Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit

BWV 106 // Trauerfestakt

Livestreaming

Das Coronavirus verunmöglichte die ordentliche Durchführung des Kantatenkonzerts von Freitag, 20. März 2020 in Speicher. Mit der nötigen Demut müssen wir abwarten, bis die Welt gesundet und es Zeit für unsere Aufführung ist. Anstelle des Konzerts gelangte unser musikalischer Leiter Rudolf Lutz als Einmann-Ensemble zum Einsatz.

Einführung zur Kantate BWV 106 am Keyboard, Orgelkonzert in Form einer Improvisation auf der Basis des «Actus Tragicus»

Das «echte» Konzert mit der Kantate «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» samt Ton- und Bildaufzeichnung verschieben wir auf die Zeit nach Corona. Sie wird kommen; aber mittlerweile wissen wir, dass nicht alles in unseren Händen liegt.

Ob man mit Albert Schweitzer für mehr Werke von der Art dieser Kantate alle anderen Bach‘schen Kirchenstücke dahingeben würde, mag offenbleiben – tatsächlich aber gehört die erst nachträglich als «Actus tragicus» bezeichnete Begräbnismusik zu Bachs berührendsten, schon in der Romantik meistgeschätzten und wohl auch stilistisch frühesten Geniestreichen. Ihre wie einem Stillleben entlehnt wirkende Trauerbesetzung aus zwei Blockflöten, Gamben und Fondamento schafft einen traumhaften Rahmen für die sensiblen Solo- und Ensembleauftritte der vier Singstimmen, die entlang der altvertrauten biblischen Sterbetexte jeden Hörer auf eine Reise bis zum Grund der eigenen Existenz mitnehmen.

Video

Hören und sehen Sie die Werkeinführung, das Konzert und die Reflexion in voller Länge.

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Bonusmaterial

Akteure

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
20.03.2020

Aufnahmeort
Stein AR (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen (Schweiz)

 

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
unbekannt (eventuell 10. August 1707 in Mühlhausen)

Textdichter
Apg. 17, 28 (Satz 2.a); Psalm 90, 12 (Satz 2.b);
Jesaja 38, 1 (Satz 2.c); Johann Leon (Satz 2.d);
Lukas 23, 43 & Martin Luther (Satz 3.b);
Adam Reusner (Satz 4)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Ob man mit Albert Schweitzer für mehr Werke von der Art dieser Kantate alle anderen Bach‘schen Kirchenstücke dahingeben würde, mag offenbleiben – tatsächlich aber gehört die erst nachträglich als «Actus tragicus» bezeichnete Begräbnismusik zu Bachs berührendsten Geniestreichen. Ihre wie einem Stillleben entlehnt wirkende Trauerbesetzung aus zwei Blockflöten, Gamben und Fondamento schafft einen traumhaften Rahmen für die sensiblen Solo- und Ensembleauftritte der vier Singstimmen, die entlang der altvertrauten biblischen Sterbetexte jeden Hörer auf eine Reise bis zum Grund der eigenen Existenz mitnehmen. Diese gehen, wie eine Bachforscherin hat zeigen können, auf eine Zusammenstellung von Bibelworten in Johann Olearius’ «Christlicher Bet-Schule» (Leipzig 1668) zurück, und dort auf den Abschnitt «Tägliche Seufzer und Gebet um ein seliges Ende». Das ist die ergreifende Thematik der ganzen Kantate: die Anerkennung unserer Sterblichkeit in der tröstlichen Zuversicht, dass Gottes Zeit «die allerbeste Zeit» ist, welche mit dem Jesuswort im Arioso und dem Schlusschor eine hoffnungsvolle, neutestamentliche Perspektive öffnet. Obwohl erst in Abschriften des späteren 18. Jahrhunderts überliefert, weist die altertümliche Reihungsform eines geistlichen Konzerts ohne die nach 1700 aufkommenden modernen Rezitative und Arien auf Bachs frühe Zeit – wobei insbesondere die klangliche Ausgestaltung nur mit Blockflöten und Gamben durchaus auch ein vom Begräbniskontext nahegelegter archaischer Besetzungstopos sein könnte. Womöglich mit einem Mühlhäuser Traueranlass 1707 verknüpft, prägte die bereits 1831 erstmals gedruckte und insbesondere im Umfeld der Familie Mendelssohn hochgeschätzte Komposition trotz ihrer für Bachs Reifestil höchst ungewöhnlichen Faktur die Rezeption des Meisters im romantischen Zeitalter stark

1. Sonatine

1. Sonatine

Bedächtig läutende Akkordwiederholungen der Gamben und des Continuo knüpfen im Molto Adagio einen Klangteppich von sanfter Ausdruckskraft, über dem die teils unisono geführten und teils echomässig nachhallenden beiden Blockflöten elegisch aussingen.

2.a Chor

Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.
«In ihm leben, weben und sind wir,»
solange er will.
In ihm sterben wir zur rechter Zeit,
wenn er will.

2.a Chor

«Meine Zeit steht in deinen Händen» (Psalm 31, 16), so kann man vermuten, hat der ganzen Kantate und diesem Chorsatz das Leitwort gegeben: «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.» Ihm angefügt ist ein Zitat aus der Areopagrede des Paulus: «In ihm leben, weben und sind wir» (Apg. 17, 28), allerdings mit dem entscheidenden und sinnverändernden Zusatz: «…solange er will», was für den Librettisten heisst: «zur rechten», d.h. «Gottes Zeit». Nach der introvertierten Sonatina beginnt der Vokalteil mit einer energischen Wechselrede von Vorsänger (Sopran), vierstimmigem Gesangstutti und Instrumenten, die bald einem geschwinden fugierten Abschnitt weicht, dessen kleinteilige Kreisfiguren das rasante Verfliegen der Zeit und damit einen Vanitas-Topos ausdrücken, bevor ein schmerzvolles Adagio assai an das allen bevorstehende Sterben erinnert.

2.b Arioso — Tenor

Ach, Herr, «lehre uns bedenken,
daß wir sterben müssen,
auf daß wir klug werden.»

2.b Arioso — Tenor

Als persönliche Aneignung schlägt die «Christliche Bet-Schule» von Olearius den bekannten und schönen Vers aus Psalm 90, 12 vor: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen…» Passend dazu entwickelt Bach eine von Seufzern durchwirkte Melodieführung, die sich erst zaghaft kräftigt: «…auf dass wir klug werden.»

2.c Arie — Bass

«Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben
und nicht lebendig bleiben!
Bestelle dein Haus!»

2.c Arie — Bass

Die Bassarie unterstreicht mit einem Satz aus Jesaja 38, 1, welche Konsequenzen fürs menschliche Leben daraus folgen sollten: «Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben! Bestelle dein Haus!» Die energische Predigt des Basses wird permanent vom unbarmherzig durchlaufenden Sekundenzeiger der Blockflöten untermalt.

2.d Chor — Sopran

Tutti
«Es ist der alte Bund:» Mensch,
«du mußt sterben!»

Sopran
«Ja, komm, Herr Jesu!»

2.d Chor; Sopran

Der Chor singt einen Vers aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach 14,18: «Es ist der alte Bund» (nach der revidierten Lutherübersetzung 2017: «Es gilt der ewige Beschluss»), «Mensch, du musst sterben!» – worauf die Sopranstimme neutestamentlich mit den hoffnungsvollen Worten der Offenbarung 22, 20 antwortet: «Ja, komm, Herr Jesu!» Die mit einem schmerzhaften Halbtonintervall beginnende Chorfuge wird kontrastiert durch Seufzerfiguren der Gamben, denzeilenweisen  Choraldurchlauf der Blockflöten sowie die tapferen Sopranrufe, in deren ekstatisch-einsamem Ende gleichsam das heilbringende Bekenntnis des Sterbenden eingefangen ist.

3.a Arie — Altus

«In deine Hände befehl ich meinen Geist;
du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott.»

3.a Arie — Altus

«In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott» – in der Altusarie hören wir das Psalmenwort (Psalm 31, 6), dessen erster Teil Jesus am Kreuz die Worte für sein letztes Gebet gegeben hat (nach Lukas 23, 46). Die nach und nach aus abreissenden Vokalansätzen entwickelte Melodieführung des Altsolisten wird getragen durch eine sprechend gen Himmel weisende Continuolinie.

3.b Arioso — Bass; Choral

Bass
«Heute wirst du mit mir im Paradies sein.»

Tutti
Mit Fried und Freud ich fahr dahin
in Gottes Willen,
getrost ist mir mein Herz und Sinn,
sanft und stille,
wie Gott mir verheißen hat:
Der Tod ist mein Schlaf worden.

3.b Arioso — Bass; Choral

Die Bassstimme (Jesu) antwortet als Trost für den Gläubigen mit den Worten des Gekreuzigten zum reuigen Mitgekreuzigten: «Heute wirst du mit mir im Paradies sein» (Luk. 23, 43), worauf der Chor in das alte Lutherlied «Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Willen» einstimmt, das in der erfüllten und tröstlichen Verheissung endet: «Der Tod ist mein Schlaf worden.»

4. Choral

Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit
sei dir, Gott Vater und Sohn bereit,
dem Heilgen Geist mit Namen!
Die göttlich Kraft
macht uns sieghaft
durch Jesum Christum, amen.

4. Choral

Abgeschlossen wird die Kantate mit der 7. Strophe von Adam Reusners Lied «Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit» (1533): «In dich hab ich gehoffet, Herr», einer Doxologie und dem Satz «Die göttlich Kraft / macht uns sieghaft / durch Jesum Christum, Amen». Der blockhafte Satzbeginn weicht dabei einer konzertanten Doppelfuge, in deren vertrauender Energie aller Schmerz bewältigt scheint. Den letzten Akzent setzen auch hier wie in den meisten Sätzen die nachhallenden Instrumente, die einem tröstlichen Loslassen wortlos das Wort reden.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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