Es gibt auf dem CD-Markt mittlerweile unzählige Einspielungen einzelner Bach-Kantaten, und auch an Gesamtaufnahmen stehen unterdessen mindestens ein halbes Dutzend zur Verfügung. Letztere gehen in der Regel chronologisch vor, wobei sie sich von den raren Frühwerken der Mühlhäuser Zeit über Bachs Weimarer „Kantatenfrühling“ bis zu den Jahrgängen der Leipziger Meisterperiode vorarbeiten. Andere Zusammenstellungen orientieren sich am Kirchenjahr oder gewissen Besetzungsvarianten – indem sie etwa mehrere Weihnachts-, Pfingst- oder Ratswahlstücke oder aber ausschliesslich Kantaten mit obligater Trompete, mit Eingangschören im Motettenstil oder für Solobass auf eine Scheibe pressen.

Unsere CD-Edition, die begleitend zur sukzessiven Gesamtaufführung der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen erscheint, verfolgt einen anderen Weg. Wie die monatlichen Einzeldarbietungen im Appenzellerland stellt sie das liebevoll erarbeitete und aufwendig kommentierte einzelne Werk in den Mittelpunkt – was dem prominenten Status der vom Thomaskantor einstudierten HauptMusic im Weimarer Hof- oder Leipziger Stadtgottesdienst entspricht und die unhistorische Aneinanderreihung dreier Kantaten zum 1. Ostertag ebenso ausschliesst wie die Rekonstruktion des Bachschen Schaffensprozesses über den Zeitraum eines Jahres oder Monats hinweg (da Bach mit partieller Ausnahme des Choraljahrganges 1724/25 in Leipzig beständig neue Kompositionen abwechselnd mit überarbeiteten älteren Werken sowie Stücken andere Komponisten darbot, kann eine solche chronologische Konzeption im Grunde nicht funktionieren). Da die CD-Reihe ausgewählte Stationen der Trogener Gesamtaufführung dokumentiert, konnten vielmehr andere Kriterien wirksam werden, die mehr auf musikalische Aspekte denn auf systematische Überlegungen Rücksicht nehmen. Dabei gilt es, aus den über die Jahre hinweg eingespielten Kantaten eine jeweils spannungsvolle Werkfolge zu komponieren, die die Beliebigkeit vieler Konzertprogramme vermeidet, jedoch zugleich jeden Anschein einer von den Quellen nicht gedeckten zyklischen Folge umgeht. Da eine der authentischen Aufführungsrealität Bachs entsprechende Zusammenstellung mehrerer Bachkantaten insofern gar nicht möglich ist, ein „Reenactment“ ganzer Gottesdienste der Bach-Zeit inklusive aller Gebete, Lieder sowie der Predigt und Kantate jedoch den Rahmen einer CD definitiv sprengt und jenseits von Festivalprojekten kaum realistisch erscheint, konnte hinsichtlich der ausgewählten Kantaten mit einer gewissen Freiheit verfahren werden.

Dafür wurden die seit Aufführungsbeginn 2006 aufgenommenen Kantaten in drei Gruppen eingeteilt, die sich vor allem an Eigenheiten der Besetzung und Werkkonzeption orientieren. Jede CD beginnt mit einem besonders gewichtigen und repräsentativen Stück, das dem Tonträger eine prägende Grundfarbe verleiht, die sich lose am Kirchenjahr orientiert. Daher wird die jährlich gegen Ende des 1. Quartals erscheinende CD entweder mit einem an der Thematik der Passion und Busse orientierten oder einem Osterstück beginnen, während die im Herbst auf den Markt kommende Scheibe ein Advents-/Weihnachtswerk an den Beginn stellt oder zum Ende des Kirchenjahres eine Kantate aus dem Affektbereich der Vergänglichkeit und des seligen Sterben prominent platziert. Für die zu Sommerbeginn erscheinende dritte Edition empfehlen sich hingegen Kantaten zum Pfingstfest, Johannistag oder aus der Trinitatiszeit.

An zweiter Stelle stehen bei uns in der Regel kleiner besetzte und meist auch weniger bekannte Preziosen des Bachschen Kantatenschaffens, die nichtsdestotrotz häufig mit aparten Satzkonzepten und farbigen Klangmischungen aufwarten und häufig eine besonders sensible und gut durchhörbare Aneignung des Textes verraten. Typischerweise trifft dies für viele von Bachs Weimarer Kantaten zu, die es in konzertmässigen Zusammenstellungen oft schwer haben, neben den ausladenden Leipziger Werken zu bestehen. Aber auch die in Bachs Oeuvre zahlenmässig überschaubaren Solokantaten finden hier im Kontrast zu den grossen Festkompositionen einen dankbaren Platz.

An den Schluss unserer in der Regel aus drei Kantaten bestehenden Zusammenstellungen stellen wir kompakte und kraftvolle Werke, die gegenüber den Grossbesetzungen des Beginns und den Klangexperimenten der Tonträgermitte eher die erprobten Modelle vorwiegend der Leipziger Zeit vertreten. Besonders geeignet dafür sind die Choralkantaten, bei denen Bach seine Lösungsansätze im Umgang mit Liedtext und Melodie immer wieder phantasievoll abwandelte. Mit ihrer mittleren Länge und vergleichsweise standardisierten Besetzung sowie ihrem vor allem in den Ecksätzen verbindlich-populären Gestus sorgen sie für einen beschwingten Ausklang.

So, wie die St. Galler-Darbietungsserie generell den Komponisten in den Mittelpunkt stellt und die Ausführenden sich eher als neugierige und selbstbewusste Werkzeuge des Werkkonzepts denn als deutende Interpreten im romantischen Sinne verstehen, so wünschen wir uns, dass unsere Zusammenstellungen ohne hinzugefügten Narrativ weitgehend für sich selbst stehen. Daraus resultiert im besten Fall ein natürlicher Spannungsbogen, der die grossen und bekannten Kantaten ebenso wie die kleineren Schätze ins rechte Licht setzt. Dass die beigegebenen Kommentare das Augenmerk auf Besonderheiten der Bachschen Kompositionskunst und Wortvertonung lenken und dabei im Gespräch mit dem Künstlerischen Leiter Rudolf Lutz nach und nach eine facettenreiche Poetik der Bach-Aufführungspraxis heranwächst, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern bereichert das klingende Angebot um eine praxisnahe analytische Seite.

Eine Besonderheit unserer Aufnahmen sind einbezogene Alternativfassungen, die in den Quellen besetzungsmässig nicht mit letzter Sicherheit zu klärende oder aber von Bach nachweislich in mehreren Versionen realisierte Satzanlagen in ihrer Pluralität zu Gehör bringen. Auch haben wir jene Sätze oder Stimmen, die Rudolf Lutz und andere Musiker der Stiftung nach Massgabe eindeutig oder wahrscheinlich fehlender Partien oder Werkteile und mithilfe ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in der stilgetreuen Nachschöpfung barocker Muster ergänzt oder nachkomponiert haben, konsequent mit zur Diskussion gestellt. Insofern enthalten manche Tonträger auch gewisse Überraschungen, die unser klingendes Bild des Bachschen Kantatenschaffens zweifellos bereichern können.

Anselm Hartinger (2015)