Freue dich, erlöste Schar

BWV 030 // zum Fest Johannes des Täufers

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Traverso I +II, Oboe I + II, Oboe d’amore, Violino concertato, Streicher und Basso Continuo

Neuere Forschungen haben die Erkenntnis erhärtet, dass Bach den Grossteil seiner Leipziger Kantaten in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Thomaskantor komponierte. Nach 1730 ging er hingegen dazu über, die Erträge dieser kreativen Periode durch Zusammenstellungen von der Art des Weihnachtsoratoriums oder der vier Kurzmessen BWV 233 bis 236 einer neuen Verwendung zuzuführen, wobei er das zeittypische Parodieverfahren meisterlich anwandte. Diesem Typus ist auch die Johanniskantate «Freue dich, erlöste Schar» BWV 30 zuzurechnen, die zu Bachs spätesten Kirchenstücken gehört, ist sie doch die Umarbeitung der Huldigungsmusik «Angenehmes Wiederau», die Bach 1737 für den sächsischen Hofbeamten Johann Christian Hennicke komponiert hatte.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 30

Video

Hören und sehen Sie die Werkeinführung, das Konzert und die Reflexion in voller Länge.

Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Werkeinführung
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Reflexion
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Audio

Die Tonaufnahme dieses Werks finden Sie auf allen gängigen Streaming- und Downloadplattformen.

ANHÖREN AUF

ANHÖREN AUF

ANHÖREN AUF

Akteure

Solisten

Sopran
Julia Sophie Wagner

Alt/Altus
Terry Wey

Tenor
Jakob Pilgram

Bass
Klaus Mertens

Chor

Sopran
Susanne Seitter, Olivia Fündeling, Mirjam Berli, Noëmi Tran-Rediger, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Katharina Jud, Damaris Rickhaus, Francisca Näf

Tenor
Christian Rathgeber, Manuel Gerber, Marcel Fässler, Nicolas Savoy

Bass
Philippe Rayot, Tobias Wicky, Oliver Rudin, Daniel Pérez, Fabrice Hayoz

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Dorothee Mühleisen, Sonoko Asabuki, Christine Baumann, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Christoph Rudolf

Viola
Martina Bischof, Sarah Krone, Katya Polin

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Andreas Helm, Kerstin Kramp

Oboe d’amore
Andreas Helm

Fagott
Susann Landert

Flauto Traverso/Traversflöte
Tomoko Mukoyama, Renate Sudhaus

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Jörg Andreas Bötticher

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Rolf Soiron

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
26.06.2015

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1-5, 7-12
Unbekannt,
vermutlich Christian Friedrich Henrici, genannt Picander

Textdichter Nr. 6
Johann Olearius, 1671

Erste Aufführung
24. Juni 1738 oder an einem Johannistag der folgenden Jahre

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Obwohl die geistliche Fassung auf die Trompeten und Pauken der ländlichen Festkantate verzichtet, hört man dem Eingangschor die weltliche Herkunft an. Ohne Vorspiel beginnt der Chor mit kraftvollen Akklamationen, und die an einen Suitentanz gemahnende Musik macht mit ihren Synkopenrhythmen, dem rondoartigen Aufbau und der durchsichtigen Setzart deutlich, dass der im sechsten Jahrzehnt stehende Bach durchaus gewillt war, den zunehmenden Forderungen nach einer «natürlichen» Schreibweise erstaunlich weit entgegenzukommen.
Entsprechend dem halbszenischen Aufbau solcher Serenaden versammelte die Wiederauer Huldigungsmusik einen Reigen allegorischer Figuren, die jeweils ein Rezitativ und eine Arie zu einem repräsentativen Auftritt zusammenfassten. Und so folgt auf ein von der Ablösung des mosaischen Gesetzes durch den Taufbund handelndes Rezitativ eine Arie für Bass, Streicher und Continuo, die mit ihrem Text «Gelobet sei Gott» auf das biblische Lied des Zacharias, des Vaters von Johannes dem Täufer, anspielt. Mit ihrem kraftvollen Menuett- Duktus verleiht sie dem Gotteslob priesterliche Würde, in der die «Schicksals»-Figur der Vorbildkantate gleichsam aufgehoben scheint.
Auch das folgende Satzpaar kann die Sphäre des unbeschwerten «Glücks» kaum verleugnen. Das Rezitativ spricht adelskonform Johannes als Herold des «Königs» Jesu an, während die Altarie mit ihrer aparten Besetzung aus Traversflöte und gedämpften Streichern sowie ihrer galanten Melodik auf für Bach fast bestürzende Weise modern wirkt. Nicht ohne Geschick wird dabei die dienstbare Ergötzung der Hennicke-Kantate in das eindringliche Liebeswerben Jesu um die «angefochtnen Sünder» und «Adams Kinder» verwandelt. Dazu passt der nur in der geistlichen Fassung eingeschobene Choral «Eine Stimme lässt sich hören», der zugleich die Funktion hat, die Kantate in eine die Predigt umrahmende zweiteilige Form zu gliedern.
Mit dem Accompagnato für Bass und 2 Oboen hat Bach gegenüber dem knappen Secco-Rezitativ der Vorlage eine kunstvollere Form gewählt, die den vom Text gepriesenen Neuen Bund in festlich-geschmeidiger Weise zum Leuchten bringt. Der Arie gelingt hingegen ein drastischer Affektwandel vom Vertrauen in das irdische Schicksal zur energischen Weltabwendung in der Nachfolge Christi, die ihre Entschiedenheit aus dem resoluten Grimm bezieht, den die kurzgliedrigen Gesten in ihrer neuen Textgestalt ausstrahlen. Dem nächsten Doppelsatz merkt man hingegen die Absicht an, Wortlaut und Affekt nahe am Original zu belassen. Während das Sopranrezitativ in beiden Fassungen die Beständigkeit der höfischen Ordnung beziehungsweise der Treue zum Taufgelöbnis hervorhebt, deutet die Sopranarie das «Eilen der Stunden» nun als Chiffre der Sehnsucht, bald die vom drängenden 9/8-Takt und schwärmerischen e-Moll verheissenen paradiesischen Auen zu schauen.
Das Tenorrezitativ behält die einladende Geste der Wiederauer Bankettmusik, versetzt sie jedoch in die Sphäre entrückter Himmelserwartung, bevor die textlich variierte Wiederholung des Eingangschores eine Komposition abrundet, die manchen Leipziger Kritiker Bachs verblüfft haben dürfte.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Diese Kantate zum Johannisfest ist aus der weltlichen Kantate «Angenehmes Wiederau» (BWV 30a) entstanden, welche Bach am 28. September 1737 zu Ehren des Herrn auf Wiederau, Johann Christian von Hennicke, aufgeführt hatte. Hennicke war ein Günstling des Sächsischen Premierministers Graf Brühl, von dem Bach sich Fürsprache bei Hof erhoffte. Den Text dazu hatte Picander verfasst. Möglicherweise besorgte er auch die Parodie, die geistliche Umdichtung des weltlichen Textes. Eine Besonderheit dieser Kantate ist, dass Bach die parodierten Rezitative dennoch neu komponierte und nicht die bereits vorhandene Musik verwendete.

Der Text nimmt Bezug auf die Schriftlesungen des Tages: Jesaja 40, 1–5, und Lukas 1, 57–80. Die Wiederholung des Eingangschors am Schluss der Kantate betont, wie der insgesamt gefällige Duktus der Musik, die weltliche Herkunft der Kantate. Für die Johannistagsmusik verzichtete Bach jedoch auf die Trompeten der weltlichen Huldigungskomposition.

Erster Teil

1. Chor

Freue dich, erlöste Schar,
freue dich in Sions Hütten!
Dein Gedeihen hat itzund
einen rechten festen Grund,
dich mit Wohl zu überschütten.

Erster Teil

1. Chor
Der Chor ruft die Schar der Erlösten zur Freude auf, denn Gott hat eine Fülle von Wohl und Heil für die Seinen bereit. Bach komponiert dafür eine beschwingte und tänzerische Chorarie.

2. Rezitativ (Bass)

Wir haben Rast,
und des Gesetzes Last
ist abgetan.
Nichts soll uns diese Ruhe stören,
die unsre liebe Väter oft
gewünscht, verlanget und gehofft.
Wohlan,
es freue sich, wer immer kann,
und stimme seinem Gott zu Ehren
ein Loblied an,
und das im höhern Chor,
ja, singt einander vor!

2. Rezitativ
Wie damals das jüdische Volk von der Last des Frondienstes befreit wurde, so sind die an Christus Glaubenden von «des Gesetzes Last» befreit (Galater 3, 13). Der erhoffte Befreier ist erschienen und es ist Anlass, ein Loblied anzustimmen.

3. Arie (Bass)

Gelobet sei Gott, gelobet sein Name,
der treulich gehalten Versprechen und Eid!
Sein treuer Diener ist geboren,
der längstens darzu auserkoren,
daß er den Weg dem Herrn bereit’.

3. Arie
Mit dem «treuen Diener» ist Johannes der Täufer gemeint, der Wegbereiter für den kommenden Messias. Die Besetzung mit solistischer Bass-Stimme verleiht der Arie eine gewisse priesterliche Würde.

4. Rezitativ (Alt)

Der Herold kömmt und meldt den König an,
er ruft; drum säumet nicht,
und macht euch auf
mit einem schnellen Lauf,
eilt dieser Stimme nach!
Sie zeigt den Weg, sie zeigt das Licht,
wodurch wir jene selge Auen
dereinst gewißlich können schauen.

4. Rezitativ
Wie ein Herold kündigt Johannes Christus den König an und ermahnt das Volk, seiner Stimme zu folgen.

5. Arie (Alt)

Kommt, ihr angefochtnen Sünder,
eilt und lauft, ihr Adamskinder,
euer Heiland ruft und schreit!
Kommet, ihr verirrten Schafe,
stehet auf vom Sündenschlafe,
denn itzt ist die Gnadenzeit!

5. Arie
Der Text entfaltet die Gedanken des «Heilandsrufes» (Matthäus 11, 28). Durch die warme Alt-Stimme und die zarte Flötenpartie bekommt der von Erlösung sprechende Text eine liebreizende Eindringlichkeit.

6. Choral

Eine Stimme läßt sich hören
in der Wüsten weit und breit,
alle Menschen zu bekehren:
Macht dem Herrn den Weg bereit,
machet Gott ein ebne Bahn,
alle Welt soll heben an,
alle Täler zu erhöhen,
daß die Berge niedrig stehen.

6. Choral
Die dritte Strophe des Liedes «Tröstet, tröstet meine Lieben» von Johann Olearius zitiert aus der Epistellesung die Stimme des Rufers, dem kommenden Herrn den Weg zu bahnen (Jesaja 40, 3–5). Die Einfügung eines Choralsatzes verstärkt die christliche Neuausrichtung der Kantate.

Zweiter Teil

7. Rezitativ (Bass)

So bist du denn, mein Heil, bedacht,
den Bund, den du gemacht
mit unsern Vätern, treu zu halten
und in Genaden über uns zu walten;
drum will ich mich
mit allem Fleiß
dahin bestreben,
dir, treuer Gott, auf dein Geheiß
in Heiligkeit und Gottesfurcht zu leben. p>

Zweiter Teil

7. Rezitativ
Die Worte vom Bund, den Gott mit den Vätern geschlossen und treu gehalten hat, sind Zitate aus dem Lobgesang des Zacharias (Lukas 1, 67–79).

8. Arie (Bass)

Ich will nun hassen
und alles lassen,
was dir, mein Gott, zuwider ist.
Ich will dich nicht betrüben,
hingegen herzlich lieben,
weil du mir so genädig bist.

8. Arie
Die Arie antwortet auf die Predigt des Johannes, der zur Busse aufgerufen und eine Taufe zur Vergebung der Sünden verkündigt hatte. Die Kombination aus Bass und Oboe d’amore illustriert die im Text angelegte Spannung zwischen energischer Weltabwendung und göttlicher Liebe.

9. Rezitativ (Sopran)

Und ob wohl sonst der Unbestand
den schwachen Menschen ist verwandt,
so sei hiermit doch zugesagt:
So oft die Morgenröte tagt,
so lang ein Tag den andern folgen läßt,
so lange will ich steif und fest,
mein Gott, durch deinen Geist
dir ganz und gar zu Ehren leben.
Dich soll sowohl mein Herz als Mund
nach dem mit dir gemachten Bund
mit wohlverdientem Lob erheben.

9. Rezitativ
Der Mensch ist in Bezug auf seine Vorsätze «unbeständig». Aber im Vertrauen auf Gottes Hilfe wagt er das Versprechen, ihm zur Ehre leben zu wollen.

10. Arie (Sopran)

Eilt, ihr Stunden, kommt herbei,
bringt mich bald in jene Auen!
Ich will mit der heilgen Schar
meinem Gott ein’ Dankaltar
in den Hütten Kedar bauen,
bis ich ewig dankbar sei.

10. Arie
Diese Arie zeichnet das irdische Leben als Dasein in der Fremde, voller Sehnsucht nach den «Auen» des ewigen Lebens. Sie erinnert an den Dichter des 120. Psalms, der als Fremdling bei den «Zelten Kedars», einem kriegerischen Nomadenstamm, wohnen musste und sich sehnte nach Ruhe und Frieden. Wenn «jene Auen» erreicht sind, wird auch in «Kedar» Friede sein und ein Dankaltar für Gott errichtet werden. Die in der Kantate lange aufgesparte Sopranpartie und die Unisonoführung der Violinen illustrieren die sehnsüchtige Stimmung des Textes.

11. Rezitativ (Tenor)

Geduld, der angenehme Tag
kann nicht mehr weit und lange sein,
da du von aller Plag
der Unvollkommenheit der Erden,
die dich, mein Herz, gefangen hält,
vollkommen wirst befreiet werden.
Der Wunsch trifft endlich ein,
da du mit den erlösten Seelen
in der Vollkommenheit
von diesem Tod des Leibes bist befreit,
da wird dich keine Not mehr quälen.

11. Rezitativ
Noch ist Geduld angesagt. Aber der Tag der Befreiung von aller irdischen Unvollkommenheit kann «nicht mehr weit» sein.

12. Chor

freue dich in Sions Auen!
Deiner Freude Herrlichkeit,
deiner Selbstzufriedenheit
wird die Zeit kein Ende schauen.
Freue dich, geheilgte Schar,
freue dich in Sions Auen!
Deiner Freude Herrlichkeit,
deiner Selbstzufriedenheit
wird die Zeit kein Ende schauen.

Reflexion

Rolf Soiron

Von Wiederau nach Omega

Die Kantate «Freue Dich, erlöste Schar» und die Umstände ihrer Entstehung provozieren die Frage, ob das, was damals die Welt im Innersten zusammenhielt, dies noch tut und ob wir dies nicht brauchen würden, damit all das, was wir tun, seinen Sinn bekommt.

Das Kirchenfest Johanni, der Geburtstag Johannes’ des Täufers, genau sechs Monate vor Weihnachten, hatte einst in Jahreskreis und Brauchtum eine viel höhere Bedeutung, auch in Leipzig. Die Gemeinde hat darum an diesem Tag im Jahre 1738 gut hingehört, was ihr der Kantor im Gottesdienst vorgetragen hat. Dabei hat es sie offensichtlich nicht gestört, dass er die festliche Musik diesmal nicht neu erfunden, sondern kurz zuvor schon einmal verwendet hatte, allerdings an einem ganz andern Anlass. Und auch die Kirchenoberen, die gelegentlich kleinlich sein konnten, haben kein Wort verloren, dass jene erste Fassung nicht zur Ehre eines Verwandten Jesu und hohen Heiligen, sondern eines Manns des Dresdner Hofs erklungen war, wo es zwar nicht ganz so sündig zuging wie weiland bei Herodes, aber eben auch nicht wie in einer Sonntagsschule. Jetzt, an Johanni, erklangen in der Kirche Freudentöne über die von Johannes gepredigten neuen Wege; damals, bei der Einweihung des nahen Herrensitzes Wiederau, hatte die Musik einem Zeitgenossen Reverenz erwiesen, der ganz anderes verkörperte. Von Johann Christian Graf von Hennicke wusste man nämlich wohl, dass er weder das Umdenken noch die Busse praktizierte, wie Johannes der Täufer es forderte und sich auch nicht wie dieser in Kamelhaar kleidete oder von Heuschrecken ernährte. Geist und Charakter sprach man dem Mann der Macht und des Erfolgs nicht zu, dafür die Energie, sich durchzusetzen, Schlauheit, Gewissenlosigkeit, Eitelkeit und Gier. Aus bescheidenen Verhältnissen hatte er es – manchmal auf krummen Wegen und mit Diensten, über die man schwieg – zu Reichtum, Adel und soeben zu seinem ersten Ministeramt gebracht. Diesen Mann, dessen Welt und dessen Stellung hatte Bachs Musik im Park von Wiederau besungen. Jetzt, wenige Monate später, am Fest des Täufers, sangen in der Kantate «Freue dich, erlöste Schar» (BWV 30) die gleichen Harmonien von geistlichem Erfolg und Lohn, vom Geradewerden der krummen Wege, riefen «verirrte Schafe» aus ihrem «Sündenschlafe» und versprachen «zu hassen und alles zu lassen, was dir, mein Gott, zuwider ist». Welch’ ein Gegensatz! Aber eben: Niemand störte sich daran.
Das ist fast drei Jahrhunderte her. Hennicke ist längst vergessen. Aber es fällt auf, wie ähnlich sein Ruf dem vieler Grosser der Wirtschaft unserer Tage ist, verdient oder unverdient. Auch von ihnen sagt man, dass sie sich durchzusetzen wüssten, dass sie smart seien und professionell. Aber wieder und wieder kommen auch jene andern Attribute hoch: Geist-, Gewissen- und Charakterlosigkeit, nur auf den eigenen Erfolg bedachte Eigensucht, Gier, kurze, statt weite Sicht. Verantwortliches Interesse jenseits von Konten und Börsenkursen wird ihnen kaum zugebilligt. Dieses Bild unserer Wirtschaftsmächtigen sitzt tief, so tief, dass es die Empörung erklären mag, die dem Chef des Hauses Goldmann Sachs entgegenschlug, als er fast beiläufig, aber öffentlich bemerkte, er tue in seinem Beruf eigentlich nur «Gottes Werk». Welcher Aufschrei ging da um die Welt! Dass sich nun ausgerechnet ein Tempeldiener Mammons zum Arbeiter im Weinberg Gottes machte – das durfte doch nicht sein. Tatsächlich war Lloyd Blankfeins Formulierung kurz nach der Krise nicht allzu klug. Aber vielleicht wollte er damit ja nur sagen, auch das Finanzsystem sei Teil eines grossen Ganzen und er selber spiele darin einfach die ihm bestimmte Rolle. So abwegig war dieser Gedanke nicht – aber man wollte ihn nicht hören!
Was wäre geschehen, hätte Bach zu seiner Zeit gesagt, er tue als Musiker nur Gottes Werk? Niemand hätte sich aufgeregt! Nicht einmal dann, wenn die Kirchenmusik für den Wegbereiter Christi zuerst – bezahlt! – für einen skrupellosen Mann der Macht verwendet worden war, und auch dann nicht, wenn – wie alle wussten – der fromme Musikus von St.Thomas gerne mit Mächtigen und Höfen verkehrte, Titelehren schätzte und immer schaute, dass die Kasse stimmte. Wenn er Soli Deo Gloria über seine Partituren setzte, provozierte das niemanden – ihm nahm man es eben ab, Gottes Werk zu tun. Denn explizit und implizit wussten die Menschen um seine Weltsicht, in der Gott den Kosmos nicht nur geschaffen, sondern vollkommen geschaffen hatte. So war das All harmonisch und daraus stammten die musikalischen Harmonien. Sich in diesen Zusammenhang zwischen Kosmos und Musik hineinzudenken, war der Beruf des Musikers, so wie man das in der «Correspondierenden Societät der musicalischen Wissenschaften» tat, wo Bach Mitglied war. Musik, die aus Gottes Harmonien kam, führte notwendigerweise auch zu ihm zurück. Gottes Harmonie-Gesetze zu durchdringen, um immer bessere Musik zu schaffen, geistliche und weltliche, war Bachs Beruf, Berufung – und Gottes Werk!
So dachte nicht nur Bach. Für viele war damals Wissenschaft der Fingerzeig auf Gott und sein Wirken, oder mehr: die Metapher für Gott als Alpha und Omega. Leibniz war tot, doch das Gedankengebäude dieses grossen Sohns der Stadt stand fest: Das immer tiefere Studium von Natur, Welt und All führte zur immer tieferen Einsicht in die Grundgedanken Gottes. In Leipzig wurde auch Newton eifrig gelesen und gelehrt, und auch er hatte immer insistiert, seine physikalischen und mathematischen Prinzipien zeichneten letztlich nur die Konstruktionsideen des Schöpfers der Weltmechanik nach. Andere in anderen Bereichen dachten und wirkten ebenso. Das formte einen Zeitgeist mit einem Fixpunkt, der Forschen, Schaffen, Wirken zu Teilen eines gottwollten Ganzen machten – und den je eigenen Beitrag darin zu Gottes Werk!
Dem ist nicht mehr so. Wir sind tief in Natur, Geschichte, Welt und All eingedrungen, tiefer als Leibniz, Newton und die anderen träumen konnten. Aber unterwegs haben wir den verloren, der alles begründete und auf den alles wies. Der Mensch hat sich emanzipiert und an Stelle dessen, der einst alles zusammenhielt, die Welt und das All in seine eigenen Hände genommen. Was einst Eins war, hat sich dabei in an und in sich logische, aber parallele und unverbundene Rationalität aufgelöst. Die alten Fragen, woher das Ganze kommt, was die Welt im Innersten zusammenhält, was das Letzte und das Höchste ist, sind zu schwer geworden oder werden – weil irrational oder nicht mehr zeitgemäss – immer weniger gestellt und was wir tun, hat damit die Chance verloren, Teil von Gottes Werk zu sein.
Das gilt auch und besonders für das, was wir wirtschaftlich tun und denken. Das Bild der Unsichtbaren Hand, welche die Märkte lenkt, erinnerte wenigstens noch daran, dass das einmal einer tat. Heute kommt Gott oder ein Letztes, Höchstes im Wirtschaftsdiskurs schlicht nicht mehr vor. Jenseits von dem, was fassbar und sichtbar ist, scheint Wirtschaft keinen Urgrund und keinen Zielpunkt mehr zu brauchen. Wem dies fehlt, der ist frei, es privat zu finden – aber nur privat. Ausgeblendet wird dabei, dass der Homo sapiens in Jahrtausenden nicht durch einen, sondern zwei Erfahrungsstränge geprägt worden ist. Auf der einen Seite war es das tagtägliche Bemühen, das Lebensnotwendige zu beschaffen. Daneben gab es aber auch immer die Suche nach Erklärungen, was in der longue durée und jenseits unserer kurzen Horizonte den Welt- und Lebenslauf regierte. Dieser Strang ist abgebrochen, während wir den ökonomischen mehr denn je verfolgen. Aber er ist sicher keine Metapher mehr eines Wegs zu Gott.
Natürlich ist es gut und richtig, dignum et justum, dass die transzendentale Suche anspruchsvoller geworden ist. Denn natürlich genügen die Bilder des alten Mannes mit seinem weissen Bart als Inkarnation des Ganzen, und dessen was die Schöpfung soll, nicht mehr. Natürlich würden wir es uns mit neuen hohen Instanzen zu einfach machen, die statt uns die Dinge richten und bei der wir nur erbitten müssen, was uns fehlt. Götter und Götzen, die Menschen zur Geissel anderer Menschen machen, gibt es genug. Auch muss die Freiheit zu entscheiden, was einem das Höchste ist, heilig bleiben. Aber auf die Suche nach Antworten, was das Ganze soll, was unser Beitrag darin ist und was von uns erwartet wird, zu verzichten, wäre hingegen fatal. Wir wüssten nur immer besser, wie alles funktioniert, aber immer weniger, wozu. Wozu das führt, hat Vaclav Havel gesehen: Die Krisen unserer Zeit hätten ihre wahren Wurzeln im modernen Verlust aller metaphysischen Gewissheit! Dem fügte Peter Bichsel einen seiner einprägsamen Sätze bei: «Wir brauchen Gott, damit alles, was ist, nicht alles ist.»
Das hat auch Wirtschaftsdenker umgetrieben. Einer davon war Keynes. Als man von ihm, dem Ökonomen, Rezepte verlangte, um aus der Grossen Krise herauszukommen, mahnte er unerwartet: «The day is not far off, when the Economic Problem will take the back seat, where it belongs (…) and the arena of our heart will be re-occupied by our real problems, the problems of real life and of human relations, of creation and behaviour and religion.» Eine ähnliche Spur legte ein Ökonom ganz anderen Zuschnitts, Wilhelm Röpke, aus: «Wir haben, obwohl der Mensch vor allem ein homo religiosus ist, den immer verzweifelter werdenden Versuch gemacht, ohne Gott auszukommen und den Menschen, seine Wissenschaft, seine Kunst, seine Technik und seinen Staat in ihrer Gottferne, ja Gottlosigkeit, selbstherrlich an seine Stelle zu setzen». Wie Johannes der Täufer plädierte Röpke dafür, umzudenken: Dem «Wozu» des Wirtschaftens sei eine ebenso hohe Bedeutung zu geben wie dem allgegenwärtigen «Wie».
Es geht nicht um frömmelndes Senken der Augen vor anstehenden Fragen, nicht um neue Bilder auf Altären oder neue Katechismen. Es geht nicht um larmoyantes Bekennertum. Es geht um interessierte Teilnahme der Denker und Lenker an der Suche nach Antworten, was unser Beitrag an die Dauer und ans Ganze ist, woher es kommt und wohin es geht. Im Zentrum sollte die Suche nach dem Punkt Omega stehen, wie Teilhard de Chardin den Fixpunkt nannte, auf den hin alles steuert. Wirtschaft ist unerlässlich. Sie gestaltet das Lebensnotwendige. Aber wer gestaltet, der braucht Orientierung – einen Punkt, Omega eben, oder wie immer wir es auch nennen wollen. Dies können Geld, Zahlen, Indizes allein nicht sein und darum täte Ökonomie und Ökonomik die Wiedereinbettung in philosophisches Nachdenken gut. Natürlich löst dies die unzähligen kleinen, grösseren und grossen Aufgaben nicht, die in Unternehmungen, Ländern, in der Welt auf uns warten. Das gibt die Suche nach Omega nicht her. Doch sie zeigt Richtungen, über den Tag hinaus, jenseits von Angebot und Nachfrage, und macht, was Wirtschaft tut und soll, lesbarer als es derzeit ist. Hennicke, Blankfein und wir alle würden als verantwortungsvolle Verwalter der uns anvertrauten Talente wahrgenommen und akzeptiert – und unsere Arbeit als Gottes Werk. Wie der Eingangschor der Kantate singt, schüfe unser tägliches Bemühen tatsächlich so «einen rechten festen Grund», uns «mit Wohl zu überschütten».
Damit sind wir zurück bei Bach und seiner Musik. Sie braucht all diese vielen Worte nicht, um Gottes Werk zu sein, ob sie nun für den Täufer erklingt, für seinen weniger heiligen Namensvetter, den Grafen Johannes Hennicke, oder für uns heute. Unsere Ohren hören es, unser Gemüt erlebt es, und unsere Seelen werden davon berührt.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

Unterstützen Sie uns

Unterstützen Sie das Projekt Bachipedia als Spender – für die Verbreitung des Bach´schen Vokalwerks weltweit, um das Werk insbesondere der Jugend zugänglich zu machen. Vielen Dank!

JSB Newsletter

folgen sie uns auf: