Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem

BWV 159 // zu Estomihi

für Alt, Tenor, Bass und Soprangruppe des Vokalensembles, Oboe, Fagott, Streicher und Continuo

Estomihi, der letzte mit Figuralmusik ausgestattete Sonntag vor der musikalisch kargen Passionszeit, bildet den Anlass für die Komposition der Kantate «Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem» (BWV 159). Im Zentrum des von Picander gedichteten und 1728 gedruckten Librettos steht denn auch der Vorausblick auf Jesu Opfergang und zugleich das Nachdenken über dessen Konsequenzen für den einzelnen Gläubigen und seine persönliche Nachfolge.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 159

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Nicolas Savoy

Bass
Klaus Mertens

Chor

Sopran
Mirjam Berli, Susanne Frei, Guro Hjemli, Damaris Nussbaumer

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Dorothee Mühleisen

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Claire Pottinger

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Katharina Arfken

Fagott
Xavier Alig

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Niklaus Peter

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
17.02.2012

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Christian Friedrich Henrici,
genannt Picander (1700—1764)

Erste Aufführung
Sonntag Estomihi,
27. Februar 1729

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Bereits der von Jesus (Bass) und Seele (Alt) angelegte Eingangssatz bringt diese Spannung zwischen Evangelienhandlung und kommentierender Betrachtung (Accompagnato) auch formal zum Ausdruck, wechseln sich doch arioses Christuswort und streicherbegleitete Rezitation kontinuierlich ab. Mit einer aufsteigenden Continuolinie, die aber immer wieder abreisst und in einen dissonanten Sprung mündet, hat Bach dem Zagen vor dem «harten Gang» sinnfällig Ausdruck verliehen, wobei die warnenden Einwürfe der erschrockenen Seele von eindringlichem Mitleid geprägt sind. Jesus jedoch geht seinen vorbestimmten Weg unbeirrbar voran – seine grandiose Zeige-Geste «Sehet» überwölbt himmelhoch die von den Leerstellen des Generalbasses verkörperte menschliche Schwäche. Und seine Vokallinien reissen auch nicht ab, sondern arbeiten sich unverdrossen bis zum Spitzenton es’ «hinauf».

Auch der folgende Satz ist als ungleiches Duett angelegt. Die Altstimme drückt mit barocker Drastik den festen Wunsch aus, Jesu «durch Speichel und Schmach», durch Verfolgung und Erniedrigung also, nachzufolgen, wobei Singstimme und Continuo einander mit typischen Lauffiguren imitieren. Dazu tritt als zusätzliche Ebene der Sopran mit der auf die Passion weisenden Liedstrophe «Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht», womit sich das Duett nachträglich als Choraltrio mit zwei konzertierenden Unterstimmen erweist. Der Gedanke, dass der gekreuzigte Jesus sein Grab in der Brust jedes glaubenden Menschen finden könne, mag ebenso wie das im Tenorrezitativ formulierte «Labsal» der eigenen Tränen heute befremdlich wirken. Er verwandelt jedoch die Schlüsselaussage der Bassarie «Es ist vollbracht» – jenes vorletzte der Christusworte am Kreuz – in eine auch der menschlichen Lebenspraxis zugängliche Erfahrung. Diese ausgedehnte Arie gehört mit ihrer fragilen Oboenkantilene und den frei fliessenden Orchesterklängen zu den berührendsten Erfindungen des Thomaskantors. «Das Leid ist alle» und der Riss des «Sündenfalls» geheilt – daher verkörpert das ununterbrochene Seufzen der Singstimme keine Last und keinen Kummer, sondern Erfüllung und Frieden am Ende des Wegs. Heilsames Erlösungsopfer und freudige, jedoch keineswegs naive Weltabsage konvergieren in einer unvergleichlichen Musik, die wie eine Abenddämmerung am letzten Schöpfungstag gar nicht zu enden scheint. Der folgende Choral «Jesu, deine Passion, ist mir lauter Freude» bringt diese zugleich sehnsüchtige wie gezeichnete Stimmung in zart antithetischen Wendungen zum abschliessenden Ausdruck. Aus dem herben c-Moll des Kantatenbeginns ist dabei verinnerlicht leuchtendes Es-Dur geworden.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Im Evangelium zum Sonntag Estomihi (Lukas 18, 31–43) ist davon die Rede, wie Jesus die Zwölf zu sich nimmt und ihnen erklärt, dass sie jetzt «hinauf gen Jerusalem» gingen, wo sich die Passion Jesu vollenden werde; ferner wird von der Heilung eines Blinden berichtet. Picander verwendet für seine Dichtung das Jesuswort aus dem Evangelium, die Strophe 6 des Liedes «O Haupt voll Blut und Wunden» von Paul Gerhardt (1607–1676) und die zweitletzte von 34 Strophen des Liedes «Jesu Leiden, Pein und Tod» von Paul Stockmann (1602–1636). Ein zu Picanders Dichtung gehöriges zusätzliches Rezitativ zwischen Bassarie und Schlusschoral findet sich in den nur aus zweiter Hand überlieferten Quellen der Kantate nicht und wurde von Bach möglicherweise nicht vertont.

1. Arioso (Bass) und Rezitativ (Alt)

Sehet!
Komm, schaue doch, mein Sinn,
wo geht dein Jesus hin?
wir gehn hinauf
O harter Gang! hinauf?
O ungeheurer Berg, den meine Sünden zeigen!
Wie sauer wirst du müssen steigen!
Gen Jerusalem.
Ach, gehe nicht!
Dein Kreuz ist dir schon zugericht’,
wo du dich sollt zu Tode bluten,
hier sucht man Geißeln für, dort bind man Ruten;
die Bande warten dein,
ach! gehe selber nicht hinein!
Doch, bliebest du zurükke stehen,
so müsst ich selbst nicht nach Jerusalem,
ach! leider in die Hölle gehen.

1. Arioso und Rezitativ
Durch Tropierung des Bibelwortes mit freier Dichtung gestaltet Picander einen Dialog zwischen Jesus und der gläubigen Seele. Einerseits möchte die Seele Jesus am Gang nach Jerusalem hindern, da seiner dort das Todesurteil wartet. Andrerseits ist sie sich bewusst, dass sie selbst dann verloren wäre, wenn Jesus den Weg ans Kreuz nicht ginge. Die Worte der Seele umflort Bach mit einem Streicherklang und hebt sie so von den allein durch das Continuo begleiteten Jesusworten ab. Das angsterfüllte Zwiegespräch erhält durch die abschattierte Deklamation eine berührende dramatische Tiefe. Die beständig abbrechenden Aufstiegsfiguren im Generalbaß versinnbildlichen wohl das Zögern vor dem schweren Gang nach Jerusalem.

2. Arie (Alt) und Choral (Sopran)

Ich folge dir nach
Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht!
durch Speichel und Schmach;
Von dir will ich nicht gehen,
am Kreuz will ich dich noch umfangen,
bis dir dein Herze bricht.
dich lass ich nicht aus meiner Brust,
Wenn dein Haupt wird erblassen
im letzten Todesstoss,
und wenn du endlich scheiden musst,
alsdenn will ich dich fassen,
sollst du dein Grab in mir erlangen.
in meinen Arm und Schoss.

2. Arie und Choral
Die Seele will Jesus nachfolgen und ihm treu bleiben. Was in den eingefügten Zeilen des Gerhardt-Liedes steht, entspricht auch ihrer Glaubenshaltung und drückt sich in einem Duett aus. Der Sopran zitiert den Choral «Ich will hier bei dir stehen», der Alt bekundet in einer rasch gehenden Bewegung zusammen mit der Basslinie: «Ich folge dir nach.» Hinter dem Satz, dass Jesus sein Grab in der gläubigen Seele finden solle, steht der Gedanke, dass dann der auferstandene, lebendige Christus im Herzen wohnen möge.

3. Rezitativ (Tenor)

Nun will ich mich,
mein Jesu, über dich
in meinem Winkel grämen.
Die Welt mag immerhin
den Gift der Wollust zu sich nehmen,
ich labe mich an meinen Tränen
und will mich eher nicht
nach einer Freude sehnen,
bis dich mein Angesicht
wird in der Herrlichkeit erblikken,
bis ich durch dich erlöset bin;
da will ich mich mit dir erquikken.

3. Rezitativ
Das Treuegelöbnis wird aber oft gebrochen und es gibt Anlass zu Trauer und Reuetränen.
Darum will sich die Seele von den Nichtigkeiten der Welt abwenden und ihre Hoffnung ganz auf Christus richten. Sie hat weiter keine Wünsche mehr, bis sie in der Ewigkeit ihn in seiner Herrlichkeit erblicken wird.

4. Arie (Bass)

Es ist vollbracht,
das Leid ist alle,
wir sind von unserm Sündenfalle
in Gott gerecht gemacht.
Nun will ich eilen
und meinem Jesu Dank erteilen,
Welt, gute Nacht,
es ist vollbracht!

4. Arie
Jesus hatte zu den Zwölfen gesagt, in Jerusalem werde «alles vollendet werden», was die Pro-pheten über den Erlöser geschrieben hätten. Die Arie nimmt dies voraus mit dem Wort des ster-benden Jesus am Kreuz: «Es ist vollbracht» (Joh. 19, 30). Das Leid ist aus: Der Blinde ist geheilt, dem untreuen Petrus ist verziehen, der glaubende Mensch darf hoffen. In inniger Dankbarkeit (B-Dur) singt der Gläubige im Duett mit der konzertierenden Oboe dieses «Es ist vollbracht» und geht dann im zweiten Teil der Bassarie zu den Worten «nun will ich eilen» über in eine lebhafte Laufbewegung, die wiederum in das wahrhaft gelöste Abschiedsdictum «Welt, gute Nacht! Es ist vollbracht!» mündet.

5. Choral

Jesu, deine Passion
ist mir lauter Freude,
deine Wunden, Kron und Hohn
meines Herzens Weide.
Meine Seel auf Rosen geht,
wenn ich dran gedenke;
in dem Himmel eine Stätt
mir deswegen schenke.

5. Choral
Die Strophe aus dem Passionslied von Paul Stockmann singt mit einer Anspielung auf Stellen im Hohelied davon, was die Passion Jesu für die gläubige Seele bedeutet, dass sie «auf Rosen geht», und schliesst mit der Bitte um eine Stätte im Himmel. Die melodische Gestalt und Harmonisierung der ersten beiden Doppelzeilen bringt dabei auf perfekte Weise den Gegensatz von «Passion» und «Freude» zum Klingen.

Reflexion

Niklaus Peter

«Verinnerlichung, aber auch wirkliches Passionsgedenken»

Unbiblischer Seelen-Egoismus, verbunden mit moralistischer Verengung, das könnte das Rezeptionsproblem dieser Bach-Kantate sein. Denn die barocke Verinnerlichung blendet den sozial-politischen Kontext und damit die dramatische Tiefe der Passionsgeschichte aus. Betrachtungen zur Kantate BWV 159 «Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem»

Hinauf ! – so lautet das erste Stichwort, die Bewegungsrichtung, die von Bachs Musiksprache auf eine grossartige Weise interpretiert1 wird, nämlich Schritt für Schritt2 nach oben, verbunden aber mit Figuren des Zögerns… – Und da diese Kantate ein Dialog ist und wir als Hörer miteinbezogen sind – komm schaue doch, mein Sinn, wo geht dein Jesus hin? – so wollen auch wir zuerst zögern: Weshalb, wohin und wozu hinauf?

Ein erstes Zögern also, ein vernünftiges Zögern. Denn ist ein undifferenziertes Hinauf nicht das schal gewordene Motto unserer Kultur seit mehr als 150 Jahren? Fortschritt, Wachstumskurven – alles soll und will nach oben, hoch hinaus, Toppen, hoch zum Mond, danach zum Mars. Ein kultureller Beleg, ja ein veritables Leitfossil dafür ist ein populäres Gedicht3 des amerikanischen Poeten Henry Wadsworth Longfellow aus dem Jahr 1841. Es handelt von einem in den Schweizer Alpen bergwärts schreitenden Jüngling mit einem Banner in der Hand, auf dem «Excelsior!» steht: «Höher!»:

The shades of night were falling fast, As through an Alpine village passed
A youth, who bore, ’mid snow and ice, A banner with the strange device, Excelsior!

Hinauf also, an Dörflern, Mädchen und Bauern vorbei, höher hinauf durch Fels und Schnee und Eis steigt dieser Jüngling, immer höher: «Excelsior!» – ein neunmal beschwörend wiederholter Refrain. Bis man ihn in der zweitletzten Strophe oben im Eis erfroren findet, worauf in der letzten – wer’s nicht glaubt mag’s nachlesen4 – doch tatsächlich noch eine Stimme aus dem Himmel quäkt: «Excelsior!»

Longfellow aber scheint damit einen kulturellen Nerv getroffen zu haben, eine Pathosformel, einen programmatischen Namen danach für unzählige Hotels, für einen schweizerischen und belgischen Autohersteller, für eine deutsche Motorradfirma, und auch Friedrich Nietzsche liess sich von diesem Gedicht zu einem Aphorismus in der «Fröhlichen Wissenschaft» inspirieren.

Dieser mündet nach dem symbolschwangeren Bild von einem Bergsee, der sich abzufliessen weigert, in den Satz: «Vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst.»5 Prosit Bergsee! – es grüsst der Übermensch…

Nun spricht das Bibelwort, welches Bach und seinem Librettisten Picander den Bewegungsimpuls für die Kantate 159 gab, nicht von einem sinnlos-absoluten Komparativ – nicht von einem «irgendwie-und-einfach-Hinauf». Das Hinauf dieser Passionskantate ist ein historisch konkretes, dramatisches «hinauf nach Jerusalem»6: Jesus hat sich entschieden, mit seinen Jüngern in die hochgelegene Tempelstadt, ins religiöse Zentrum zu gehen, er will dem Konflikt, auch der Passion nicht ausweichen.

Aber stellt sich hier nicht ein erneutes, ein zweites Zögern ein? Wer sich auch nur ein wenig mit der Religions- und Politikgeschichte Jerusalems befasst hat – wird sich fragen: Wollen wir da mitgehen, nochmals hinauf nach Jerusalem, in diese seit Jahrhunderten religiös umkämpfte Stadt? Sollte man als Christ den Kantatenvers vom «ungeheuren Berg, den meine Sünden zeigen», nicht mit anderen, realistisch geschärfteren Ohren hören, wenn man an die Kreuzzüge in diese «heilige Stadt» denkt? Was soll dieser Drang hoch in diese Zionsstadt?

Unter dem Titel «Überdosis Gott» hat ein Journalist des Spiegels die Religionsgemengelage Jerusalems folgendermassen charakterisiert: «Die drei monotheistischen Religionen verehren den Bereich um den Tempelberg in der Altstadt mit der Inbrunst ihres Glaubens: Klagemauer, Felsendom, Grabeskirche reihen sich aneinander, und ihre Mauern, von Blut und Tränen getränkt, verschränken sich sogar. Alles ist nur einen Steinwurf voneinander entfernt – was einige fromme Fanatiker […] manchmal sehr wörtlich nehmen»7, eine, muss man sagen: zurückhaltende Formulierung.

Wäre es demnach nicht besser, statt nach Jerusalem nach Athen8 hinauf zu gehen? Hinauf dann natürlich nicht in die Akropolis, sondern auf die Agora, auf den Marktplatz, auf dem religiöse Überzeugungen, Erzählungen von Passionen und von der versöhnenden Kraft der Leidensbereitschaft vergleichgültigt und ironisiert sind – so wie es Paulus in Athen9 ergangen ist… Das wäre nun allerdings im Geistigen eine radikal andere Bewegungsrichtung, statt nach Jerusalem hinauf nach Athen…

Der israelische Schriftsteller Elazar Benyoëtz hat die Differenz von Athen und Jerusalem etwas plakativ, aber bedenkenswert auf die Formel gebracht: «Ich auf griechisch heisst:

anstelle der Götter›, auf hebräisch heisst es immer noch ‹im Angesicht Gottes›»10. Aber kann man sich Bachsche Musik mit dem Motto «anstelle Gottes» vorstellen, stand nicht «soli Deo gloria» unter vielen seiner Kompositionen?

«Im Angesicht Gottes» – das ist eine gute Beschreibung für den grossen zweiten Teil der Kantate, für die verbleibenden vier Stücke, in denen nur noch das fromme Ich spricht, in denen die Seele in radikaler Verinnerlichung die Passionsgeschichte meditiert – coram Deo. Nachfolge ist hier kein Gang mehr hinauf nach Jerusalem, sondern eine meditatio, die Betrachtung des Gesichts, das Gott selbst nach christlichem Glauben gezeigt hat: das Antlitz des gegeisselten, gekreuzigten und auferweckten Menschen, des erneuerten Ebenbildes.

Deshalb vermutlich haben Bach und Picander zwischen das persönliche «Ich folge dir nach» der Seele intermittierend die 6. Strophe des Paul Gerhardt-Liedes «O Haupt voll Blut und Wunden»11 geschoben, ein verinnerlichtes Passionsgedenken eines Frommen, in dessen Herzen der Gekreuzigte auferstehen soll.

Das ist eine bewegende Idee, weil hier hinaufgeblickt wird zum menschlichen Antlitz dessen, der die Kraft, den Mut, die Leidensbereitschaft hatte, den Konflikten nicht auszuweichen. Mit friedlichen Mitteln ist Jesus eingestanden für die Botschaft von Gottes Versöhnung, für den Sieg der Liebe über den Tod. Es ist dieses Gesicht, diese Gestalt des leidenden Menschen, von dem Pilatus unbeteiligt und zynisch, und Christen beteiligt sagen: «Ecce Homo»12 – sieh diesen (menschlichen) Menschen.

Ein drittes Zögern – man mag mir die Rhetorik der Nachdenklichkeit bei einer Passionskantate nicht verdenken – betrifft die barocke Verinnerlichung und damit den Kantatentext selbst, nämlich die Überdosis dessen, was man Winkelspiritualisierung nennen könnte: «Nun will ich mich (…) in meinem Winkel grämen (…)», singt diese Seele. Wozu diese christliche Griesgrämigkeit? – Und wenn sie weiter singt: «(…) die Welt mag immerhin, das Gift der Wollust zu sich nehmen, ich labe mich an meinen Tränen» – dann reagiert es in mir: give me a break!

Das theologische Problem steckt im unbiblischen Seelen-Individualismus und -Egoismus, im religiös ausgebremsten Leben, in einem für unsere Ohren peinlichen Moralismus, denn all das zusammen blendet den sozial-politischen Kontext und damit die dramatische Tiefe der Passionsgeschichte aus. Hatte man Jesus nicht zuvor als Fresser und Säufer und falschen Propheten beschimpft, weil er das Leben und die Menschen mehr liebte als rigide Moral und unsinnige Ritualgesetze? Hatte man ihn nicht ausgegrenzt, weil er Huren und Steuergauner (Zöllner) seinerseits nicht ausgrenzen wollte, weil er sie auf ihre Ebenbildlichkeit, auf ihre Menschenwürde und Sehnsucht nach Gerechtigkeit ansprach, und sie so in die menschliche Gemeinschaft zurückzuholen versuchte?

Das göttliche Antlitz im menschlichen Gesicht Jesu wird dort sichtbar, wo er Glück und Seligkeit jenen zuspricht, welche die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben, welche den Konflikten dabei nicht ausweichen, ja sogar bereit sind, dafür mit ihrem Leben einzustehen: «Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit – sie werden gesättigt werden.

/Selig, die Frieden stiften – sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden./Selig, die verfolgt sind um der Gerechtigkeit willen – ihnen gehört das Gottesreich.»13 Sichtbar werden hier Gesichtszüge von Gottes Menschlichkeit. Das ist etwas anderes als barocke Seelen in religiösen Filzpantoffeln.

Hinauf nach Jerusalem! – wenn in der Spiritualisierung alle Leidenschaft für das Gottesreich, für die Heilung und Verwandlung unseres ganzen Lebens durch Gott verschwindet, dann steht die Passionserzählung und auch die Osterbotschaft in der Gefahr, zu einem kleinbürgerlichen Seelentheater zu werden. Der verstorbene deutsche Bundespräsident Johannes Rau pflegte mitunter daran zu erinnern, in der Bibel heisse es nicht: «Seid getrost, es bleibt alles beim Alten», sondern «Siehe ich mache alles neu!»14 Gewiss, aneignende Verinnerlichung hilft uns, die fatale Faszination des heiligen Bodens, der heiligen Steine, des Draufsitzenwollens und die damit verbundenen Religionskonflikte zu überwinden – eine religionskulturelle Errungenschaft.

Aber wir sollten der historischen Forschung und der kritischen Theologie dankbar sein, dass sie auch das lebendige Äusserliche, den Staub, den Schweiss, die Nöte dieses Weges hinauf nach Jerusalem sichtbar gemacht hat, die sozial-politisch-religiösen Konflikte und das menschliche Gesicht unter dem versiegelten Bild des Gottessohnes wieder in Erinnerung gerufen hat. Wir sollten dankbar sein für das Aufbrechen, für die Infragestellung, ja für die Krise des dogmatischen Panzers, welcher sich seit Jahrhunderten über den lebendigen Körper der vielschichtigen Evangelientexte gelegt hatte. Dies, weil erst dann der dramatische Horizont und die welthistorische Tiefe der Leidensgeschichte als einer Gottesgeschichte wieder sichtbar werden.15

Die grossartige Dichte, die Leidenschaft und Wahrheit der Bachschen Musik laden uns ein zur Verinnerlichung, aber sie zwingen uns auch zu solchen Rückübersetzungen des barocken Textes – erst dann kann und mag jedenfalls mein Geist und meine Seel – «auf Rosen» gehn.

Anmerkungen

1 Ich habe viel gelernt aus Ulrich Knellwolf, «Gaudium crucis», Die Musik als Signal der Auferstehung (zur Kantate 159, in: Bach-Anthologie 2007, Hrsg. Michael Wirth, Seite 99–104 ), aber natürlich versucht, eigene Akzente zu setzen.
2 Albert Schweitzer, Johann Sebastian Bach, Leipzig 1908 sprach von «Schrittmotiven», Seite 477.
3 Das ganze Gedicht von Longfellow (1807–1882) ist einfach über Wikipedia (english) zu finden, es ist abgedruckt und mit einer schönen Fülle von Belegen zur Wirkungsgeschichte versehen bei Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970, Seite 102–116.
4 There in the twilight cold and gray, Lifeless, but beautiful, he lay, And from the sky, serene and far, A voice fell, like a falling star, Excelsior!
5 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Nr. 285.
6 Matthäusevangelium, Kapitel 20, 18: Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen.
7 Erich Follath, «Eine Überdosis Gott. In der Altstadt prallen Religionen und Nationen hart aufeinander.», in: Annette Grossbongardt u. Dietmar Pieper (Hrsg.): Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt, München 2009, Seite 226.
8 Die plakative Entgegensetzung Athen und Jerusalem geht auf Tertullian zurück: «Quid ergo Athenis et Hierosolymis?», De praescriptione haereticorum, ch. 7, 9, vgl. dazu: Leo Schestow, Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie, München 1994.
9 Apostelgeschichte 17. 16–32: «Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten, die anderen aber sagten, darüber wollen wir ein ander mehr von dir hören.»
10 Elazar Benyoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund, München 2007, Seite 17.
11 Das Paul Gerhardt-Lied 445 (im Evangelisch-reformierten Gesangbuch) geht auf den lateinischen Hymnus Salve caput cruentatum (Text: Arnulf von Löwen 1200–1250) zurück, konzentriert sich aber im Gegensatz zur Vorlage fast ausschliesslich auf die Betrachtung des Hauptes, des Gesichtes, das der gefolterte Christus dem Gläubigen zeigt.
12 Johannesevangelium 19, 5.
13 Matthäusevangelium 5, 6.9.10.
14 Manfred Zabel (Hrsg), LebensBilder. Mit Texten von Johannes Rau, Gütersloher Verlagshaus 1992, Seite 216.
15 Vgl. dazu ausführlicher: Niklaus Peter, «Geben und leben. Was wäre unsere Gesellschaft ohne die Bereitschaft, etwas zu geben?» Zu Karfreitag und Ostern, in: Neue Zürcher Zeitung, 23./24. April 2011, Seite 1.

Literatur

  • Elazar Benyoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund, Hanser München 2007
  • Annette Grossbongardt u. Dietmar Pieper (Hgg.), Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt, DVA/Spiegel Buchverlag, München Hamburg 2009
  • Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Nr. 285, Kritische Studienausgabe Bd. 3, DTV/De Gruyter, München, Berlin, New York 1980
  • Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, De Gruyter, München, Berlin 1970
  • Albert Schweitzer, Johann Sebastian Bach, Nachdruck Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1979
  • Leo Schestow, Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie, Neuauflage mit Nachwort, einem Essay von Raimondo Panikkar, Matthes & Seitz, München 1994
  • Manfred Zabel (Hg), LebensBilder. Mit Texten von Johannes Rau, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1992

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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