Ach, lieben Christen, seid getrost

BWV 114 // zum 17. Sonntag nach Trinitatis

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Flöte, Corno, Streicher und Basso continuo

In der am 1. Oktober 1724 erstaufgeführten Choralkantate «Ach, lieben Christen, seid getrost» erweist sich das Kirchenlied als echtes Gegenstück zum hochbarocken Libretto und zugleich als Ankerpunkt der inneren Entwicklung. Neben einen resoluten Eingangschor voll konzertantem Schwung sowie einen kompakten Choralschluss tritt im Zentrum der Kantate ein zerbrechlich zartes Gebilde aus pausendurchwirktem Continuo und schlichtem Liedvortrag, das die nur mit viel Glück und Bereitschaft aufgehende Saat des göttlichen Wortes verkörpert und so die elegische Ratlosigkeit der Tenorarie «Wo wird in diesem Jammertal» von der vertrauenden Bejahung des eigenen Sterbens in der Altarie «Du machst, o Tod, mir nun nicht ferner bange» scheidet. Bussfertige Unterwerfung unter den Willen des Höchsten und liebevoller Zuspruch angesichts der menschlichen Endlichkeit erweisen sich als zentrale Themen dieses kompositorischen Meisterwerkes.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 114

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
David Erler

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Wolf Matthias Friedrich

Chor

Sopran
Linda Loosli, Julia Schiwowa, Simone Schwark, Susanne Seitter, Mirjam Wernli-Berli

Alt
Antonia Frey, Dina König, Simon Savoy, Lea Scherer, Sarah Widmer

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Tobias Mäthger, Nicolas Savoy

Bass
Fabrice Hayoz, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Oliver Rudin, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann

Violoncello
Martin Zeller, Daniel Rosin

Violone
Guisella Massa

Traversflöte
Marc Hantaï

Oboe
Philipp Wagner, Ingo Müller

Corno
Olivier Picon

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Dirk Börner

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Niklaus Peter Barth, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Dagmar Fenner

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.09.2018

Aufnahmeort
Speicher AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Kirchenlieddichter Johann(es) Gigas (1514–1581)

Erste Aufführung
17. Sonntag nach Trinitatis,
1. Oktober 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Grundlage der Choralkantate BWV 114 ist das auf die Melodie von «Wo Gott der Herr nicht bei uns hält» gesungene Lied von Johannes Gigas (1561). Die relative Vielzahl von Abschriften des frühen 19. Jahrhunderts einschliesslich solcher aus dem Besitz und Umfeld Mendelssohns belegt den ausgeprägten Choralfokus der Bachrezeption dieser Epoche.

Die Ecktöne des g-Moll-Dreiklangs bestimmen die Motivik des Eingangschors, die damit zugleich von der Liedsubstanz geprägt ist. Die zunächst in der Continuostimme angesiedelten daktylischen Kurzfiguren sowie die fiebrigen Repetitionen der Oboen und Streicher tragen ein concertoartiges Moment in die Musik, die durch schroff herausgemeisselte Viertelschläge zunehmend mit endzeitlichem Ernst aufgeladen wird. Dem Normtyp des Choraljahrgangs entsprechend wird der Cantus firmus gedehnt im Sopran vorgetragen, während die Unterstimmen ihn in teils akkordisch kompakter, teils imitierend aufgebrochener Weise begleiten. Auffällig sind die kühn modulierenden Zwischenspiele und Zeilenschlüsse.

In der Tenorarie wird die kollektive Strafpredigt zur subjektiven Reflexion, die aufgrund ihres elegischen Charakters kaum besser als mit der Traversflöte besetzt sein könnte. Bach nimmt sich hier alle Zeit der Welt, um eben diese Zeit aufzuheben – hingehauchte kreisende Gesten und verquer wirkende lombardische Ketten beschreiben ein vergängliches «Jammertal», durch das angesichts eines kaum vorhandenen und dezidiert mit pianissimo bezeichneten Continuo aus dürftigen Stütztönen und Staccatoachteln kaum Wege führen. Wenn sich dann im Vivace-Mittelteil Tenor und Flöte entschlossen «Jesu Vaterhänden » unterstellen, wird für einen Moment alles leicht und beschwingt. Die weiten Sprünge und abgerissenen Motive auf «weder aus noch ein» rufen jedoch die Folie an Ratlosigkeit in Erinnerung, die hinter diesem fragilen Glück lauert und in der Wiederholung des A- Teils bedrückende Eindringlichkeit entfaltet.

Das Bassrezitativ gibt sich als veritable Predigt in Tönen, die alles enthält, was die «lieben Christen» als Lebenskompass benötigten. Beginnend mit der brüderlichen Ermahnung «O Sünder, trage mit Geduld», die Bach in eine weiträumig absteigende Geste voller tonaler Eintrübungen fasst, findet der Satz lebenspralle Bilder für die menschliche Fehlbarkeit: von der «Sündenwassersucht», die die Menschen ihr eigenes Verderben trinken lässt, über den Hochmut, Gott durch den Genuss der verbotenen Frucht gleich zu werden, bis hin zur eitlen Selbsterhebung «schwülstiger Gebärden ». Dass derlei Übertretung notwendig eine «Erniedrigung» nach sich zieht, macht Bach in einer ariosen Passage plausibel, in der sich der Singbass unter die Continuostimme beugen muss, ehe eine auffällig schöne Kadenz diese Demut als Rückkehr zur gottgewollten harmonischen Ordnung erlebbar macht. Die Bereitung zum seligen Sterben wird dann zur Verheissung, die alles sündliche Verderben einer neuen Herrlichkeit weichen lässt.

Überraschend folgt darauf ein weiterer Choral, der aber in eine besondere Aura gekleidet ist. Bach lässt den Sopran die Melodie völlig schmucklos vortragen, was gewiss jene «Unschuld» verkörpert, die das Rezitativ hervorhob. Dem jedoch ist ein kantig aufsteigendes und zackig verziertes Continuomotiv gegenübergestellt, in dessen schweifender Wanderung durch die Tonarten man sowohl den leidensvollen «Gang zum Vater» als auch die kämpferische Auseinandersetzung mit den Versuchungen der Welt und dem Grauen von Tod und Sterben sehen darf. Nun erst kann sich der Alt in seiner Arie dem mit der Bannung der Todesangst verbundenen Versprechen der Freiheit hingeben. Bach entwirft dafür einen munteren Orchestersatz, der im entspannten B-Dur Züge eines Oboenkonzertes annimmt. Der neuerliche Vorausblick auf das unvermeidliche Sterben erlaubt eine gefasste Zuversicht, die in der Identifikation mit dem seligen Simeon gipfelt, den der Mittelteil als Beispiel «verklärter Reinheit» aufruft.

Das Tenorrezitativ findet demgegenüber in den Alltag zurück, indem es mit einem energischen «Indes» alle Schwärmerei beendet und dazu auffordert, nicht erst im Tod, sondern schon im Leben alles der Sorge und Liebe Gottes und seines Heilandes zu unterstellen. Dem dient die kollektive Bekräftigung im Medium der alten Liedstrophe, die in nur sieben Zeilen einen wahren Kosmos theologischer Bedeutungen von Adams Erbsünde bis zur Taufe und dem Vertrauen auf die Erlösung in Christus entfaltet. Wenn der Choral dann abschliessend vom darauf gegründeten Gotteslob spricht, so hat Bach diesem mit der Kunst und Schönheit seines Satzes eine für alle Zeit unübertroffene Form verliehen.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Ausgangspunkt und Textgrundlage für die Choralkantate «Ach, lieben Christen, seid getrost» (BWV 114, Erstaufführung 1. Oktober 1724, 17. Sonntag nach Trinitatis) ist ein Trostlied von Johannes Gigas (1514– 1581), des Luther- und Melanchthonschülers, der später als Rektor von Schulpforta und schliesslich als Pfarrer in Schlesien wirkte. Der unbekannte Textdichter der Kantate übernimmt die Strophen 1, 3 und 6 des Gigas-Chorals im Wortlaut, ergänzt sie durch je zwei Arien und Rezitative, welche das Thema der Busse und Neuorientierung vertiefen und dieses auf originelle Weise mit der für jenen Sonntag bestimmten Epistellesung Epheser 4, 1–6 und vor allem mit dem Evangelientext Lukas 14, 1–11 «Die Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat» verbinden. Da die verwendete Melodie auch dem Lied «Wo Gott der Herr nicht bei uns hält» angehört, das Bach einige Monate zuvor einer anderen Choralkantate zugrunde gelegt hatte, wies er in seiner Partitur dem Schlusschoral zunächst einen daraus stammenden «falschen» Text zu, ehe ihn sein Kopist aufmerksam korrigierte. In mindestens einer späteren Wiederaufführung der Kantate wurde der Choral Nummer 4 ausgelassen.

1. Chor

Ach, lieben Christen, seid getrost,
wie tut ihr so verzagen!
Weil uns der Herr heimsuchen tut,
laßt uns von Herzen sagen:
Die Straf wir wohl verdienet han,
solchs muß bekennen jedermann,
niemand darf sich ausschließen.

1. Chor
Die Eingangsstrophe des Gigas-Chorals beginnt mit einem tröstlichen Zuspruch an die «lieben Christen» und dem Ausruf, man solle in schweren Erfahrungen nicht verzagen. Ein Trost, der freilich formuliert wird auf dem Hintergrund eines Sündenbekenntnisses und des damit verbundenen Bewusstseins, dass man die Strafe eigentlich verdient habe. Bach komponiert dafür einen für den Jahrgang 1724/25 typischen Choralchor mit Sopran-Cantusfirmus, bewegteren Unterstimmen und konzertanter Orchestereinkleidung – eine Konstruktion, die im lastenden g-Moll und im Zusammenwirken von stechenden Tonwiederholungen und rasantem Vorwärtsstürmen zugleich den Ernst der Situation hörbar macht, wie sie der tapferen Behauptung in aller Bedrängnis Ausdruck verleiht.

2. Arie – Tenor

Wo wird in diesem Jammertale
vor meinen Geist die Zuflucht sein?
Allein zu Jesu Vaterhänden
will ich mich in der Schwachheit wenden,
sonst weiß ich weder aus noch ein.

2. Arie
Der unbekannte Librettist nimmt die Thematik des Eingangsverses auf und fasst sie in die persönliche Frage, wo es denn in diesem Jammer eine Zuflucht für den menschlichen Geist gebe? Und beantwortet sie gleich selbst: in der Geborgenheit eines väterlichen Gottes. Die fahle und flüchtige Klangfarbe einer Traversflöte, die pausendurchwirkte Motivik und die auf ein dürftiges Gerüst von Seufzern und Liegetönen reduzierte Continuobegleitung erschaffen eine Atmosphäre der Vergänglichkeit und Vereinzelung, die dem zweifelnden Fragen besondere Eindringlichkeit verleiht. Umso mehr fällt die aufwärtsgerichtete Selbstermutigung des Vivace-Mittelteils ins Gewicht, die im Rahmen der Da-capo-Form aber zunächst Episode bleibt.

3. Rezitativ – Bass

O Sünder, trage mit Geduld,
was du durch deine Schuld
dir selber zugezogen!
Das Unrecht säufst du ja
wie Wasser in dich ein,
und diese Sünden-Wassersucht
ist zum Verderben da
und wird dir tödlich sein.
Der Hochmut aß vordem von der verbotnen Frucht,
Gott gleich zu werden;
wie oft erhebst du dich mit schwülstigen Gebärden,
daß du erniedrigt werden mußt.
Wohlan, bereite deine Brust,
daß sie den Tod und Grab nicht scheut,
so kömmst du durch ein selig Sterben
aus diesem sündlichen Verderben
zur Unschuld und zur Herrlichkeit.

3. Rezitativ
Das Rezitativ vertieft mit sichtlich erhobenem Zeigefinger die Thematik und schlägt die Brücke zum Evangelientext von der Heilung des «Wassersüchtigen » (Luk. 14): Aufgrund seiner «Sünden-Wassersucht», so wird der Mensch als Sünder nun direkt angesprochen, «saufe» er doch das Unrecht «wie Wasser» in sich hinein! Er habe sich das Verderben selber zugezogen. Nur wer seine Hochmut ablege und bereit sei zur Demut, nur wer sich dabei auch seiner Sterblichkeit bewusst werde, der komme aufgrund seiner Busse und Umkehr zu neuer Unschuld und Herrlichkeit. Dieser heftige Text mit seinen prallen barocken Metaphern inspirierte einen sensiblen Rezitativkomponisten wie Bach zu einem in den gewählten Lagen und harmonischen Gesten nahezu idealen Beispiel abbildender Textausdeutung.

4. Choral – Sopran


Kein Frucht das Weizenkörnlein bringt,
es fall denn in die Erden;
so muß auch unser irdscher Leib
zu Staub und Aschen werden,
eh er kömmt zu der Herrlichkeit,
die du, Herr Christ, uns hast bereit’
durch deinen Gang zum Vater.

4. Choral
Der Choral gibt mit der dritten Strophe des Gigas-Liedes diesem Sterblichkeitsbewusstsein einen biblischen Horizont: mit dem johanneischen Gleichnis vom Weizenkorn, das zuerst sterben muss, damit neues Leben entstehen kann (Joh. 12, 24), verweist er auf Christi Sterben (seinen «Gang zum Vater») und Auferstehung (seine «Herrlichkeit»). In bewusstem Kontrast zum konzertanten Choralchor Nummer 1 sowie zum kompakten Schlusschoral setzt der Komponist hier auf die kunstvolle Einfachheit eines nur vom Continuo begleiteten Liedvortrags im Sopran. Indem Bach ein festgehaltenes arbeitsames Bassmotiv beständig durch die Tonarten führt, betont er den verwandelnden Prozesscharakter des Geschehens.

5. Arie — Alt

Du machst, o Tod, mir nun nicht ferner bange,
wenn ich durch dich die
Freiheit nur erlange,
es muß ja so einmal gestorben sein.
Mit Simeon will ich in Friede fahren,
mein Heiland will mich in der Gruft bewahren
und ruft mich einst zu sich verklärt und rein.

5. Arie
Die Alt-Arie antwortet mit dem erleichterten Ausruf, dass die Todesangst damit überwunden, eine neue Freiheit gewonnen sei, und der gelassenen Einsicht: «Es muss ja so einmal gestorben werden.» Sie erinnert an den greisen Simeon, der den Messias gesehen hat und nun getrost sterben kann (Luk. 2, 25). So stellt sich die Gewissheit ein, dass der Heiland einst auch ihn «verklärt und rein» zu sich rufen werde. Die Rückkehr zu einem vollen Orchestersatz und energischen Bewegungsgestus erzeugt im weich leuchtenden B-Dur ein Gefühl der Geborgenheit im Glauben. Bach lässt dabei Tod und Sterben eine so realistisch eingedunkelte Vertonung zuteil werden, dass die nachfolgende Verklärung als hart abgerungene Frucht eines guten Kampfes glaubhaft wird.

6. Rezitativ — Tenor

Indes bedenke deine Seele
und stelle sie dem Heiland dar;
gib deinen Leib und deine Glieder
Gott, der sie dir gegeben, wieder.
Er sorgt und wacht,
und so wird seiner Liebe Macht
im Tod und Leben offenbar.

6. Rezitativ
Für die Zeit bis dahin lautet die versöhnliche Ermahnung im zweiten Rezitativ: «Bedenke deine Seele / und stelle sie dem Heiland dar» – wer seinen Leib und seine Glieder als Geschenk weiss, in dessen Leben und Sterben werde Gott, der «sorgt und wacht», in seiner Liebe offenbar.

7. Choral


Wir wachen oder schlafen ein,
so sind wir doch des Herren;
auf Christum wir getaufet sein,
der kann dem Satan wehren.
Durch Adam auf uns kömmt der Tod,
Christus hilft uns aus aller Not.
Drum loben wir den Herren.

7. Choral
Der Schlusschoral von Gigas fasst die tröstliche Botschaft der ganzen Kantate mit den Kernbegriffen der Tauftheologie des Paulus zusammen: Im Leben wie im Sterben gehören wir zu Gott, wer auf Christus getauft ist, widersteht dem Widergöttlichen, denn wie durch Adam der Tod ins Leben kam, so ist durch Christus dessen Überwindung und neues Leben gekommen (Römer 5). Das Konzept des durch verdoppelnde Instrumente verstärkten Kantionalsatzes stellt dafür eine wirkungsvoll bekräftigende Form bereit, in deren tröstliches «Wir» die ganze Gemeinde innerlich einstimmen kann.

Reflexion

Dagmar Fenner

Der Trost durch die christliche Religion aus philosophisch-ethischer Perspektive

Als Musikerin bin ich von Bachs Musik jedes Mal erneut tief ergriffen. Es geht mir ähnlich wie vielen Zeitgenossen, die nicht mehr an den christlichen Gott glauben; wenn sie aber die Musik von Johann Sebastian Bach hören, werden sie religiös. Bach selbst war zutiefst religiös und ein gottesfürchtiger Christ. Die Musik hat in seinen Augen einen klaren Endzweck: als ein «tönendes Gleichnis der Schöpfungsordnung» Gott zu ehren.1 Gleichzeitig soll sie die Gefühle der Zuhörer ansprechen und eine «Rekreation» der Menschen in Gang setzen. Das lateinische «recreatio» meint zunächst eine «Erquickung» und «Kräftigung», in einer tieferen Bedeutung eine «Wieder-Herstellung» und «Wieder-Erschaffung»: Musik soll sämtliche seelischen Kräfte in Harmonie bringen und die Menschen in die Ordnung und Freude der Schöpfung zurückführen.2

Als Ethikerin und Religionsphilosophin lese ich jedoch den in dieser Kantate vertonten lehrhaft-dogmatischen barocken Text sehr kritisch. Wie wohl auch vielen von den hier Anwesenden ist mir die christliche Religion in ihrer institutionellen Form mit ihren hierarchischen Organisationsstrukturen und den absolut gültigen Heiligen Schriften fremd geworden. Schauen wir uns aber an, was uns der Text heute noch zum Kernthema «Trost» und «Getröstetwerden» sagen kann: Die Kantate «Ach, lieben Christen, seid getrost» richtet sich zwar ausdrücklich an Christen, die verzagt, ja verzweifelt sind. In der 1. Arie bekennt der Solist als selbst Betroffener, dass er weder ein noch aus weiss. Weil die Welt da draussen ein schreckliches Jammertal sei und er selbst so schwach und unzulänglich ist. Aber befanden sich nicht alle von uns, Christen oder Nichtchristen, schon mindestens einmal im Leben in einer vergleichbaren trostlosen emotionalen Lage?

Sicherlich werden nicht alle Menschen gleich heftig heimgesucht von Schicksalsschlägen wie Krankheiten, Trennungen von geliebten Menschen, Gewalt, Krieg oder Naturkatastrophen. Zudem treffen diese Übel nicht alle Menschen gleich stark, aufgrund grosser Unterschiede in den individuellen Dispositionen: Da gibt es die unerschütterlichen Optimisten, die noch im Untergang alles rosa sehen und von der positiven Entwicklung der Ereignisse überzeugt sind. Im Gegensatz dazu sehen die Pessimisten alles schwarz und ertrinken in Selbstmitleid, auch wo die objektive Lebenssituation durchaus Grund zur Hoffnung gäbe. Der Ausgangspunkt der Kantate ist also eine allgemeinmenschliche existentielle Grundsituation: Man ist an einem Punkt angelangt, wo man nicht mehr weiter weiss; wo man Trost braucht und sich wünschte, es käme unvermutete Hilfe von oben, eine wie aus dem Nichts kommende rettende Hand, die man ergreifen könnte. Doch wo findet man in solchen Momenten Trost?

Der Text der Kantate gibt eine klare und scheinbar alternativlose Antwort: In der christlichen Religion. Meine These ist nun: Der Kantatentext wirkt in die meisten heutigen Menschen befremdlich, weil er einem antiquierten Verständnis der christlichen Religion verhaftet bleibt. Sehen wir uns einige Irritationen im Text genauer an: Thema des ersten Teils sind Strafe und Sünde. Wörtlich singt der Chor: «Weil uns der Herr heimsuchen tut, lasst uns von Herzen sagen: Die Straf wir wohl verdienet han.» Heisst in moderne Alltagssprache übersetzt: Wenn jemand von Gott bestraft wird, hat er diese Strafe mit Sicherheit auch verdient. Diese Logik klingt aus moderner Sicht problematisch: Tatsächlich wurden beispielsweise Krankheiten in einer langen religiösen Tradition als göttliche Strafe oder als göttliche Prüfung und Erziehungsmittel betrachtet.3 Doch wohin führte es, wenn wir sämtliche natürlichen Übel wie Krankheiten oder Naturkatastrophen und sogar menschengemachte Übel wie Gewalt oder Erniedrigung als gerechte Strafe für eine persönliche Schuld deuteten? Eine Moralisierung solcher Widerfahrnisse würde konsequenterweise verbieten, den Opfern zu helfen, damit der Zweck der Reue und inneren Umkehr nicht durchkreuzt wird.

Im Rezitativ ist dann aber ausdrücklich von einer individuellen Schuld durch eine zuvor begangene Sünde die Rede. Dabei ist die Wortwahl äusserst drastisch:

«Oh Sünder, trage mit Geduld, was du durch deine Schuld dir selber zugezogen! Das Unrecht säufst du ja wie Wasser in dich ein, und diese Sündenwassersucht ist zum Verderben da und wird dir tödlich sein.» Zugegebenermassen sind die poetischen Bilder imposant: Gesprochen wird von einer «Sündenwassersucht», bei der man das Unrecht wie Wasser in sich «hineinsäuft». Was damit aber konkret gemeint sein soll, bleibt offen.

Ganz allgemein meint «Sünde» die Übertretung einer Norm. Im Rahmen der christlichen Religion geht es meist um eine Missachtung der biblischen Zehn Gebote und um «Todsünden» wie Mord, Ehebruch oder Abfall von Gott.4 Moralische Grundnormen wie «Du sollst nicht töten» oder «Du sollst nicht stehlen» sind auch heute noch Konsens, obschon wir Übertretungen nicht mehr als «Sünden» bezeichnen. Denn sie lassen sich unabhängig von einem religiösen Kontext begründen und galten schon vor der göttlichen Offenbarung als unverzichtbare Regeln des Zusammenlebens:5 Offenkundig würde es die Qualität des menschlichen Miteinanders erheblich vermindern, wenn alle in ständiger Angst vor gewaltsamen Übergriffen oder Diebstahl leben müssten.

In unserer Kantate wird allerdings keine solche konkrete Sünde benannt, bei der andere Menschen zu Schaden gekommen wären. Unter «Sünde» scheint hier vielmehr ganz allgemein der Ungehorsam gegenüber Gott gemeint zu sein, wo Menschen zu wenig Demut zeigen und sich stolz auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen. Es heisst wörtlich: «Der Hochmut ass vordem von der verbotnen Frucht, Gott gleich zu werden; wie oft erhebst du dich mit schwülstigen Gebärden, dass du erniedrigt werden musst.» Hier wird offenkundig an den Sündenfall im Paradies erinnert, als die ersten Menschen vom Baum der Erkenntnis assen und damit die Ursünde begingen. Bis heute hört man solche Argumente von Theologen häufig in ethischen Debatten, in denen z.B. über die Entwicklung neuer Technologien wie etwa die Gentechnik diskutiert wird: Der Mensch wolle «Gott gleich werden» oder «Gott spielen» – und deswegen seien diese Praktiken zu verbieten. Diese Argumente sind aber sehr schwach. Sie vermögen natürlich von vornherein all jene nicht zu überzeugen, die in säkularen Gesellschaften nicht mehr an Gott glauben. Darüber hinaus diskreditiert sich eine Religion selbst, wenn sie das Streben der Menschen nach Erkenntnis und Verbesserung der Lebensqualität generell als Selbstüberheblichkeit verdammt. Der sich in der Aufklärung zugespitzte Konflikt zwischen Glaube und Wissen, Religion und Naturwissenschaft ist zuungunsten der Religion ausgegangen. Die katholische Kirche hat ihren erbitterten Kampf gegen das heliozentrische Weltbild des Astronomen Galilei und für das geozentrische Weltbild der Bibel definitiv verloren. Selbst religiöse Fundamentalisten profitieren heute in aller Regel gern von Staubsaugern, Handys und der modernen Medizin. Es müsste also im Einzelnen argumentativ begründet werden, wieso die einen wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschen gut und andere schlecht sind.

Die restlichen Strophen erregen Anstoss, weil der Mensch hier zur jämmerlichen, sündhaften Kreatur erniedrigt wird: Der Mensch könne nur zu «Unschuld», «Freiheit» und «Herrlichkeit» gelangen, wenn er durch Gott vom irdischen Dasein erlöst und sein Leib wieder «zu Staub und Asche» werde. Ja, was ist denn das für ein Trost, den uns die christliche Religion da anbietet? Hat der Mensch nicht in der Renaissance seine Würde erlangt, indem er sich mittels seiner Vernunft gottähnlich selbst bestimmte und zum schöpferischen Mittelpunkt der Welt erhob? Die ganze auf Bildung und moralische Erziehung setzende Bewegung des Humanismus zielte auf nichts anderes ab, als ebendieses mittelalterliche Menschenbild eines erbarmungswürdigen und gänzlich auf Gottes Gnade angewiesenen Menschen zu überwinden. Wird uns da nicht ein trickreiches Angebot gemacht, wenn in barockem Pathos der Mensch als sündige Kreatur und die Welt als hoffnungsloses Jammertal vor Augen geführt werden – um uns dann die Religion als einzigen Trost und Ausweg schmackhaft zu machen? Sollen die Menschen nur vom elenden irdischen Dasein abgelenkt und auf Glückseligkeit und Herrlichkeit im Jenseits vertröstet werden, wäre Religion tatsächlich nur

«Opium des Volkes». Karl Marx ist zuzustimmen, dass die Menschen besser daran täten, die sozialen Missstände – oder etwa auch Hungersnöte oder ökologische Krisen – aktiv zu bekämpfen.6 Auch aus psychologischer Warte riet Sigmund Freud, die Energie vom Dienst an Gott und der Jenseitserwartung abzuziehen und die ganze Kraft für die Verbesserung des diesseitigen Lebens einzusetzen.7

Zur Verteidigung der christlichen Religion muss an dieser Stelle aber betont werden, dass sie sich im Zuge der europäischen Aufklärung und Säkularisierung sehr zum Positiven gewandelt hat: Nur noch fundamentalistische Strömungen sehen in der systematischen wissenschaftlichen Suche nach intersubjektiv überprüfbarem Wissen eine Konkurrenz und Bedrohung. Nur sie missverstehen biblische Erzählungen von der Entstehung der Welt oder des Menschen als Tatsachenaussagen. Nur noch selten wird von der Kanzel herab von Erbsünde und Todsünden gepredigt, um den Christen Furcht vor einem autoritären und strafenden Gott einzujagen. Psychiater und Religionssoziologen haben ausreichend dokumentiert, dass übersteigerte Schuldgefühle und ständige Sündenangst den Menschen die gesamte Lebensfreude rauben.8 Der moderne Gott ist stattdessen ein liebender, fürsorglicher und barmherziger, wie er in den letzten Strophen der Kantate ins Blickfeld rückt: Hier ist die Rede von göttlicher «Liebe», «Sorge» und

«Hilfe in der Not».9 Das Vertrauen in die göttliche Weisheit und Güte kann nachweislich zu einer psychischen Stabilisierung, einer Stärkung des Selbstwertgefühls und einem besseren Umgang mit Leid und schweren Schicksalsschlägen führen.10 Denn Christen sind überzeugt, dass alles im göttlichen Gesamtplan einen Sinn hat – auch wenn dieser ihnen selbst verborgen bleibt. Kritische Geister stellen sich dann allerdings die Theodizee-Frage, ob ein liebender, fürsorglicher Gott wirklich so viel Leid und Übel auf der Welt zulassen würde. Doch wenn eine moderne Auslegung der christlichen Religion tatsächlich Trost bieten kann – stehen dann Nichtchristen völlig trostlos da?

Nicht ganz: Bereits in der antiken Philosophie der Lebenskunst galten Besonnenheit und Gelassenheit gegenüber dem Unabänderlichen als zentrale Tugenden, die es einzuüben gilt.11 Darüber hinaus gibt es eine grosse Zahl von nützlichen rationalen Bewältigungsstrategien, um mit äusseren Widerwärtigkeiten und dem eigenen Scheitern besser zurechtzukommen. Ich erwähne hier stellvertretend die Einnahme einer kosmischen Perspektive, bei der man das Unangenehme aus Distanz und in einem grösseren Zusammenhang betrachtet, wodurch es relativiert wird. Zweifellos sind Ungläubige ohne göttlichen Beistand aber noch in viel stärkerem Mass auf die soziale Unterstützung durch Mitmenschen angewiesen, die uns in schwierigen Situationen nicht allein lassen und uns mit Rat und Tat zur Seite stehen. Trost bieten kann nicht zuletzt auch die Kunst, insbesondere die Musik als die emotionalste aller Künste, die uns entrückt in eine ganz andere Welt mit einer kosmischen Weite. Gerade Bachs Musiksprache hinterlässt mit ihrer grossen Intensität, Innigkeit und Besinnlichkeit im Zuhörer das Gefühl innerer Sammlung, der Ruhe, des Gefestigtseins und einer vollkommenen Freude. Auch ohne Glauben an göttliche Erlösung gehen wir aus diesem Konzert innerlich stärker und reicher hinaus und verspüren neue Kraft und Zuversicht, um das irdische Leben anzupacken. Ungeachtet der überholten Kantatentexte fördert Bachs zeitlose Musik eine «Recreatio» als «Wieder-Herstellung» in einem umfassenden Sinn.

Literatur

  • Boethius: Trost der Philosophie, Stuttgart 2002.
  • Fenner, Dagmar: Religionsethik, Stuttgart 2016.
  • Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a.M. 1993.
  • Kress, Hartmut: Medizinische Ethik, Stuttgart 2003.
  • Marx, Karl: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1961.
  • Hans Misdorf: Johann Sebastian Bach. Ein musikalischer Dichter zur Ehre Gottes, in: Der Weg. Die Zeitschrift für Deutschlernende, 2009.

Quellenangaben

1     Vgl. Johan Bouman: Musik zur Ehre Gottes. Die Musik als Gabe und Verkündigung des Evangeliums bei J. S. Bach, 2. Auflage, Brunnen 2000, S. 24 f. Bachs klarer Standpunkt war:«Mit aller Musik soll Gott geehrt und die Menschen erfreut werden. Wenn man Gott mit seiner Musik nicht ehrt, ist die Musik nur ein teuflischer Lärm und Krach.» (zitiert nach Hans Misdorf: Johann Sebastian Bach. Ein musikalischer Dichter zur Ehre Gottes, in: Der Weg. Die Zeitschrift für Deutschlernende, 2009.)

2     Vgl. Bouman: ebd., S. 25 f.

3     Vgl. Kress, Hartmut: Medizinische Ethik, 4.

4     Vgl. 1. Joh. 3, 4: «Wer Sünde tut, steht gegen das Gesetz; und die Sünde ist Übertretung des Gesetzes.»

5     Vgl. Fenner: Religionsethik, 75.

6     Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1961, S. 378.

7     Vgl. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a.M. 1993, S. 152.

8     Vgl. Dagmar Fenner: Religionsethik, Stuttgart 2016, S. 161.

9      Vgl. 6. Rezitativ und 3. Chor.

10     Vgl. Fenner: Religionsethik, S. 115.

11     Vgl. dazu Fenner, S. 112 und Boethius: Trost der Philosophie, Bücher 2 und 3.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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