Bachs Trauerode BWV 198 als Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens in Leipzig: Hintergründe und Facetten einer protestantischen Fürstinnen-Passion

Während Aufführungen der Kantaten und Passionen Johann Sebastian Bachs heute in der musikalischen Öffentlichkeit und im Feuilleton vielfach besprochen werden, wissen wir über die Wirkung und Wahrnehmung der Bachschen Musik bei seinen Zeitgenossen nur sehr wenig. Kaum eine einzige Quelle berichtet über die wöchentlichen Darbietungen unter (und in späteren Jahren wohl öfter auch ohne) Bachs Leitung, was bis heute Fragen zur Qualität und aufführungspraktischen Gestalt dieser Kirchenmusiken aufwirft und uns weitgehend im Dunkeln darüber läßt, wie die Hörer der Leipziger Hauptkirchen Bachs Musik aufnahmen und ob sie überhaupt den Unterschied zu den zugänglicheren Kirchenkompositionen eines Telemann oder Stölzel bemerkten, die Bach im Laufe seiner 27jährigen Dienstzeit ebenfalls häufig darbot. Daß diese weitgehende Nichtbeachtung seiner kreativen Leistungen ihren Teil zu der ab etwa 1730 manifesten Frustration Bachs in seiner Leipziger Stellung beitrug, läßt sich – anders als die von Michael Maul nachgewiesene Verschlechterung seiner schulischen Arbeitsbedingungen – nicht beweisen, jedoch mit Grund vermuten.

Bei mindestens einer Gelegenheit konnte Bach jedoch einen erheblichen Erfolg in der Leipziger Öffentlichkeit verbuchen, der sogar in überregional verbreiteten Periodika Verbreitung fand. Ursache war der Tod der sächsischen Kurfürstin und polnischen Königin Christiane Eberhardine am 4. September 1727. Aus dem Hause Brandenburg-Bayreuth gebürtig, lebte sie seit Jahrzehnten getrennt von ihrem Gatten, dem ob seiner amourösen Eskapaden in ganz Europa berüchtigten Friedrich August I. (der Starke), auf Schloß Pretzsch an der Elbe. Ihre im Trauerkult gipfelnde Verehrung in Sachsen gründete jedoch vor allem auf der Tatsache, daß sie im Gegensatz zu ihrem Mann und ihrem Sohn nicht der polnischen Krone oder der engen Verbindung zum habsburgischen Kaiserhaus wegen zum Katholizismus übertrat, sondern standhaft am lutherischen Glauben festhielt. Im Stammland der Reformation wurde sie damit zum „Fürbild“ einer guten Landesmutter und zur bewunderten „Glaubenspflegerin“.

Was in Predigten und Kantatenlibretti sonst nur verdeckt gesagt werden konnte und sich allenfalls im Absingen reformatorischer Lieder oder im kämpferischen Duktus von Bachkantaten wie „Erhalt uns Herr bei Deinem Wort“ (BWV 126) oder „Ein feste Burg“ (BWV 80) Bahn brach, ließ sich im Modus der Trauer um einen verstorbene Königin nun ohne Rücksicht auf die verhaßte katholische Hofkamarilla risikolos ausleben. Daß es gerade in Leipzig mit seiner von der lutherischen Orthodoxie geprägten Universität am 17. Oktober 1727 zu einer großangelegten Gedächtnisfeier kam, verwundert vor diesem Hintergrund nicht.

Bereits kurz nach dem Tod der Königin bemühte sich der dem Hochadel angehörende Student Hans Carl von Kirchbach bei Kurfürst, Stadt und Universität um die Genehmigung einer solennen Gedächtnisveranstaltung, die seiner eigenen Trauerrede eine würdige Umrahmung bieten sollte. Als Textdichter dafür gewann er niemand anderen als Johann Christoph Gottsched, jenen später berühmten Professor für Poetik, Logik und Metaphysik, der gerade erst begonnen hatte, in Leipzig sein großes Projekt einer zeitgemäßen Reinigung und aufklärerischen Entschlackung der deutschen Sprache und Dramenkunst zu realisieren, wofür er u.a. seine „Deutsche Gesellschaft“ gegründet hatte, in die auch von Kirchbach mit einem Vortrag über den Zusammenhang von Poesie und Gelehrsamkeit eingetreten war. Von Kirchbachs Versuch, mit Bach auch den führenden Musiker der Stadt für die Vertonung zu gewinnen, traf jedoch auf zähen Widerstand, der mit den verwickelten Rechtsverhältnissen rund um die universitäre Kirchenmusik zusammenhing. War der Thomaskantor doch nur für den viermal jährlich zu den kirchlichen Hochfesten stattfindenden „Alten Gottesdienst“ und das gelegentliche Motettensingen in den Quartalsorationen zuständig, während der 1710 eingesetzte wöchentliche „Neue Gottesdienst“ in den Verantwortunsgbereich des Organisten der Nikolaikirche, Johann Gottlieb Görner, fiel, der sein einträgliches Privileg mit Geschick und Ausdauer verteidigte. Görner ließ sich dann letztendlich seinen Widerstand so teuer abkaufen, daß von Kirchbach de facto zwei Musiken hätte bestellen können. Der erzürnte Bach weigerte sich im letzten Moment allerdings, einen Revers zu unterzeichnen, der den mit 12 Reichtalern fürstlich honorierten Kompositionsauftrag als einmalige Ausnahme gekennzeichnet hätte.

Unter welchem Zeitdruck alle Beteiligten und nicht zuletzt Bach als Komponist standen, machen die zahlreichen Korrekturen und notierten Vorausskizzen des Partiturautographs der Trauerode mehr als deutlich. Welchen Ansporn es für Bach bedeutete, sich in der in Trauer-Schwarz dekorierten Paulinerkirche vor „Fürstlichen Personen, hohen Ministres, Cavalliers und andern Fremden [die] sich dieses mahl auf der Messe befunden“ produzieren zu können, hört man der ambitionierten Partitur, deren Aufführung Bach nach Quellenberichten persönlich vom Cembalo aus leitete, allenthalben an. Selbst dem Chronisten Sicul fiel auf, daß Bach dafür mit „Clave di cembalo, Orgel, Violes di Gamba, Lauten, Violinen, Fleutes douces und Fleutes traversae“ eine besonders reichhaltige und zum Traueranlaß auch emblematisch stimmige Besetzung mobilisiert hatte. Siculs Hinweis, daß Bachs Trauermusik „nach Italiänischer Art componiret“ worden sei, verweist jedoch auf die tiefgreifende Umarbeitung, der der Tonsetzer seine Vorlage (wohl eher zum Mißvergnügen ihres Dichters) unterzog. Verwandelte Bach doch die neun achtzeiligen Odenstrophen Gottscheds, die in der Tradition des 17. Jahrhunderts höchstens in Form einer Arie mit Ritornell-Zwischenspielen hätten umgesetzt werden können, in eine seinen Kantaten und Passionen entsprechende Mischform aus Chorsätzen, Arien und Rezitativen. Zudem nahm Bach – eventuell mit Hilfe eines sprachgewandten Helfers wie des beflissenen Picander – auch zahlreiche kleine Umstellungen und Textanpassungen vor. Daß der Komponist auf jeden der 10 Sätze seiner Trauermusik besondere Mühe verwandte, kann man an der feinsinnigen Instrumentierung und musikalischen Ausarbeitung gerade der Rezitative erkennen, die ganz überwiegend als Accompagnato mit sorgsam ausgesuchten Begleitinstrumenten gestaltet sind. Wie in den Arien dienen spezifische Klangfarben der Lauten, Gamben und Flöten der Illustration der Vergänglichkeit, während der noble Ton des Eingangs- und Schlußchores den höfischen Rang der Verstorbenen betont und die am Ende des ersten Teils stehende Chorfuge den für alle Zeiten musterhaften und damit nachahmenswerten Charakter dieses „Fürbildes aller Frauen“ hervorhebt.

Daß Bachs Vertonung mit ihrer intimen und persönlichen Kompositionsweise die wuchtig-prachtvolle Repräsentation manches zeitgenössischen Herrscher-Requiems durch einen edlen Klageton ersetzt, verweist sicher nicht zufällig auf die Sphäre der Passion – sollte doch weniger der „Königin“ als vielmehr der standhaften Dulderin und „Glaubenspflegerin“ ein tröstendes Denkmal gesetzt werden. Daß dabei nicht nur der in Kirchbachs Trauerrede mit allerlei Schmeicheleien bedachte Monarch, sondern mindestens das „betrübte Meißen“, der lutherische Untertanenverband also gemeint war, verleiht der anlaßgebundenen Trauermusik einen weiteren Horizont, der in Gottscheds kühnem Wort die „ganze Europäerwelt“ umschloß. Es ist daher gewiß auch kein Zufall, daß Bach große Teile der Musik seiner Trauerode bereits 1728 in die Grabmusik „Klagt, Kinder, klagt es aller Welt“ (BWV 244a) für seinen verstorbenen Köthener Dienstherrn Leopold von Anhalt und 1731 wahrscheinlich nochmals in seine nur vom Textbuch her erhaltene Markus-Passion „Geh, Jesu, geh zu Deiner Pein“ (BWV 247) übernahm. Daß sich in den späten 1720er Jahren in Bachs Schaffen das Gedenken an fürstliche Vorbilder und das Komponieren der Markus- und Matthäus-Passion so eng berühren, sollte nicht als Ausweis eines ausufernden Parodieverfahrens abqualifiziert werden. Vielmehr zeigt sich hier im Laufe weniger Jahre eng zusammengedrängt, wie Bachs kompositorische Invention von den höchsten vorstellbaren Anlässen seiner Zeit gleichsam entzündet wurde, und was er – wo er im Gegensatz zur wöchentlichen Routine in den Stadtkirchen wirklich gefordert schien – noch immer zu leisten im Stande war. Danken wir es nicht zuletzt dem wackeren von Kirchbach, dessen vorsichtig-abgewogene Trauerrede, die wider besseres Wissen das längst zerrüttete Familienidyll des wettinischen Herrscherpaares verklärte, in der genialen Musik Bachs ein entschieden lutherisches Gegenstück fand. Was der Hochadlige und spätere sächsische Bergwerksinspektor in Worten nicht sagen konnte, läßt Bachs erzprotestantische Fürstinnen-Passion umso bewegender hörbar werden.

Dr. Anselm Hartinger (2015)

Nachtrag: Daß die konfessionellen Verwundungen der Frühen Neuzeit manchmal noch heute verdeckt nachwirken, ließ sich ausgerechnet am Beispiel der Paulinerkirche als Aufführungsstätte der Trauerode erst vor wenigen Jahren erleben. 1968 brutal vom SED-Regime zerstört, sollte die Kirche zum Universitätsjubiläum 2009 wiederaufgebaut werden, was in Leipzig zu schweren Kontroversen zwischen Befürwortern eines originalgetreuen Kirchennachbaus sowie auf eine flexibel nutzbare Universitätsaula setzenden Modernisten führte. Als sich jedoch die Katholische Kirche erbot, die Kirche als Ausweg künftig unter ihre Fittiche zu nehmen, brach an der Pleiße ein einhelliger Proteststurm los, den es so seit dem Kirchenkampf Bismarcks im 19. Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte. Die Wirkungsstätte Bachs und Mendelssohns den ultramontanen Papisten überlassen – niemals! Lieber einigte man sich auf eine hybride Kompromißform aus Aula und Gotteshaus, die weder vom Nutzungskonzept noch vom Äußeren her wirklich zu überzeugen vermag.