Mein Herze schwimmt im Blut

BWV 199 // zum 11. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Oboe, Streicher und Basso continuo

Dass Bach im Zuge seines Leipziger Dienstantrittes eidlich versichert hatte, keine allzu «operistische» Kirchenmusik zu komponieren, heisst nicht, dass er diese moderne Tonsprache nicht beherrschte. Nicht zufällig liegt dabei seiner bereits 1714 in Weimar erstaufgeführten und später für Köthen und Leipzig neu bearbeiteten Kantate «Mein Herze schwimmt im Blut» ein Libretto des Darmstädter Hofbibliothekars und Operntexters Georg Christoph Lehms zugrunde, der es wie wenige Zeitgenossen verstand, gefühlsmässige Höhen und Abgründe in schmerzlich schöne und sinnhaft sinnliche Sprachbilder zu kleiden. Auch mit ihrer Vokalbesetzung nur für Sopran solo ist BWV 199 eine der wenigen Kompositionen Bachs, auf die die italienisch-weltliche Gattungsbezeichnung «Cantata » wörtlich zutrifft. Mit ihrer emotionalen Reise von tiefster Zerknirschung bis zu ausgelassener Freude steht sie der berühmten «Bekümmernis»-Kantate BWV 21 durchaus nahe.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Julia Doyle

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Andreas Helm

Orgel
Nicola Cumer

Theorbe
Fred Jacobs

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Emma Kirkby

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.11.2023

Aufnahmeort
Speicher (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
12. August 1714, Weimar

Textgrundlage
Georg Christian Lehms (Sätze 1–5, sowie 7+8) Johann Heermann (Satz 6)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Dass Bach im Zuge seines Leipziger Dienstantrittes eidlich versichert hatte, keine allzu «opernhaftige» Kirchenmusik zu komponieren, heisst nicht, dass er diese moderne Tonsprache nicht beherrschte. Nicht zufällig liegt dabei seiner bereits 1714 in Weimar erstaufgeführten und später sowohl für Köthen wie auch für Leipzig neu bearbeiteten Kantate «Mein Herze schwimmt im Blut» ein Libretto des Darmstädter Hofbibliothekars und Operntexters Georg Christian Lehms zugrunde, der es wie wenige Zeitgenossen verstand, gefühlsmässige Höhen und Abgründe in schmerzlich schöne und sinnhaft sinnliche Sprachbilder zu kleiden. Auch mit ihrer Vokalbesetzung nur für Sopran solo ist BWV 199 eine der wenigen Kompositionen Bachs, auf die die italienisch-weltliche Gattungsbezeichnung «Cantata» wörtlich zutrifft. Mit ihrer emotionalen Reise von tiefster Zerknirschung bis zu ausgelassener Freude steht sie der berühmten «Bekümmernis»-Kantate BWV 21 durchaus nahe. Die Zuordnung von Bachs späteren Wiederaufführungen zu einem der Sonntage des Kirchenjahres ist nicht in allen Fällen gesichert, wobei die Bezüge des Textes zu Lukas 18, dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, auf den 11. Sonntag nach Trinitatis weisen und der Erstdruck des Textes von Lehms dies in einer Überschrift bestätigt.

1. Rezitativ — Sopran

Mein Herze schwimmt im Blut,
weil mich der Sünden Brut
in Gottes heilgen Augen
zum Ungeheuer macht;
und mein Gewissen fühlet Pein,
weil mir die Sünden nichts als Höllenhenker sein.
Verhaßte Lasternacht,
du, du allein
hast mich in solche Not gebracht!
und du, du böser Adamssamen,
raubst meiner Seelen alle Ruh
und schließest ihr den Himmel zu!
Ach! unerhörter Schmerz!
Mein ausgedorrtes Herz
will ferner mehr kein Trost befeuchten;
und ich muß mich vor dem verstecken,
vor dem die Engel selbst ihr Angesicht verdecken.

1. Rezitativ — Sopran

Der dramatische Text der Kantate samt diesem Sopranrezitativ geht auf Georg Christian Lehms‘ Dichtung aus seinem «Gottgefälligen Kirchen-Opfer» (gedruckt 1711) zurück. Mit starken Sprachbildern (nicht kardiologisch im Herz schwimmendes Blut, sondern ein sündlich zuerst im Blut schwimmendes, dann ausgedorrtes Herz, ein unter Gewissenspein wegen seiner «Höllenhenker»-Sünden leidender Mensch und «Adamssamen») ist hier eine ausgesprochen barocke Sündenfrömmigkeit in Sprache gegossen. Der exaltierte Tonfall der Sopranrezitation wird durch ein dichtes Streicher-Accompagnato in seiner Wirkung noch gesteigert.

2. Arie und Rezitativ — Sopran

Stumme Seufzer, stille Klagen,
ihr mögt meine Schmerzen sagen,
weil der Mund geschlossen ist.
Und ihr nassen Tränenquellen
könnt ein sichres Zeugnus stellen
wie mein sündlich Herz gebüßt.
Mein Herz ist itzt ein Tränenbrunn,
die Augen heiße Quellen.
Ach Gott! Wer wird dich doch zufriedenstellen?

2. Arie und Rezitativ — Sopran

Die Arie entfaltet nun in ruhigerem Duktus «Stumme Seufzer, stille Klagen». Ein tränenreiches Sündenbewusstsein mündet in die Frage, wer Gott zufriedenstellen könne – ein Motiv der Satisfaktionstheologie, das von Bach im Dialog zweier expressiver Oberstimmen über einem lastend stockenden Continuo umgesetzt wird.

3. Rezitativ — Sopran

Doch Gott muß mir genädig sein,
weil ich das Haupt mit Asche,
das Angesicht mit Tränen wasche,
mein Herz in Reu und Leid zerschlage
und voller Wehmut sage:
«Gott sei mir Sünder gnädig!»
Ach ja! sein Herze bricht,
und meine Seele spricht:

3. Rezitativ — Sopran

In einem durch die Streicherbegleitung erneut pathetisch aufgeladenen Rezitativ wird die Brücke zum Evangeliumstext des 18. Trinitatissonntags geschlagen, zum Ausruf des Zöllners in Lukas 18, 13: «Gott sei mir Sünder gnädig!» – Wer zu solcher Reue fähig sei, dem müsse Gott gnädig sein.

4. Arie — Sopran

Tief gebückt und voller Reue lieg ich,
liebster Gott, vor dir.
Ich bekenne meine Schuld,
aber habe doch Geduld,
habe doch Geduld mit mir!

4. Arie — Sopran

In der unmittelbar anschliessenden Arie hören wir, was eine solchermassen zerknirschte Seele fühlt, wenn sie in ihrem Schuldbekenntnis Gott bittet: «Habe doch Geduld mit mir!» Bach konzipiert dafür einen schwerblütigen Sarabandensatz, in den sich die Singstimme mit edler Kantilene und abbildenden Gesten («tief gebückt») einfügt.

5. Rezitativ — Sopran

Auf diese Schmerzensreu
Fällt mir alsdenn dies Trostwort bei:

5. Rezitativ — Sopran

Das kurze Rezitativ voller «Schmerzensreu» bereitet das folgende, dankbar aufgenommene Trostwort des Chorals vor:

6. Choral — Sopran

Ich, dein betrübtes Kind,
werf alle meine Sünd’,
so viel ihr’ in mir stecken
und mich so heftig schrecken,
in deine tiefen Wunden,
da ich stets Heil gefunden.

6. Choral — Sopran

«Ich, dein betrübtes Kind, werf alle meine Sünd’… in deine (sc. Jesu) tiefen Wunden, da ich stets Heil gefunden.» Der Text dieses Satzes entspricht der 3. Strophe des berühmten Chorals von Johannes Heermann «Wo soll ich fliehen hin?» aus dem Jahr 1630. Dieser wurde hier in eine ariose Vortragsform verwandelt, für deren instrumentale Begleitstimme Bach sich den überlieferten Quellen zufolge nur schwer zwischen Bratsche, Viola da gamba, Violoncello und Violoncello piccolo entscheiden konnte.

7. Rezitativ — Sopran

Ich lege mich in diese Wunden
als in den rechten Felsenstein;
die sollen meine Ruhstatt sein.
In diese will ich mich im Glauben schwingen
und drauf vergnügt und fröhlich singen.

<strong>7. Rezitativ — Sopran</strong>

Georg Christian Lehms steigert Heermanns Sprachbilder – nicht nur die Sünden, der ganze Mensch legt sich nun in Jesu «Wunden» … «als in den rechten Felsenstein» – in ein geradezu karfreitägliches Begräbnis und darauf in einen österlich vergnügten und fröhlichen Aufschwung. Bachs bewegliche Musik setzt diese Affektwechsel auf engstem Raum kongenial um.

8. Arie — Sopran

Wie freudig ist mein Herz,
da Gott versöhnet ist
und mir nach Reu und Leid
nicht mehr die Seligkeit
noch auch sein Herz verschließt.

8. Arie — Sopran

In der Schlussarie bringt ein mit Gott versöhntes Herz freudig zum Ausdruck, dass nach der Reue sogar Gott selber sein Herz nicht mehr verschliessen wird. Diese aktivierende Erleichterung wird im vorwärtsstürmenden 12 ⁄8-Duktus einer Giga perfekt eingefangen.

Reflexion

Emma Kirkby

Es ist für mich eine Ehre und eine Freude, mit Ihnen zusammen die Bachkantate 199 zu erleben ‒ mit diesem inspirierenden Ensemble.

Was ich zu sagen habe, wird sehr persönlich sein, denn ich bin weder Musikwissenschaftlerin noch Theologin, sondern einfach eine Enthusiastin.

Bach bietet uns Sängerinnen und Sängern ein wunderbares Gleichgewicht des Vergnügens ‒ im einen Moment sind wir physisch beteiligt und im nächsten lauschen wir gebannt dem Engagement und dem Können anderer; der Sänger ist der glücklichste Mensch im Raum!

Thomas Morley, der englische Komponist und Theoretiker der Renaissance, unterstrich die grosse Bedeutung des Textes für die Sänger und nannte ihn «die lebendige Seele der Musik»; er soll die Hörer mit goldenen Ketten zur Betrachtung himmlischer Dinge ziehen.

Diese Funktion des Textes ist auch der einzige Grund, warum die Sänger bei einer typischen Kantatenaufführung in der vorderen Reihe stehen, eingebettet in ein Ensemble von virtuosen Musikerinnen und Musikern, von denen alle eine entscheidende Rolle bei der Interpretation des Werks spielen.

Für Sängerinnen und Sänger ist es eine Freude, ein «Instrument» unter Instrumenten zu sein!

Wie auch immer, es ist wichtig, dass die Botschaft des Werks das Publikum erreicht.

Bachs obligate Stimmen verlangen von den Instrumentalisten Klangschönheit und grosses Können, aber auch, wie es in den Traktaten seit der Renaissance heisst, eine gewisse «Vokalität». Ich habe das bei den Kollegen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, oft bemerkt: eine musikalische Beredsamkeit, abgestimmt auf den Sinn und Ausdruck des Textes; wir Musiker und Musikerinnen sind alle Sprecher und Erzählerinnen.

Ein Leben lang habe ich geforscht, wie ich die Texte am besten «verkörpern» kann, in all ihrer Vielfalt des Ausdrucks und der Bedeutung.

Sängerinnen und Sänger wissen, dass sie für eine ausdrucksstarke Aufführung den ganzen Körper einsetzen müssen. Sie arbeiten an der Körperspannung, um eine schöne Linie zu halten, ein Legato, das die schönen Noten verbindet.

Die Aufmerksamkeit gilt den Vokalen, manchmal leider auf Kosten der Konsonanten, die als unangenehme Unterbrechungen empfunden werden. Und so wirkt dann der Primat der Gesangslinie wie ein Bulldozer, der alle Konsonanten auf seinem Weg plattdrückt.

Das Ergebnis ist ein schwerwiegender Verlust an Klarheit, der Text verschwindet fast in dem herrlichen Klang… aber was soll’s: Das Publikum hat ja ein Textheft in der Hand! Übrigens auch schon zu Bachs Zeit…

Als ich als junge Sängerin anfing, war ich von den Worten ebenso begeistert wie von der Melodie ‒ ich liebte die komplizierte Lyrik der Lautenlieder von John Dowland oder die verwickelten Geschichten der drei- oder noch mehrstimmigen Renaissance-Rondeaux.

Ich hatte das Glück, eine wunderbare Gesangslehrerin, Jessica Cash, kennenzulernen, die leider in diesem Sommer verstorben ist. Ich verdanke ihr mehr, als ich ausdrücken kann.

Am allerersten Tag sagte sie zu mir: «Konsonanten sind deine besten Freunde. Sie geben dir die besten Vokale! Jeder Konsonant sollte einen vollständigen Verschluss haben ‒ denn was sich nicht richtig schliesst, kann sich auch nicht richtig öffnen…»

Und zum Legato sagte sie: «Wir alle träumen von einem perfekten Legato, das sanft und rund läuft, wie ein Rolls-Royce, der auf magische Weise ohne jede Reibung dahingleitet ‒ aber was treibt dieses magische Ding eigentlich an? Eine Reihe von kleinen Explosionen im sogenannten Verbrennungsmotor! Und diese Explosionen sind unsere Konsonanten, die uns unsere Vokale geben, rein, hell und klar.»

Konsonanten sind also physisch praktische und wirksame Dinge ‒ sie entspringen Emotionen und sie begleiten Emotionen. Wenn wir aufgeregt, schockiert oder wütend sind, reagieren wir im Englischen, und ich denke, auch im Deutschen, mit heftigen Konsonanten.

(ein englisches Beispiel ‒ …would be funny…)

Wir wissen, dass jede verständliche Rede den präzisen Einsatz der Artikulatoren erfordert: Lippen, Zähne, Zunge.

Sobald aber Emotionen auftauchen, brauchen wir unseren ganzen Körper und sollten, wie es so schön heisst, «mit dem Herzen sprechen». Und es sind genau die Konsonanten, diese scheinbaren Unterbrecher der ersehnten «Legato-Linie», die aus dem Herzen kommen und unserem Gesang überzeugende Emphase verleihen.

Diese «Konsonantenexplosionen» sind auch hilfreich, um wieder zu Atem zu kommen.

Wenn nur ein kurzer Moment bleibt, um zu atmen, dann hilft dies:

Sie singen die vorangehende Phrase mit voller Energie und artikulieren den letzten Konsonanten stark und gefühlvoll; das wird Ihr Herz, Ihre Körperspannung aktivieren und in der Folge atmen Sie kurz und dynamisch – und siehe da, die anschliessende Silbe ist voll Kraft und Energie! Jetzt sind die Wort-Enden auch in einer Kirche gut hörbar.

Ich denke, dass man auf diese Weise die Bach’sche Interpunktion beibehalten und den Gedanken so natürlich singen kann, als ob man ihn sprechen würde.

Viele von Bachs Texten sind emotional aufgeladen ‒ ich würde immer wieder auf die Konsonanten zugehen, denn um diese Emotionen auszudrücken, braucht es den ganzen körperlichen Einsatz.

Ein entscheidendes körperliches Ausdrucksmittel habe ich noch nicht erwähnt: unsere Hände!

Sie haben eine Ähnlichkeit mit Wörtern und Sprache; wir reden mit den Händen im Alltag und noch mehr in wichtigen Sitzungen, wenn wir emotional auf eine Nachricht oder einen neuen Vorschlag reagieren oder einen Plan oder ein eigenes Argument vorbringen müssen.

Die Schulung in Rhetorik gehörte jahrhundertelang zu jeder ernsthaften Ausbildung, auch zu der von Bachs Schülern in Leipzig. Sie lernten unter anderem, mit den passenden Gesten einem Text Überzeugungskraft zu geben.

In einer Zeit, als es noch kein elektrisches Licht und keine Brillen für Kurzsichtige gab, konnten die Menschen im Theater und an anderen öffentlichen Orten die Gesichter der Redner oft nicht deutlich sehen; daher waren aussagekräftige Gesten für die Verständigung unerlässlich.

Der Einsatz der Hände verleiht auch dem Gesang Kraft und Autorität.

Es wurde zu Bachs Zeit empfohlen, die Hände auf der Höhe des Herzens zu halten und kleine Gesten zu machen. Damit ist der ganze Körper daran beteiligt, die Botschaft klar und überzeugend zu übermitteln.

Auch wenn man von Noten singt, sind die Hände auf der Höhe des Herzens, können sich beteiligen und ausdrucksstark die Klangrede unterstützen.

***

Nach diesen sängerischen Überlegungen möchte ich gerne noch ein paar Worte zur Kantate 199 sagen, wie ich sie höre und wie ich sie erlebe.

Sie ist dramatisch und tiefgründig und dennoch sehr gut singbar.

Sie ist freundlich für die Stimme geschrieben ‒ verlangt aber eine totale Hingabe an die Gefühle. Sie folgt der Reise des Herzens und der Seele vom quälenden Bewusstsein der Sünde bis zur überwältigenden Gewissheit der Erlösung.

Die Sprache ist an jeder Stelle anschaulich, mit einer Abfolge lebhafter Bilder, die von der Sängerin völlige Hingabe abverlangt.

Zu Beginn, im Rezitativ, erstarrt die Sängerin in Entsetzen, ein Ungeheuer, das nur für die Hölle taugt und dem der Himmel verwehrt ist; das Herz ist so «ausgedorrt», dass es keine Chance auf Trost hat ‒ verborgen vor den Augen Gottes.

Die erste Arie beginnt zunächst mit einem Duett von ängstlicher Schönheit, in dem die Oboe und der Bass einander entgegenschluchzen, die Oboe mit grossen Sprüngen, die sich in Seufzer verwandeln, und die Bässe mit Wellen des Kummers;

dann kommt die Sängerin und beschreibt ein Paradox: Sie seufzt und klagt über ihre eigenen Sünden, obwohl der Mund verschlossen ist.

Es folgt ein kurzes Seccorezitativ ‒ mit heissen Tränen, die aus dem Herzen quellen, ein direktes Flehen zu Gott: «Wer wird dich doch zufriedenstellen?»

Auf diese Frage antwortet das nächste Rezitativ, unterstützt von allen Streichern:

«Doch Gott muss mir gnädig sein»… wenn der Sünder voll und ganz bereut, mit Asche und Tränen.

Daran schliesst die Bitte: «Gott sei mir Sünder gnädig», es ist eine einprägsame Melodie.

All dies führt zu einem erstaunlichen Ergebnis: «Ach ja, sein Herze bricht, und meine Seele spricht…»

Und es folgt die zentrale Streicherarie, die zu meinen absoluten Favoriten gehört.

Sie setzt Worte demütiger Reue in einem festen Dreiertakt, wie einen feierlichen Tanz. Ergreifende Dissonanzen und Ausrufe der Reue sind eingewoben in eine tröstliche Melodie.

Im Mittelteil wechseln Schuldbekenntnisse mit inständigen Bitten um Geduld ab, bis es zu dem Moment kommt, der so aussergewöhnlich ist, dass ich fast keine Worte dafür habe: Während der siebten und letzten Bitte erscheint das Licht der Erlösung wie die ersten Strahlen eines Sonnenaufgangs.

Von diesem Zeitpunkt an entfaltet sich die Reise des Herzens und der Seele in immer tröstlicheren und hoffnungsvolleren Worten.

Die Sängerin intoniert einen Choral, in dem sie alle Sünden in die tiefen Wunden des Erlösers wirft ‒ wiederum über einer reichen und zutiefst beruhigenden Basslinie.

Das abschliessende Rezitativ und die Gigue überströmen von Freude und Dankbarkeit des Herzens, «da Gott versöhnet ist».

Welch ein Glück ist es für uns heute Abend, diese Kantate ein zweites Mal zu hören!

(Aus dem Englischen übersetzt von Arthur Godel)

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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