Fürchte dich nicht
BWV 228 // Trauerfestakt
für doppeltes Vokalensemble
Die für einen unbekannten Traueranlass entstandene achtstimmige Motette BWV 228 kombiniert Verse aus dem Buch Jesaja mit Choralstrophen aus Paul Gerhards Lied «Warum sollt ich mich denn grämen». Die Komposition besticht in ihrem ersten Teil durch ihr kraftvolles wechselchöriges Konzertieren, in dessen energischen Zuspruch «Fürchte dich nicht» sich immer wieder elegische Fortspinnungen mischen. Der auf vier Stimmen verdichtete zweite Hauptabschnitt führt in Bass, Tenor und Alt die beiden Textglieder «Denn ich habe dich erlöset» und «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen» durch, über denen der Sopran zeilenweise das Gerhard‘sche Trostlied intoniert, bevor die Motette mit einer wirkungsvoll aufgefächerten Erinnerung endet: «Fürchte dich nicht.»

Chor
Sopran
Lia Andres, Felicitas Erb, Simone Schwark, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Mirjam Wernli
Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Liliana Lafranchi, Damaris Rickhaus, Simon Savoy, Lea Pfister-Scherer
Tenor
Zacharie Fogal, Raphael Höhn, Tobias Mäthger, Sören Richter, Nicolas Savoy, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Daniel Pérez, Retus Pfister, Jonathan Sells, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Peter Barczi
Viola
Matthias Jäggi
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Katharina Arfken, Philipp Wagner
Taille
José Manuel Cuadrado Sánchez
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Jörg-Andreas Bötticher
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Muhterem Aras
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
22.11.2019
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erstmalige Aufführung
Ungesichert; womöglich 4. Februar 1726,
Leipzig (zur Beerdigung von Susanna
Sophia Winckler)
Textdichter
Jesaja; Paul Gerhardt (1653)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Fürchte dich nicht, ich bin bei dir,
weiche nicht, denn ich bin dein Gott!
Ich stärke dich, ich helfe dir auch,
ich erhalte dich durch die rechte Hand
meiner Gerechtigkeit.
1. Chor
Bachs Motette beginnt mit einem Zitat aus dem
Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 41, Vers 10. Ursprünglich
als trostvolle Gottesrede an das Volk Israel
in politisch schwierigster Lage gestaltet (nach
der Eroberung Jerusalems durch den Perserkönig
Kyros), werden diese Worte hier zur persönlichen
Anrede an Trauernde: «Fürchte dich nicht, ich bin
bei dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott!» Im
Fortgang ist die Zusicherung Gottes formuliert,
dass er stärke, helfe und erhalte. Bach arbeitet hier
mit blockhaften Anreden, die im wechselchörigen
Vortrag besondere Eindringlichkeit erhalten. Das
kraftvolle «Ich stärke dich» gehört dabei noch heute
zu den bei den Thomanern beliebtesten Bachpassagen.
Typisch für dessen Motettenstil ist die zunehmende
Verschmelzung der Teilchöre zu einer dichten
und dennoch kantablen Polyphonie.
2. Chor
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich
erlöset, ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein.
Fürchte dich nicht, du bist mein!
2. Chor
Die Schlusszeile des ersten Teils bringt schon den ersten
Vers von Jesaja 43, 1b (sie ist allerdings identisch mit
der ersten Zeile von Jesaja 41, 10), während der zweite
Teil der Motette mit dem Fortgang des Jesaja-Zitates
einsetzt: «Denn ich habe dich erlöset, ich habe dich bei
deinem Namen gerufen, du bist mein.» Auch dies ursprünglich
eine Trostrede, die dem Volk Israel Beistand
zusichert trotz Niederlage und Deportation, wird dieser
Trost im Kontext der Motette individualisiert und personalisiert:
Die Trauernden sollen gewiss sein, dass mit
der Erlösung die Verstorbene nicht verloren ist: «Du bist
mein.» Obwohl auch der erste Abschnitt kontrapunktische
Einsatzfolgen ausbildete, verleiht erst die mit einer
Verdichtung auf vier Stimmen einhergehende Doppelimitation
dem Gesamtsatz an ein Präludium mit nachfolgender
Fuge erinnernde Züge. Mit der Verbindung
einer aufsteigenden Themengestalt («Ich habe dich bei
deinem Namen gerufen») mit einem in schmerzvollen
Halbtönen absteigenden Soggetto («Denn ich habe
dich erlöset») öffnet Bach einen weiten Raum musiktheologischer
Deutungen vom Kreuzestod bis zur Erlösungshoffnung.
3. Choral
Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden,
du bist mein,
ich bin dein,
niemand kann uns scheiden.
Ich bin dein, weil du dein Leben
und dein Blut mir zugut
in den Tod gegeben.
3. Choral
Es war bereits für den Bachschüler Johann Philipp
Kirnberger nicht einfach, herauszufinden, um welchen
Choral es sich handelte. Denn in der verlorenen
Originalpartitur wird Bach wie auch sonst die Choraltexte
als bekannt vorausgesetzt haben, so dass er nur
knappe Hinweise für die Kopisten notierte. So suchte
Kirnberger und notierte mit einem Stossseufzer, endlich
habe er den Choral gefunden: Es waren die beiden
Schlussstrophen des Liedes «Warum soll ich mich
denn grämen» von Paul Gerhardt (1653) mit der Melodie
des Berliner Nikolai-Organisten Johann Georg
Ebeling (1666/67), das als Lied RG 678 in unserem Gesangbuch
steht. Wieder zeigt sich, wie Bach das Gesamtkorpus
der Choräle in- und auswendig kannte:
Denn hier verbindet sich die göttliche Zusage «Du bist
mein» des Jesaja-Textes mit der Antwort des Geschöpfs
im Choral, das in Gott den Hirten, den
«Brunn aller Freuden» sieht: «Du bist mein, ich bin
dein, niemand kann uns scheiden.»
4. Choral
Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht, o mein Licht,
aus dem Herzen lasse.
Laß mich, laß mich hingelangen,
da du mich und ich dich
lieblich werd umfangen.
4. Choral
Die zweite Strophe des Gerhardt-Liedes führt das «Du
bist mein» der vorigen Strophe fort und vertieft es:
«Weil ich dich fasse … und dich nicht aus dem Herzen
lasse.» Es schliesst mit der wiederholten Bitte des Geschöpfs
an Gott, er möge es «hingelangen» lassen –
womit die endzeitliche mystische Unio im Bild des
gegenseitigen Umfangens ausgedrückt ist. Durch den
nach Art einer Orgelbearbeitung immer wieder herausgezögerten
Einsatz und die ruhige Melodieführung
erhält der Choral gegenüber dem dichten Kontrapunkt
der Unterstimmen eine besondere Leuchtkraft,
ehe Bach mit der verkürzten Wiederkehr des doppelchörigen
«Fürchte dich nicht» seine Motette mit glaubensstarker
Gewissheit enden lässt.