Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott

BWV 127 // zu Estomihi

für Sopran, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto I+II, Oboe I+II, Tromba, Streicher und Basso continuo

Unüberhörbar auf die Passionszeit voraus weist die dem Choraljahrgang 1724/25 angehörige Kantate «Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott», in deren feinsinnig deutender Instrumentierung schmerzliche Kreuzestöne, schallende Gerichtsangst und kindliches Heilsvertrauen ihren je berührenden Ausdruck finden. Mit der Sopranarie «Die Seele ruht in Jesu Händen» hat Bach ihr ein Stück musikalischer Weltliteratur einkomponiert, das der glaubenden Überwindung der Todesfurcht eine gültige Stimme leiht, ohne dem Leid des Loslassens und Sterbens seinen Ernst zu nehmen.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 127

Video

Hören und sehen Sie die Werkeinführung, das Konzert und die Reflexion in voller Länge.

Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Werkeinführung
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Reflexion
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Audio

Die Tonaufnahme dieses Werks finden Sie auf allen gängigen Streaming- und Downloadplattformen.

ANHÖREN AUF

ANHÖREN AUF

ANHÖREN AUF

Akteure

Solisten

Sopran
Julia Doyle

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Peter Kooij

Chor

Sopran
Olivia Fündeling, Guro Hjemli, Jennifer Ribeiro Rudin, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Dina König, Francisca Näf, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Manuel Gerber, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Oliver Rudin, Jonathan Sells, Tobias Wicky, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Karoline Echeverri, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó

Viola
Martina Bischof, Sarah Krone, Katya Polin

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Andreas Helm, Philipp Wagner

Fagott
Dana Karmon

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs

Flauto dolce
Annina Stahlberger, Teresa Hackel

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Thomas Leininger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Daniel Bueche

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
24.02.2017

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 5
Paul Eber, 1562

Textdichter Nr. 2-4
unbekannter Bearbeiter

Erste Aufführung
Sonntag Estomihi,
11. Februar 1725

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die zum Sonntag Estomihi 1725 entstandene Kantate BWV 127 darf hinsichtlich der Dichte der motivischen Arbeit und des nahezu idealen Verhältnisses von anspielungsreicher Textdeutung und szenischer Präsenz als einer der Höhepunkte des Bach‘schen Choraljahrgangs angesehen werden. Für die Semantik der Gerichtsangst unverzichtbar, muss aufgrund des Verlustes der originalen Trombastimme über deren Mitwirkung in den Ecksätzen aufführungspraktisch entschieden werden.

Der Eingangschor baut seine komplexe Struktur aus vArieblen Bestandteilen auf, die in typisch Bach‘scher Weise zwischen den Stimmgruppen rotieren. Zu Beginn meint dies ruhende Continuotöne, die durch eine von der Semantik der Vergänglichkeit inspirierte punktierte Abwärtsfigur der Blockflöten sowie nagelnde Stiche der Oboen überwölbt werden, die auf die im Kirchenjahr bevorstehende Passion Christi hinweisen und verständlich machen, warum gerade dieser Chorsatz um 1750 Eingang in das aus Bachs Schülerkreis überlieferte Passionspasticcio «Wer ist der, so von Edom kömmt» fand. Dieser aus dem Choral abgespaltene Gedanke findet sich später auch in den Vorimitationen der vokalen Unterstimmen, während das Leiden des Heilands von Anfang an in den Streichern präsent ist, die den Choral «Christe, du Lamm Gottes» intonieren. Bachs grossartige Motivmaschinerie kulminiert im Vortrag dieses «Nebenchorals» durch die Oboen, bevor der Choreinsatz die Gewichte nochmals verschiebt. Während die durch alle Zeilen hindurch festgehaltenen Gegenstimmen teils chromatisch eingefärbt werden, wird der Sopran von einer Trompete verstärkt, die endzeitlichen Ernst verkörpert. Welche Freiheit sich Bach im Umgang mit dem Choral erlaubte, wird durch die kühne Idee verdeutlicht, nach dem vollständigen Durchlauf die letzte Zeile «Du wollst mir Sünder gnädig sein» nochmals zu wiederholen, wofür der Sopran die Cantus-firmus-Bindung aufgibt. Hier wird das alte Kirchenlied in eine persönliche Bitte verwandelt, die die Folgesätze mit ausserordentlicher Energie auflädt.

Im Tenorrezitativ wird der Gedanke des heilsamen Todesschweisses vom gekreuzigten Heiland auf den sterblichen Menschen transferiert – weil Jesus mit Geduld zu seinem Leiden geht, wird er auch diesem zuverlässig beistehen. Die schon beim Wort «Seufzer» abbildliche Musik wird bei der Erwähnung des Namens «Jesu» plötzlich sicher und zutraulich, während ein verinnerlichtes Basstremolo am Satzschluss die im Sterben zubereitete Ruhe evoziert.

Diesen Gestus greift die Sopranarie auf, deren edle Trauertöne in eine Aura des beseelten Loslassens eingebettet sind, für die sich Bach unendliche Zeit nimmt. Die Oboe überstrahlt dabei mit ihrer zugleich zarten wie lebenssatt gebrochenen Kantilene die Staccato-Tropfen der nachschlagenden Blockflöten sowie die Pizzicato-Tupfer des Continuo. Während die erneut für den Aspekt der Vergänglichkeit stehenden Blockflöten erst im Nachspiel der A-Teils freier aussingen dürfen, treten im Mittelteil die Streicher hinzu, deren Pizzicato-Läuten in äusserst präziser Weise erst dann anhebt, wenn der textliche Ruf an die «Sterbeglocken» erfolgt ist. Wie ein empathischer Seelsorger begleitet Bach seine Hörer auf jeder Station ihres Lebensganges – wo der Text konventionell über die Todesfurcht hinwegredet («Ich bin zum Sterben unerschrocken»), führt die Musik an dieser Stelle eine trugschlüssige Konfusion herbei, aus der erst eine unbegleitete Oboenfigur als Stimme des Heiligen Geistes herausführt, die zur neuen Sicherheit im Vertrauen auf die Auferstehung leitet.

Das Bassrezitativ entfaltet dann begleitet vom Orchesterpoltern und von gnadenlosen Trompetenfanfaren eine drastische Vision, die über das individuelle Sterben hinaus die Schrecken des Weltgerichts evoziert. Diese chaotischen Verläufe werden durch mit a tempo giusto überschriebene ariose Abschnitte unterbrochen, in denen von der unverbrüchlichen Zusage an die Gerechten gesprochen wird. Indem diese Vertrauensmusik motivisch wieder aus dem Choral «Herr Jesu Christ» abgeleitet ist, werden nicht nur die Sätze der Kantate gekonnt verknüpft – das für den Jahrgang konstitutive Kirchenlied wird auch als direkter Ausfluss von Gottes Wort ausgezeichnet. Diese gewaltige Scena der glaubenden Zuversicht in der Anfechtung der Endzeit macht nicht nur die Rolle Christi als versöhnender Mittler in einprägsamer Weise fassbar, sie scheint Bach auch besonders inspiriert zu haben, der hier am letzten musikalischen Sonntag vor der Figuralpause der Fastenzeit nochmals alle künstlerischen Register zog.

Dem schliesst sich der Choral als kraftvoll-hymnische Zusammenfassung an. Die tragende Sopranstimme wird durch die in der Höhe verdoppelnden Blockflöten gleichsam versilbert; mit der Wiederkehr des Liedes kommt Bach zudem auf die sensible Deutungskunst des Eingangschores zurück, wovon vor allem die schmerzliche Harmonisierung der letzten Zeile («Bis wir einschlafen seliglich») profitiert.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Als Grundlage für diese Choralkantate diente dem unbekannten Dichter ein Sterbelied von Paul Eber, das sich auch gut für die Passionszeit eignet. Ferner nimmt die Dichtung Bezug auf das Evangelium zum Sonntag Estomihi aus Lukas 18, welches berichtet von Jesus und den zwölf Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem, wo sich das Erlösungswerk vollenden wird.

1. Choral

Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott,
der du littst Marter, Angst und Spott,
für mich am Kreuz auch endlich starbst
und mir deins Vaters Huld erwarbst,
ich bitt durchs bittre Leiden dein,
du wollst mir Sünder gnädig sein.

1. Choral
Der Dichter hat wie üblich die erste Strophe des Liedes von Paul Eber wörtlich übernommen. Die letzte Zeile erinnert an die Bitte des Zöllners im Gleichnis Lukas 18, 13. Bach entwirft dafür einen Eingangs­chor, der mit seinem zeilenweisen Lieddurchlauf perfekt zum Normbild des Choraljahrgangs von 1724/25 passt, der mit seinem von den Blockflöten geprägten tragischen Vergänglichkeitston und den im Orchester versteckten Zitaten des lutherischen Agnus Dei («Christe, du Lamm Gottes») jedoch auch einen deutlichen Passionston entfaltet. Dementsprechend ist der Satz auch im Rahmen des Passions-Pasticcios «Wer ist der, so von Edom kömmt» überliefert, das nach 1750 im Umfeld von Bachs Naumburger Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol entstand, das jedoch eventuell auch auf ältere Leipziger Passionsmusiken zurückgehen könnte.

2. Rezitativ (Tenor)

Wenn alles sich zur letzten Zeit entsetzet,
und wenn ein kalter Todesschweiß
die schon erstarrten Glieder netzet,
wenn meine Zunge nichts als nur
durch Seufzer spricht
und dieses Herze bricht:
genung, daß da der Glaube weiß,
daß Jesus bei mir steht,
der mit Geduld zu seinem Leiden geht
und diesen schweren Weg auch mich geleitet
und mir die Ruhe zubereitet.

2. Rezitativ
Aus Gedanken der Choralstrophen zwei und drei ist dieses Rezitativ entstanden. Christus, «der mit Geduld zu seinem Leiden geht», wird auch den Glaubenden auf dem schweren Weg des Sterbens begleiten.

3. Arie (Sopran)

Die Seele ruht in Jesu Händen,
wenn Erde diesen Leib bedeckt.
Ach ruft mich bald, ihr Sterbeglocken,
ich bin zum Sterben unerschrocken,
weil mich mein Jesus wieder weckt.

3. Arie
Aus Zeilen der vierten Strophe ist diese Arie gedichtet. Wer sich bei Jesus geborgen weiss, ist «zum Sterben unerschrocken». Die Arie gehört zu Bachs eindrücklichsten und berührendsten Sterbemeditationen. Wäh­rend die Blockflöten über einem extrem aus­gedünnten Bass das topische Glockengeläut intonieren, beginnt die Oboe eine von abgerissenen Figuren, aufwärtsführenden Gebetsgesten und Seufzern begleitete Melodielinie, die vom Sopran übernommen und mit sanfter Unerbittlichkeit fortgeführt wird. Im Mittelteil schalten sich dann die Streicher mit einem Pizzikato-Läuten ein, das die Entschlossenheit zum Abschied von der Welt unterstreicht.

4. Rezitativ und Arie (Bass)

Wenn einstens die Posaunen schallen,
und wenn der Bau der Welt
nebst denen Himmelsfesten
zerschmettert wird zerfallen,
so denke mein, mein Gott, im besten;
wenn sich dein Knecht einst vors Gerichte stellt,
da die Gedanken sich verklagen,
so wollest du allein,
o Jesu, mein Fürsprecher sein
und meiner Seele tröstlich sagen:
Fürwahr, fürwahr, euch sage ich:
Wenn Himmel und Erde im Feuer vergehen,
so soll doch ein Gläubiger ewig bestehen.
Er wird nicht kommen ins Gericht
und den Tod ewig schmecken nicht.

Nur halte dich,
mein Kind, an mich,
nur halte dich an mich:
Ich breche mit starker und helfender Hand
des Todes gewaltig geschlossenes Band.
Fürwahr, fürwahr, euch sage ich:
Wenn Himmel und Erde im Feuer vergehen,
so soll doch ein Gläubiger ewig bestehen.

4. Rezitativ und Arie
Vor den schlichten Zeilen Ebers in der fünften Strophe, die Jesus um seine Fürsprache im Jüngsten Gericht bitten, schildert der Dichter die schallenden Posaunen und den Zerfall der Welt am Ende der Zeit. Der anschliessende Arienabschnitt ist teils wörtlich aus Ebers Strophen sechs und sieben geschöpft. Mit dieser Doppelform hat Bach eine dramatische Szene entworfen, die endzeitliche Gerichtserwartung und subjektive Heilszusage perfekt verknüpft und dabei dem von Trompetenfanfaren begleiteten Solobass eine grosse Verkündigungsbühne bereitet.

5. Choral

hilf, daß wir warten mit Geduld,
bis unser Stündlein kömmt herbei,
auch unser Glaub stets wacker sei,
dein’m Wort zu trauen festiglich,
bis wir einschlafen seliglich.

5. Choral
Die wörtlich übernommene achte Strophe von Paul Eber bildet den Schlusschoral der Kantate. In den kompakten Liedsatz hat Bach schöne sprechende Wortvertonungen eingebaut («zu trauen», «einschlafen»).

Reflexion

Daniel Büche

Grösste mögliche Sicherheit in einer maximal unsicheren Situation

Die Begleitung Sterbender im Lichte von Bachs Kantate «Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott» (BWV 127)

Zum Text der Bach-Kantate Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott (BWV 127) darf ich eine Reflexion halten. Dabei verstehe ich unter einer Reflexion das Nachdenken über die Bedingungen und Grenzen des Denkens – meines Denkens.
Ich stelle den Text der Kantate in das Licht der Sorgekultur – der Palliativversorgung – der Pflege, Begleitung und Behandlung von schwerkranken und sterbenden Menschen. Diese kann nicht ein Arzt alleine vollbringen. Dazu braucht es
ein Team. Dazu braucht es auch Mitmenschen. Denn Sterben ist menschlich.
Beim Kantatentext handelt es sich um einen ungemein konzisen, starken und unheimlich modernen Text!
Meine Reflexion gliedere ich in sechs Schritten:
I. Der Prolog – die Mysterien
II. Das Sterben
III. Der Trost
IV. Der Tod
V. Die Hoffnung
VI. Die Beziehung: der Mensch als Individual- und Sozialwesen

I. Der Prolog – die Mysterien
Die Kantate beginnt mit der grossen Aussage, die als Tatsache dargestellt wird, wie wenn sie die eine unerschütterliche Wahrheit wäre: «Herr Jesu Christ wahr’ Mensch und Gott» gleich darauf folgt: «Der du littst Marter, Angst und Spott, / für mich am Kreuz auch endlich starbst (…)» als Kurzbeschreibung des Lebens Jesu bis hin zum Kreuzestod – auch dies wiederum als Tatsache dargestellt. Dabei gehören beide Aussagen zu den grossen Geheimnissen – Mysterien – des Menschseins und präsentieren sich vorerst als Frage nach dem warum. Zuerst das Mysterium Jesu:
Warum ist Gott Mensch geworden?
Warum hat Jesus als Gott – Mensch auf der Erde gelebt und gewirkt?
Sodann das Mysterium des Menschseins:
Warum werden wir geboren?
Warum leben wir auf dieser Welt – auf der Erde?
Warum sterben wir?
Diese Fragen nach dem warum stellen sich auch bei vielen schwerkranken und sterbenden Menschen und werden an mich als Arzt herangetragen: Warum bin ich krank geworden? Warum bin ich an Krebs erkrankt? Warum gerade ich? Warum lässt Gott dieses Leiden, diese Schmerzen zu? Fragen, auf welche ich als Arzt keine Antworten habe!
Gerne würde ich diese warum-Fragen – nach dem Psychotherapeuten und Existenzanalytiker
Viktor Frankl – in wozu-Fragen umformulieren! Das wozu gewährt mehr Dynamik – mehr Kreativität – allenfalls sogar mehr Kreatürlichkeit. Es beinhaltet Lebendigkeit, Leben bis zuletzt. Das wozu hat ein Ziel wohl wissend, dass «(…) es keine Schande ist, das Ziel nicht zu erreichen.» (Viktor Frankl)

Somit können wir diese Fragen nach dem Mysterium folgendermassen umformulieren:
Wozu wollte dieser Gott-Mensch/Mensch-Gott das Leiden erleben und sterben?
Was ist, was war das für ein Mensch-Gott/Gott-Mensch, der das Leiden erleben und sterben wollte – nicht musste.
Es liegt mir fern zu behaupten, dieses Mysterium ergründet zu haben. Zwei Eigenschaften darf ich ihm aber sicher zuschreiben.
Jesus war:
frei im Geist – ein freier Geist
frei im Willen – er hat es freiwillig getan!
Aber wozu hat er es getan? Dazu sagt der Kantatentext: «(…) mir deins Vaters Huld erwarbst (…)», womit wir beim zweiten Mysterium sind, dem Menschen.
Umformuliert in die Wozu-Formulierung könnte dieses lauten:
Wozu werden wir geboren?
Wozu leben wir?
Wozu (wohin) sterben wir?
Auch für die Huld des Vaters – das Himmelsreich – das Paradies, von dem wir aber (nur wenig) nichts wissen, an das wir nur glauben können?
Ein gewaltiger Auftakt! Als Tat-Sache, dargestellt und doch grosse Geheimnisse des Menschseins beinhaltend.

II. Das Sterben
Zu beachten ist, dass sich die Worte Sterben und Streben nur durch die Vertauschung von zwei Buchstaben unterscheiden! Beides sind Verben mit Richtungsweisung, mit Dynamik.
Das Sterben wird im Kantatentext mit negativen Gefühlen – Entsetzen –, mit negativen körperlichen Zeichen – «Todesschweiss», «erstarrte Glieder» –, mit negativen Äusserungen – «Seufzern» – , und mit dem Zerbrechen des Innersten – «dieses Herze bricht» – beschrieben.
Wenn das Sterben mit diesen Attributen beschrieben und mit diesen «Tatsachen» in Verbindung gebracht wird, so müssen wir uns vor dem Sterben fürchten. Aber: es ist auch eine empirische Tatsache, dass wir Menschen das Sterben häufig fürchten. Woody Allen beschrieb seine Sicht so: «Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich möchte nur nicht dabei sein wenn er kommt.»
Viele Menschen glauben, dass man im Sterben an Schmerzen und Atemnot leiden muss oder sie haben Angst vor der Einsamkeit, der Beziehungslosigkeit, dem Desinteresse der Mitmenschen an ihnen.
Doch es gibt auch eine Antwort auf das Entsetzen des Sterbens – den Trost.

III. Der Trost
Der Trost kommt im Text der Kantate Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott nicht in Form eines Gebots: «Du sollst nicht (…)» daher, vielmehr bleibt er im Bildhaften beschreibend und strahlt dadurch eine Mächtigkeit und Kraft aus, die tragend
und bestärkend ist.
Was sind nun Elemente des Trostes, die hier beschrieben werden und die auch heute noch wirksam sind?
1. Sicherheit geben. In der Kantate wird dies mit den Worten geschildert: «Genug, dass da der Glaube weiß.»
Als Naturwissenschaftler ist mir diese Aussage schwer verdaulich. Kann der Glaube wissen? Mein Wissen, das Wissen schlechthin, ist endlich – dies muss anerkannt werden! Hinter dem Wissen ist aber nicht das Nichts, sonst könnte unser Wissen ja niemals erweitert werden. Also gibt es noch etwas, das ich nicht weiss – das könnte ich Glauben nennen. Ich weiss um die Endlichkeit meines Wissens und damit um den Glauben. Damit kann ich aber noch nicht darauf schliessen, dass der Glaube selbst weiss oder wissend ist.
Sicherheit geben ist in der Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen enorm wichtig. Eine Kurzdefinition der Vorgehensweise in der Palliativversorgung könnte ich folgendermassen formulieren: Ziel der Palliativversorgung ist, grösste mögliche Sicherheit in einer maximal unsicheren Situation zu geben.
Oder sind Sie schon einmal gestorben? – Ich denke nicht, damit sind wir alle Anfängerinnen und Anfänger im Sterben.
2. Begleiten – umsorgen, die Kantate nimmt das Bild folgendermassen auf: «(…), dass Jesus bei mir steht, (…)»
Es geht um Begleitung, nicht um Identifikation! Jesus hat sich nicht mit uns identifiziert. Auch als Arzt oder Pflegefachperson, auch als Mitmensch sollte ich mich nicht mit dem Patienten identifizieren. Begleitung ist daneben, dahinter stehen. Sie gibt Sicherheit, dass der Patient nicht umfallen kann, Schutz empfindet. Begleitung gibt Vertrauen in die Umgebung; da ist jemand, der sich um mich sorgt, der für mich sorgt. Dies wiederum mobilisiert eigene Kräfte für die Selbstsorge und stärkt damit das Selbstvertrauen. Palliativpatientinnen und -patienten brauchen vor allem zu Beginn die Sicherheit, dass sie (einen) Menschen haben, an (den) die sie sich wenden können. Wenn dieser Zugang gesichert ist, wird die Sorge kleiner und das Selbstvertrauen wächst.
Begleitung ist auch nicht Erlösung (erlöst wird man) – sie braucht auch ein Selbst-Engagement.
3. Brüderlichkeit – Vorbilder haben, in der Kantate als «(…),der mit Geduld zu seinem Leiden geht (…)» geschildert
Jesus als Leidender an seinem Leiden – als Mensch gewordener Gott. Nicht etwa, dass Jesus durch mein Leiden oder durch unser Leiden geht. Es geht hier nicht um ein Mitleiden, sondern um das eigene Leiden – auch für Jesus! Mitleiden der Helfenden, der Professionellen hilft nicht, da ich als Mitleidender nicht im Vollbesitz meiner Kräfte bin – vielmehr birgt es die Gefahr zu verbrennen, ins Burnout zu fallen. Mit Brüderlichkeit meine ich hier das Gemeinsame der Menschen. Tatsachen, die für alle gültig sind – wie z. B. das Sterben und der Tod. Durch das Vorausgehen anderer Menschen haben wir Vor-Bilder und diese können uns tröstlich sein – andere haben es auch geschafft. Jesus hat es auch geschafft.
Mit dem Wort Geduld klingt auch die zeitliche Komponente des Leidens an – es ist nicht gesagt, dass es schnell vorbei ist! Manchmal ist Aushalten – Ausharren – Watch with me – gemeinsame Wache halten, wie im Garten Gethsemane, gefragt.
Brüderlichkeit beinhaltet aber auch, mich selber ernst zu nehmen, denn anders kann ich gar kein echter Partner sein.
4. Die Richtung weisen – Lehrer und Lernender sein, was in der Kantate als «(…) und diesen schweren Weg auch mich geleitet (…)» beschrieben wird.
War die Begleitung noch ohne Richtung – ziellos, so gibt das Verb leiten, eine Richtung, ein Ziel, vor, eine Richtung und ein Ziel, die es zu verfolgen gilt. Jesus zeigt mir den Weg, geht ihn aber nicht für mich! Als Menschen können wir den Sterbenden gar nicht bis in den Tod begleiten – spätestens vor der Schwelle des Todes ist ein Haltepunkt. Erneut stellt sich die Frage des wozu, des Weges, des Ziels.
5. Das Ziel ist erstrebenswert, nämlich die Ruhe. «(…) und mir die Ruhe zubereitet», heisst es in der Kantate

IV. Der Tod
Der Tod – als unausweichliche Tatsache – wird in der Kantate beschrieben mit der Ruhe nach dem Sterben – «Die Seele ruht in Jesu Händen, (…)», beschrieben mit der Vergänglichkeit des Körpers – «(…), wenn Erde diesen Leib bedeckt (…) », ausgedrückt auch als Todessehnsucht, Todeswunsch – «(…), ach ruft mich bald, ihr Sterbeglocken, (…)», aber auch ausgedrückt in einer veränderten Emotion – «(…) ich bin zum Sterben unerschrocken, (…)» Die Angst ist also weg! Und dies vor dem Tod, im letzten Teil des Sterbens. Eine Tatsache, die wir als Palliative Care Team immer wieder erleben dürfen.
Und die Zuversicht (das wozu) ist da! «(…), weil mich mein Jesus wieder weckt», heisst es dabei als Begründung in der Kantate
Der Tod ist somit nicht mehr das Er-Schreckende, das Schreckliche. Es ist vielmehr der Weg zum Tod – das Sterben – , das uns Angst und Kummer macht. Es gibt aber eine Zuversicht, es gibt ein wozu. Dieses/das wozu ist klar (die Auferweckung durch Jesus) – das warum noch nicht.

V. Die Hoffnung
Die Hoffnung als Kraftquelle des Menschen kommt nun ins Spiel: Die Hoffnung, nicht vergessen zu werden – in der Kantate: «(…) so denke mein, mein Gott (…).» Die Hoffnung, im Besten gedacht zu werden – in der Kantate: «(…) mein Gott im besten; (…).» Die Hoffnung auf einen Fürsprecher – in der Kantate: «(…) o Jesu, mein Fürsprecher sein (…). » Die Hoffnung auf Trost – in der Kantate: «(…) und meiner Seele tröstlich sagen: (…).» Die Hoffnung, dass der Tod nicht ewig dauert – in der Kantate: «(…) und den Tod ewig schmecken nicht (…)», und nicht zuletzt die Hoffnung, dass es noch etwas nach dem Tod gibt – in der Kantate: «(…)ich breche mit starker Hand des Todes gewaltig geschlossenes Band.»
Die Hoffnung endet damit mit der Aussage, der Zuversicht, dem Glauben, dass Jesus der Schlüssel zur Endlichkeit des Todes ist!
Für mich als Mediziner beginnt das Prinzip, die Kraftquelle der Hoffnung schon viel früher – kurz vor der Diagnosestellung und adaptiert sich bis ins Sterben. Das pflegerisch-ärztliche Konzept der Hoffnung ist weiter gefasst:
… die Hoffnung das das Symptom nichts Schlimmes bedeutet – der Husten geht vorbei.
… die Hoffnung, dass der Befund keiner schweren Krankheit entspricht – der Schatten auf der Lunge ist vergänglich.
… die Hoffnung, dass die Krankheit heilbar ist – der Krebs ist operierbar.
… die Hoffnung, dass durch Therapie das Leben verlängert werden kann – eine Chemotherapie kann den Krebs stoppen.
… die Hoffnung, dass das Sterben nicht zu beschwerlich sein wird – das Team der Palliativversorgung kann Schmerzen und andere plagende Symptome lindern, und ich werde nicht alleine gelassen.
Nicht zuletzt ist da aber auch die Hoffnung im theologischen Sinn – wie bereits beschrieben. Viele Menschen hoffen, dass sie Fussabdrücke auf dieser Erde hinterlassen, dass wir uns an sie (im besten) erinnern.

VI. Die Beziehung– der Mensch als Individual- und Sozialwesen
Der Choral – dieser alte Teil der Kantate – erscheint in einem anderen Klangbild, er erscheint mir süsslicher, frömmlerischer. Spannenderweise wird nun die wir-Form verwendet. Im bisherigen Text wurde der Mensch als Individualwesen – unverkennbares, unverwechselbares, allein-stehendes, einsames Wesen beschrieben. Dieses Wesen wird nun in Beziehung gesetzt, es wird zum Sozialwesen, zum Beziehungswesen. Das ich und das du werden zum wir. Dadurch entstehen Beziehungen: die Beziehung zu mir selbst, die Beziehung zum du, die Beziehung zum Göttlichen.
Verwegen könnte ich hier auch den Schritt von: «Soll ich meines Bruders Hüter sein?» zu: «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!» postulieren. Letzteres könnte auch, etwas anders, folgendermassen gelesen werden: «Liebe Deinen Nächsten wie wenn Du es selbst wärst.» Damit stellt sich die Frage: «Wie bin ich mit dir mit dem du verbunden?» Eingedenk der Relativität von Raum und Zeit – ja sogar, dass Raum und Zeit nur künstliche, durch den Menschen erdachte und damit erschaffene Grössen sind – wäre es denkbar, dass wir Menschen nicht nur alle in Beziehung stehen, sondern allenfalls auch nur Manifestation ein und desselben Geistes – des Göttlichen sind. Was wäre, wenn wir hier auf Erden wären, um uns selbst in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen kennen und erfahren zu lernen? Was wäre, wenn ein Teil Gottes, Gottes Sohn, Jesus, der Mensch-Gott, der Gott-Mensch einst aus demselben Grund auf der Erde wandelte, um sich und die Facetten der Gottheit zu erkennen. Würde damit die Aussage: «Gott in uns und wir in Gott» nicht nochmals eine ganz reale Wirklichkeit ergeben? Würden damit Hass, Liebe, Krieg, Versöhnung, Krankheit, Sterben nicht plötzlich einen Sinn bekommen – wenn auch einen schmerzhaften Sinn, der zu und durch Leiden führt? Für den es aber auch Trost, Hoffnung und Zuversicht auf ein Ende – eine Erlösung gibt? Damit sind wir an uns lernende und erkennende Wesen, an uns als Menschen und am Vorbild von Jesus, als Gott-Mensch und Mensch-Gott.
Dies sind Gedanken eines Mediziners an der Grenze des Wissens, an der Grenze des Erfahrbaren, an der Grenze des Denkens – eine Reflexion eben.
Bei aller Reflexion; das menschliche Werden – Sein – Sterben bleibt ein Mysterium – ein warum – dem ich als Mensch, als Person, als Individuum einen Sinn – ein wozu – zu geben versuche.
Da die Menschen auch in anderen Kulturen ähnliche Gedanken haben und auch glauben, gibt es ein wir der Menschheit. In der Unsicherheit des Sterbens kann uns Trost stärken, dieser wiederum erhält seine Kraft durch den Glauben – das Wissen um den Glauben, die Hoffnung und die Liebe, ausgedrückt in der Beziehung zu mir, zum du, zum Göttlichen und damit im Gefühl des Zusammengehörens. Damit kann dem Tod der Schrecken genommen und das Sterben erträglicher gestaltet werden. Und ich weiss, dass das Sterben nicht furchtbar sein muss und trotzdem weiss ich nicht, wie ich ihm einst begegnen werde.
Über den Tod, da schweige ich.
Doch wo uns die Worte ausgehen, da soll die Musik sprechen.

Literatur
• Frankl, Viktor, «…trotzdem Ja zum Leben sagen.» Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Neuausgabe, Kösel, München 7. Auflage 2015
• Woody Allens Ausspruch lautet im Original: «I am not afraid of dying. I just don’t want to be there when it happens.

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

Unterstützen Sie uns

Unterstützen Sie das Projekt Bachipedia als Spender – für die Verbreitung des Bach´schen Vokalwerks weltweit, um das Werk insbesondere der Jugend zugänglich zu machen. Vielen Dank!

JSB Newsletter

folgen sie uns auf: