen hätte, allein dieser Choral es ihm wiederbringen würde. Der erhebende Eindruck, den dieses im tröstlichen wie trinitarischen Es-Dur stehende Stück auf Mendelssohn machte, hing vermutlich nicht nur mit Bachs genialem Orgelsatz, sondern auch mit der berückenden Schönheit des 1649 von Johann Franck gedichteten und von Johann Krüger komponierten Chorals zusammen. Man kann sich jedenfalls beim Anhören der Kantate «Schmücke dich, o liebe Seele» (BWV 180) des Eindrucks nicht erwehren, dass auch schon Bach von diesem Abendmahlslied zu einer besonders beseelten und regelrecht freudetrunkenen Vertonung inspiriert wurde.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 180

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Maria Cristina Kiehr

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Julius Pfeifer

Bass
Fabrice Hayoz

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Damaris Nussbaumer, Noëmi Tran-Rediger

Alt
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Lea Scherer

Tenor
Clemens Flämig, Manuel Gerber, Walter Siegel

Bass
Matthias Ebner, Fabrice Hayoz, Oliver Rudin

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova, Anaïs Chen, Sabine Hochstrasser, Olivia Schenkel, Livia Wiersich

Viola
Susanna Hefti, Emmanuel Carron

Violoncello
Martin Zeller

Violoncello piccolo
Christophe Coin (special Guest)

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Stefanie Haegele

Oboe da caccia
Luise Baumgartl

Fagott
Susann Landert

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein

Flauto dolce
Armelle Plantier, Priska Comploi

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Monica Ruethers

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.10.2009

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 3 (Choral), 7
Johann Franck (1618-1677)

Textdichter Nr. 2-6
unbekannter Bearbeiter

Erste Aufführung
20. Sonntag nach Trinitatis,
22. Oktober 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Ihr Eingangschor vereinigt einen beschwingten 12/8-Takt mit einer besonderen klanglichen Durchlässigkeit der locker ineinandergreifenden und allenthalben von der Choralmelodie inspirierten Streicher und Holzbläser. Obwohl die drei unteren Chorstimmen die dem Sopran übertragene Melodie mit einem kontrapunktisch anspruchsvollen Terzett begleiten, geht dem Satz jegliche Strenge ab. Alles scheint zu tirilieren und zu atmen – es ist, als würde man an einem leuchtenden Sommermorgen eine liebevoll geschmückte Dorfkirche mit ihren bunten Fenstern und knirschenden Holzemporen betreten. Was Bach hier eingefangen hat, ist nichts anderes als die pure Freundlichkeit des Evangeliums.

Eine Komposition von ansteckend fröhlichem Charakter ist Bach mit der Tenorarie «Ermuntre dich, dein Heiland klopft» gelungen. Nahezu bruchlos wird im munteren Konzertieren von Solotenor, Traversflöte und Continuo der Gestus des Eingangschores fortgesetzt und eine Einladung ausgesprochen, deren Charme man sich kaum entziehen kann. Wie Bach dabei das «Klopfen» des Heilands an die «Herzenspforte» und das sprachlos machende «Entzücken» der davon angerührten Seele in Töne fasst, ist meisterlich und bezaubernd. Und noch ist sein Farbenspiel nicht erschöpft – geht doch das folgende Rezitativ in ein ausgedehntes Choralarioso über, das durch ein obligates Violoncello piccolo in ein besonders zartes Licht getaucht wird. Der intensive Sehnsuchtston des Textes («Ach, wie hungert mein Gemüte, Menschenfreund, nach deiner Güte») findet in der kernigen Eleganz dieser singenden Streicherstimme zugleich seine Ermutigung wie Erfüllung. Auch das folgende Rezitativ, das den scheuen Respekt angesichts der geheimnisvollen Hoheit des Abendmahlsgeschehens zum Thema hat, erhält durch die mitwirkenden Blockflöten einen friedvoll-feierlichen Rahmen. Im vollen Orchesterglanz der Sopranarie werden schliesslich alle Zweifel verscheucht, so dass der abschliessende Choralsatz «Jesu, wahres Brot des Lebens» als klingendes Abbild der Einheit im Glauben und Vorgeschmack des grossen himmlischen Gastmahls zu wirken vermag.

Die relativ grosse Zahl früher Abschriften sowie der möglicherweise damit in Zusammenhang stehende Verlust der Originalstimmen sprechen dafür, dass sich Bachs zum 20. Sonntag nach Trinitatis 1724 geschriebene Kantate bereits im 18. Jahrhundert einer gewissen Beliebtheit erfreute. Ein Wunder wäre es nicht.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Der Kantate liegt das Abendmahlslied «Schmücke dich, o liebe Seele» von Johann Franck zugrunde. Sie bezieht sich auf die Auslegung des Gleichnisses vom königlichen Hochzeitsmahl aus Matthäus 22 als Bild für das Heilige Abendmahl, nämlich als geistliche Hochzeit der gläubigen Seele mit Christus. Der unbekannte Librettist hat die Randstrophen sowie die Strophe 4 des Liedes im Wortlaut beibehalten und die übrigen Strophen zu Arien und Rezitativen umgedichtet.

1. Chor

Schmücke dich, o liebe Seele,
lass die dunkle Sündenhöhle,
komm ans helle Licht gegangen,
fange herrlich an zu prangen;
denn der Herr voll Heil und Gnaden
lässt dich itzt zu Gaste laden.
Der den Himmel kann verwalten,
will selbst Herberg in dir halten.

1. Chor
Francks Dichtung verbindet das Gleichnis vom Hochzeitsmahl mit der Brautmystik des Hoheliedes. Bach «übernimmt die bräutliche Stimmung im ruhigen Wohlklang der Blockflöten, Oboen und Streichinstrumenten» (H.J. Schulze).

2. Arie (Tenor)

Ermuntre dich, dein Heiland klopft,
ach, öffne bald die Herzenspforte!
Ob du gleich in entzückter Lust
nur halb gebrochne Freudenworte
zu deinem Jesu sagen musst.

2. Arie
Jesus klopft an unsre Tür, damit wir ihm öffnen (Offenbarung 3, 2), was tonmalerisch in eine Art Weckrufe der Querflöte übersetzt wird. Franck dichtet: «Red ihn an mit schönen Worten: Komm, mein Liebster, lass dich küssen, lass mich deiner nicht mehr missen.» Dies erschien dem Bear­beiter wohl allzu überschwänglich; er lässt die Seele bei der Begegnung mit Jesus «nur halb ­gebrochne Freudenworte» stammeln.

3. Rezitativ & Choral (Sopran)

Wie teuer sind des heilgen Mahles Gaben!
Sie finden ihresgleichen nicht.
Was sonst die Welt
vor kostbar hält,
sind Tand und Eitelkeiten;
ein Gotteskind wünscht diesen Schatz zu haben
und spricht:
Ach, wie hungert mein Gemüte,
Menschenfreund, nach deiner Güte!
Ach, wie pfleg ich oft mit Tränen
mich nach dieser Kost zu sehnen.
Ach, wie pfleget mich zu dürsten
nach dem Trank des Lebensfürsten!
Wünsche stets, dass mein Gebeine
sich durch Gott mit Gott vereine.

3. Rezitativ (und Choral)
In der dritten Strophe seines Liedes besingt Franck die grosse Huld Christi, dass die unbezahlbare Gabe des heiligen Mahles gratis zu haben ist. Der Librettist dagegen tadelt im Rezitativ die böse Welt, welche «Tand und Eitelkeiten» für kostbar hält. Die anschliessende, wörtlich übernommene vierte Choralstrophe singt von der Sehnsucht nach Stärkung durch das Abendmahl und erinnert an das Abschiedsgebet Jesu aus Johannes 17, «dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns seien».

4. Rezitativ (Alt)

Mein Herz fühlt in sich Furcht und Freude;
es wird die Furcht erregt,
wenn es die Hoheit überlegt,
wenn es sich nicht in das Geheimnis findet,
noch durch Vernunft dies hohe Werk ergründet.
Nur Gottes Geist kann durch sein Wort uns lehren,
wie sich allhier die Seelen nähren,
die sich im Glauben zugeschickt.
Die Freude aber wird gestärket,
wenn sie des Heilands Herz erblickt
und seiner Liebe Grösse merket.

4. Rezitativ
Dieses Rezitativ bildet die Mitte der Kantate. Im Abendmahl weckt die Begegnung mit dem Heiligen sowohl Freude über die Liebe des Erlösers als auch Furcht vor dem Unergründlichen seines Werkes.

5. Arie (Sopran)

Lebenssonne, Licht der Sinnen,
Herr, der du mein Alles bist.
Du wirst meine Treue sehen
und den Glauben nicht verschmähen,
der noch schwach und furchtsam ist.

5. Arie
Hier ist lediglich die erste Zeile ein Zitat aus Francks Lied und der Rest freie Dichtung. Bei Franck heisst es: «Hie fall ich zu deinen Füssen, lass mich würdiglich geniessen dieser deiner Him­mels Speise, mir zum Heil und dir zum Preise.»

6. Rezitativ (Bass)

Herr, lass an mir dein treues Lieben,
so dich vom Himmel abgetrieben,
ja nicht vergeblich sein.
Entzünde du in Liebe meinen Geist,
dass er sich nur nach dem, was himmlisch heisst,
im Glauben lenke
und deiner Liebe stets gedenke.

6. Rezitativ
In der achten Strophe seines Liedes ist von Christus die Rede, der sein Leben in Liebe für uns in den Tod gegeben hat. Der Librettist fügt die Bitte hinzu, Jesus möge bewirken, dass unser Geist sich nur nach dem hinwende, «was himmlisch heisst».

7. Choral

Jesu, wahres Brot des Lebens,
hilf, dass ich doch nicht vergebens
oder mir vielleicht zum Schaden
sei zu deinem Tisch geladen.
Lass mich durch dies Seelenessen
deine Liebe recht ermessen,
dass ich auch, wie jetzt auf Erden,
mög ein Gast im Himmel werden.

7. Choral
Die letzte Strophe des Abendmahlsliedes bildet den Abschluss der Kantate. Sie nimmt die Mahnung des Apostels Paulus aus 1. Korinther 11 auf: «Es prüfe sich jeder, und dann soll er vom Brot essen und aus dem Kelch trinken. Wer nämlich isst und trinkt, ohne zu wissen, was der Leib bedeutet, der isst und trinkt sich zum Gericht.» Nach der geistlichen Hochzeit hier auf Erden folgt dereinst die ewige Hochzeit im Himmel.

Reflexion

Monica Rüthers

«Die unio mystica, der wunde Gott und die erschöpfte Seele»

In Krisenzeiten wird seit jeher der Ruf nach einem Messias laut.
Die Kantate «Schmücke dich, o liebe Seele» erinnert uns an die Zeit der selbsternannten Erlöser im 17. Jahrhundert.

Der Text der vor vier Wochen hier in der Kirche zu Trogen aufgeführten Kantate «Komm, du süsse Todesstunde» beschäftigte sich mit der Sehnsucht nach dem Tod als Vereinigung mit Gott. Die heutige Kantate, «Schmücke dich, o liebe Seele», handelt wieder von einer Vereinigung mit Christus, diesmal durch das Essen der Hostie. Im einen Fall führt das Essen, im anderen der Tod zur ersehnten Vereinigung der Seele mit Gott. Die Passions- und die Abendmahlsekstase in diesen beiden Liedern sind keine Einzelfälle. Solche gefühlvollen Schilderungen waren in der barocken Andachtsliteratur verbreitet. Häufig wird die Vereinigung mit Gott in glühenden, ja erotischen Bildern beschrieben. Essen, Liebe und Tod, Formen der Verschmelzung, erscheinen als eng verbundene Motivgruppe. Die Vereinigung mit Gott wird als unio mystica bezeichnet. Sie ist die höchste Form der Gotteserkenntnis. Mystik bezeichnet alles, was Menschen tun im Bestreben, mit Gott eins zu werden.
Woher kommt diese Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott zu dieser Zeit? Die Konjunktur der Mystik im 17. Jahrhundert hatte ganz konkrete Ursachen im Alltag der Menschen. Es war eine Zeit, in der die drei apokalyptischen Reiter in besonderem Mass wüteten: Krieg, Pest und Hungersnot. Auf den 30-jährigen Krieg folgten Pestepidemien, Europa wurde buchstäblich entvölkert. Dafür fielen die Türken zweimal ein. Schliesslich gab es noch zwischen 1660 und 1720 eine kleine Eiszeit. Die Sonne verschwand. Die Sommer waren so kalt, dass kaum mehr etwas auf den Feldern wuchs. Die Menschen hungerten und froren. In den Alpen und Voralpen machte sich die Abkühlung besonders bemerkbar. Viele hoch gelegene Siedlungen in den Alpentälern wurden im 17. Jahrhundert aufgegeben.
Verängstigung kam auch auf, nachdem Johannes Kepler und Galileo Galilei um 1610 herausgefunden hatten, dass sich die Planeten nicht um die Erde drehten, sondern um die Sonne. Dem Menschen wurde bewusst, dass er nun nicht mehr im Mittelpunkt der Schöpfung stand. Hatte Gott ihn vergessen?
Die Menschen verstanden Kriege, Missernten, Pestepidemien oder den Türkeneinfall als Zeitzeichen. Einige deuteten das Verschwinden der Sonne als Abend der Welt, als Strafe Gottes. Das Jüngste Gericht steht unmittelbar bevor! Das galt ihnen als Anlass für Reue und Busse. Andere gaben Hexen die Schuld. An manchen Orten wuchs der Antisemitismus, an anderen näherten sich die Gläubigen in ihren messianistischen Erwartungen den Juden an. Im 17. Jahrhundert häuften sich die Kometenpredigten. Dabei gab es nicht mehr Kometen als zuvor. Doch sie galten nun als Vorboten des Weltuntergangs. Wann würde das Ende der Welt eintreffen? Komplizierte Berechnungen wurden angestellt. Aber alle Daten für die Wiederkehr Christi verstrichen.
Die Sorge um das eigene Seelenheil war weit verbreitet. Gross war das Bedürfnis nach Trost. Eine Flutwelle von erbaulicher Literatur überschwemmte die Kirchen. Der Pietismus als religiöse Erweckungsbewegung breitete sich aus. Kernelemente waren gemeinsame Bibelstunden, persönliches Gotteserleben, und das Einswerden mit Gott – die unio mystica. Das war für die Kirche nicht ungefährlich, denn der Pietismus bot den Gläubigen direkten Kontakt zu Gott, ohne vermittelnde Institution. Deshalb wurden allzu unabhängige Gruppen als Schwärmer verunglimpft.

Endzeitstimmung und falsche Messiasse
Weltuntergangsstimmung herrschte nicht nur im lutherischen Christentum. Es gab sie auch im Judentum und im katholischen Polen. In Zeiten der Krise wuchsen messianische Hoffnungen. Die berühmtesten falschen Messiasse hiessen Sabbatai Zwi und Jakob Frank.
Die Juden waren im Mittelalter während der Kreuzzüge und Pestepidemien aus Europa vertrieben worden. Viele hatten sich in Polen niedergelassen. Im aufstrebenden Königreich bildeten sie das städtische Element der Handwerker und Händler. Als Gutspächter und Kaufleute verwalteten sie die Adelsgüter, auch in den polnischen Untertanengebieten. Als sich 1648 die Kosaken gegen die polnische Herrschaft erhoben und sich ihnen die ukrainischen Bauern anschlossen, traf dies nicht die Polen selber, sondern deren Verwalter und Statthalter, die Juden. Es kam zu Massakern, denen über 100000 Juden zum Opfer fielen. Aber schon bald nach den Mord- und Plünderungswellen gab es Gerüchte, der Tag der Erlösung stehe unmittelbar bevor. Der Messias wandle bereits auf Erden, sein Name war Sabbatai Zwi.
Sabbatai Zwi kam aus Smyrna und war sehr gebildet, auch in der mystischen Geheimlehre der Kabbala. Man vermutet, dass er an manischer Depression litt. Als er auf den Titel des Messias Anspruch erhob, wurde er verbannt. Auf seinen Wanderungen durch Kleinasien begegnete er dem jungen Nathan von Gaza, der ihn davon überzeugte, dass er wirklich der Messias sei und zu seinem Propheten wurde. Gemeinsam entwickelten sie einen sehr effizienten und überzeugenden Stil. Nathan von Gaza entsandte Weisungen in alle Länder. Diese Weisungen hielten zu einem asketischen Lebensstil und zur Busse an. Sie wurden begeistert aufgenommen und befolgt. In den Synagogen wurde Zwi als Messias verehrt, ein Gefühl der Befreiung vom fremden Joch kam auf und verbreitete sich über die internationalen Handelsstrassen unter den Juden Europas, Nordafrikas und des osmanischen Reiches aus.
Es kam, wie es kommen musste. Zwi erklärte den 18. Juni 1666 zum Tag der Erlösung und reiste nach Konstantinopel, um hier die verheissene Erlösung zu erwarten. Die osmanischen Behörden liessen ihn verhaften. Er wurde unter Druck gesetzt und gefoltert. Daraufhin trat er zum Islam über, möglicherweise, um seine Anhänger zu schützen. Diese waren schockiert und stürzten in eine religiöse Krise. Nathan aber glaubte weiter an die Mission Sabbatai Zwis und suchte, dessen Ehre zu retten. Zwi selbst versank in Depression und starb wenige Jahre später in der Verbannung in Albanien. Die sabbatianische Bewegung bestand dennoch fort. Es entwickelte sich eine radikale Variante, die Vorstellung von der Heiligkeit der Sünde. Sie geht zusammen mit der Vorstellung von Apokalypse und Erlösung: wenn man hilft, den Weltuntergang herbeizuführen, kommt der Messias schneller. Diese besondere Ausprägung der Erlösungstheorie gipfelte in der Bewegung des Jakob Frank.
Jakob Frank gab sich um 1750 in Polen als Nachfolger Sabbatai Zwis und als der neue Messias aus. Er predigte Lebensfreude und gesteigerte Ekstase, die zur unio mystica führen sollten. Insbesondere sexuelle Ekstase sollte das Tor zur Heiligkeit öffnen. Rabbiner denunzierten ihn wegen seiner Ausschweifungen, sodass er fliehen musste. Er trat erst zum Islam über und konvertierte dann zum Katholizismus. Bald denunzierte man ihn jedoch wegen Geheimjudentums, und er kam ins Gefängnis. Nach seiner Befreiung zog er nach Deutschland. Hier lebte er mit seinen rund 400 Anhängern im Offenbacher Schloss und starb dort 1791.
Bereits etwas früher als Jakob Frank trat ein Wunderheiler in Südpolen in Erscheinung, Reb Israel ben Elieser (1700–1760). Er war der Begründer einer mystischen Bewegung, die bis heute existiert: des Chassidismus. Der «Meister des Guten Namens» vertrat die kabbalistische Lehre der Buchstabenmeditation. Gute Taten sollten das Böse ausrotten, und Freude und Lebenszugewandtheit galten auch als gute Taten. Der Mensch sei immer und auch im Alltag durch Liebe mit Gott verbunden. Tanzen, Singen und Feiern, ja die freudige Ekstase, durchaus gefördert von einem guten Schluck Wodka, gehörten explizit zur chassidischen Frömmigkeit und zum Gottesdienst. Es war vor allem der Zustrom junger Männer mit ausgesprochen asketischen Idealen, auch vieler ehemaliger Sabbatianer, der den Chassidismus zur Massenbewegung werden liess. Chassidim standen, wie die Pietisten, «unmittelbar zu Gott», sie brauchten die rabbinischen Gelehrten mit ihren genauen Gesetzeskenntnissen nicht.

Gott, die Erschaffung der Welt und die Schechina
Der Kern der chassidischen Lehren leitet sich aus der mystischen Geheimlehre der Kabbala ab. Verbannung und Erlösung haben einen tiefen kosmischen Sinn. Die jüdische Vorstellung der göttlichen Einheit lässt sich durchaus in Beziehung zur christlichen unio mystica setzen.
Als Gott, der Unendliche, beschloss, das Universum zu erschaffen, so heisst es in der chassidischen Lehre, zog er sich in sich zurück. Er reduzierte sich, um seinem Universum Raum zu geben. Aus dem konzentrierten Gott gingen zehn Lichtströme hervor, die zugleich Gefässe des Göttlichen sind. Nur drei davon waren in der Lage, das göttliche Urlicht aufzunehmen. Als die Strahlung des göttlichen Lichts absank, barsten die unteren Schalen. Funken des göttlichen Lichts blieben an den Scherben haften, einige stiegen empor, andere sanken herab. Aus den herabgesunkenen Funken lagerten sich Schlacken ab, die die Kräfte des Bösen hervorbrachten. Eine irdische Entsprechung davon ist das Exil: das in den Scherben eingefangene, dem Bösen ausgelieferte göttliche Licht. Die Präsenz Gottes in den Scherben heisst Schechina. Sie wird auch als die weibliche Hälfte eines aus einer männlichen und einer weiblichen Hälfte bestehenden Gottes verstanden. Dieser hat seine weibliche Hälfte verloren, sie ist in den Scherben im Exil. Werden eines Tages die Funken aus den Schalen befreit, hat das Exil des Lichts ein Ende und die Erlösung von Mensch und Kosmos tritt ein. Die Thora (die Lehre) und die Gebote sind Mittel, die Gott den Juden gegeben hat. Indem sie die Gebote erfüllen, sammeln sie die Scherben ein und bessern durch ihren Dienst den Makel am Kosmos aus. Die Juden können die Seelen der ganzen Welt erlösen, wenn sie das göttliche Licht befreien. Das ist der Zweck ihres Exils. Die Wiederherstellung des ganzen Gottes, dessen mystische Vereinigung mit seiner Schechina – das ist der Kabbala zufolge die Mission der jüdischen Seele.

Krisen und Lebensgefühl – vom 17. ins 20. Jahrhundert
Die mystische Bewegung des Chassidismus war eine Reaktion auf das Elend und die religiöse Krise, welche die falschen Messiasse und ihre Anhänger ausgelöst hatten. Der Chassidismus ähnelt als Erweckungsbewegung dem Pietismus. Deutlich tritt in den religiösen Mentalitäten und im Lebensgefühl der Zeit die Zerrissenheit hervor, zwischen Busse und Reue, Askese und guten Taten einerseits, der Heiligkeit der Sünde andererseits. Zwischen dem Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit und der Vorbereitung auf den guten und heilsamen Tod einerseits und ausschweifendem Genuss im Angesicht zerstörerischer Schicksalsschläge andererseits.
Kriege, Pest, Hungersnöte, Kosakenaufstände, falsche Messiasse und nicht eingetroffene Weltuntergänge, Askese und Heiligkeit der Sünde – was verbindet uns heute mit dem Lebensgefühl des Barock, mit der Endzeitstimmung des 17. Jahrhunderts? Nehmen wir das Gottesbild der jüdischen Mystiker mit auf eine Zeitreise ins 20. Jahrhundert: Gott, seine Schechina – und die unio mystica, das Ziel der Wiedervereinigung.
Fangen wir mit Darwins Evolutionslehre an. Sie war ein ebenso grosser Schock wie Galileos neues Weltbild. Nun stand der Mensch nicht nur nicht mehr im Zentrum des Universums, sondern er stammte auch noch vom Affen ab. Zum Glück kam dann Freud mit seiner Psychoanalyse, und man konnte wenigstens darüber reden. Es folgten Imperialismus und Erster Weltkrieg, Spanische Grippe, Russische Revolution, Inflation, Deflation, Faschismus, Nationalsozialismus, Krieg gegen die Juden, Zweiter Weltkrieg, Atombombe, Ölkrise, Waldsterben, Tschernobyl, Aids. Für die Jahrtausendwende wurde einmal mehr ein Weltuntergang angekündigt, wenn vielleicht auch nur ein digitaler. Der Beginn des neuen Terrorismus am 11. September 2001 löste ähnliche Bedrohungsszenarien aus wie die Türkeneinfälle. Danach kamen SARS, die Vogelgrippe, die Schweinegrippe und die Wirtschaftsgrippe. Der kleinen Eiszeit des 17. Jahrhunderts stehen globale Erwärmungsszenarien von heute gegenüber. Krieg, Pest und Hungersnot – was für das 17. Jahrhundert galt, galt auch für das 20. und gilt für das beginnende 21., nur jetzt in den neuen Dimensionen der Globalisierung.
Wir leben immer noch mit dem Gottesbild der Kabbala, mit den Scherben des Lichts. Was machen wir damit? Ein Gedankenexperiment: Es heisst, dass Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat. Wir können das umkehren: Der Mensch hat sich Gott nach seinem Bild erschaffen. (Beides stimmt, wenn wir es so wollen.) Der Gott der Kabbala, dieser wunde Gott, ist ein Abbild der erschöpften menschlichen Seele. Die Mystik, das Streben nach der Vereinigung mit Gott, ist der Wunsch des Menschen, seine eigene Seele zu heilen, selbst ganz zu werden.
Die Kantate «Schmücke dich, o liebe Seele» besingt das Abendmahl als Ritual der Vereinigung, die Vorstellung, sich Gott einzuverleiben und dann von ihm bewohnt zu werden. Wie werden wir heute wieder ganz? Die Mehrheit sicher nicht beim Abendmahl. Die westlichen Gesellschaften haben sich säkularisiert. Das Shopping mit seinen Tempeln und Kathedralen ist zum Ersatz für alles Mögliche geworden: Nicht mehr die Hostie, sondern die Handtasche wird mich ganz und glücklich machen. Die erschöpften Seelen entwickeln Kaufsucht und Bulimie, die sich symbolisch durchaus mit dem Verlust des Abendmahls verbinden lassen: essen, konsumieren, ohne sich je ganz zu fühlen.
Eine Alternative zum Abendmahl bietet das jüdische Gottesbild an mit den Scherben des Lichts. Den Juden gab Gott die Thora, um die Scherben einzusammeln und die Seelen zu erlösen. Wir können das auch so verstehen, dass eine jede, ein jeder bestimmte Gaben bekommen hat und die Möglichkeit, die Scherben des göttlichen Lichts einzusammeln. Bach beispielsweise bekam die Gabe der Musik. Er war einer, der Scherben gesammelt hat. Seine Musik hat diese Kraft der Heilung und des Trostes, denn sie ist perfekt und ganz. Und wer sie zur Aufführung bringt, sammelt das Licht.

 

Literatur
• Haim Hillel Ben Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, München 2007
• Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 5. Aufl., München 1999
• Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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