O heilges Geist- und Wasserbad

BWV 165 // zu Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Streicher und Basso continuo

Die dichte und anspielungsreiche Poesie des Weimarer Hofdichters Salomo Franck hat Bach über Jahre hinweg zu tiefempfundenen Schöpfungen inspiriert. Dazu gehört auch die wohl 1715 in der Weimarer Schlosskapelle «Weg zur Himmelsburg» erstmals aufgeführte Kantate BWV 165, deren Libretto pfingstliches Kolorit mit Gedanken der Taufheiligung, Sündennatur, Jesusminne und Todesüberwindung zusammenbringt. Dabei benötigt Bach nur ein vom Streichorchester begleitetes Solistenquartett, um in ausserordentlich dichten Miniaturen ein Welt- und Menschenbild zu entfalten, das die ganze Frische, Leichtfüssigkeit und Eindringlichkeit seines Weimarer «Kantatenfrühlings» ausstrahlt.

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Werkeinführung
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Reflexion
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Bonusmaterial
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Marie Luise Werneburg

Alt/Altus
Elvira Bill

Tenor
Colin Balzer

Bass
Dominik Wörner

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Judith von der Goltz, Christine Baumann, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó

Viola
Sonoko Asabuki, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Fagott
Susann Landert

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referentin
Helen Schüngel­-Straumann

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
19.03.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
16. Juni 1715, Weimar

Textdichter
Salomo Franck (Sätze 1–5)
Ludwig Helmbold (Satz 6)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Für eine Komposition zum Trinitatisfest wirkt die Kantate «O heilges Geist- und Wasserbad » (BWV 165) angesichts des Fehlens eines wuchtigen Eröffnungstuttis sowie mit Blick auf die reine Streicherbesetzung des Orchesters auf den ersten Blick weniger ambitioniert als manche Vergleichsstücke. Wohl bereits 1715 in Weimar entstanden und wahrscheinlich 1724 den Leipziger Bedingungen angepasst, eignen ihm jedoch die besonderen Qualitäten von Bachs Weimarer Kantatenstil, was neben der luftigen Klanglichkeit auf das Libretto Salomo Franckes zielt, das sich wie stets bei ihm durch besondere Sprachkunst und Bildkraft auszeichnet. 

Die dem Sopran übertragene Eingangsarie kombiniert die streng fugenmässige Einsatzfolge aller Stimmen mit einer eleganten Geschmeidigkeit ihrer Linienführung, die in allem Ernst der Handlung zugleich die wohltuende Lieblichkeit des verwandelnden Taufbades hörbar macht. Dass sich der nachmals so wohltönende Satz gewissermassen aus dem Nichts heraus aufbaut, lässt deutlich werden, dass damit etwas Grundlegendes beginnt – jenes «neue Leben», das hier taktweise erkundet und damit in die Partitur der Ewigkeit «eingeschrieben» wird… 

Im Bassrezitativ führt der Librettist den Gegensatz zwischen den «verdammten Adamserben » und dem «seligen Christsein» in drastischen Worten aus und lässt so das unverdiente Gnadengeschenk der Gotteskindschaft plastisch hervortreten. Eine dankbare Vorlage, die Bach Wendung für Wendung mit dramatischem Gespür und reichem harmonischem  Vokabular umzusetzen weiss. Auf die Idee, das Schlüsselwort «selig» in eine Septimendissonanz zu kleiden und gerade so die völlige Verschmelzung mit Christus im hellsten C-Dur vorzubereiten, musste man erst einmal kommen – doch sind es gerade diese souverän in die flüssige Diktion eingestreuten Kühnheiten, die Bachs Rezitativstil so überzeugend gestalten und es vermögen, noch die gewichtigsten Textaussagen dem Ohr und Herz leicht zu machen. 

So gelingt es denn auch der folgenden Arie, mit der Minimalbesetzung von Altsolo und Continuo eine Welt elegischer Schönheit zu evozieren. Der schwebende 128 -Takt und die weichen Dreitongruppen der Bassstimme geben der Singstimme Raum zum verinnerlichten Gebet, das im verschatteten e-Moll auch die Mühsal der Liebestat Jesu sowie die ein ganzes Leben einschliessende Arbeit an der eigenen Gottgefälligkeit antönen lässt. 

Das folgende «Recitativo con strumenti» bricht diese vorschnelle Wohlgefälligkeit nochmals auf, indem es dem Lobpreis des «hochheiligen Gotteslamms» die heftige Selbstanklage folgen lässt, den «Taufbund» wieder und wieder gebrochen zu haben. Diese von zeremoniellen Streicherklängen unterstrichene Gnadenbitte kulminiert im doppelten Bild der zunächst für den Sündenfall verantwortlichen und später durch Moses am Kreuz erhöhten «Schlange». Wie Bach dabei deren tödliches Gift in die letztlich heilsame Arznei des vom Leben zum Tod leitenden Viaticum verwandelt, ist ganz barock deutend und doch von zeitlos sensibler Trostkraft. 

Diesem als Beschreibung Jesu durchaus kühnen Bild des «Heilsschlängleins» scheint auch die folgende Tenorarie verpflichtet, die über entspannten Continuoachteln die zu einer einzigen Unisonostimme vereinigten Violinen in unaufhörlichen Zweierbindungen auf- und abzüngeln lässt. Bach hat sich in dieser seiner Vertonung von der Franck‘schen Freude an Gegensatzpaaren und Wortspielen inspirieren lassen. Wie in der gesamten Kantate genügen auch dieser Arie vergleichsweise wenige Takte, um mit wohldosierten Mitteln  ein präzises Affektbild zu zeichnen, dem man noch lange bedauernd nachsinnt. 

Die abschliessende Liedstrophe aus Ludwig Helmboldts Choral «Nun lasst uns Gott dem Herren» (1575) fasst die auf Wortverkündigung, Taufe und Abendmahl gegründete Botschaft der Kantate in gut lutherischer Weise zusammen. Der Akzent auf dem beflügelnden «Heiligen Geist» passt dabei gut zu den geschickt eingefügten Durchgangsnoten, die dem schlichten Satzgerüst ebenso wie die unsererseits ergänzten Orgelzwischenspiele inwendigen Glanz verleihen.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die eindringliche und anspielungsreiche Poesie des Weimarer Hofdichters Salomo Franck (1659–1725) hat Bach über Jahre hinweg zu tiefempfundenen Schöp­fungen inspiriert. Dazu gehört die von Franck zur Aufführung am Trinitatistag 1715 in der Weimarer Schlosskapelle «Weg zur Himmelsburg» vorgesehene Kantate BWV 165, deren Libretto pfingstliches Kolorit mit Gedanken der Taufheiligung, Sündennatur, Jesus­minne und Todesüberwindung zusammenbringt. Wäh­rend Bachs Vertonung stilistisch und vom kammer­musikalischen Duktus her perfekt zu diesem Weimarer Entstehungskontext passt, deuten die nur abschriftlich erhaltenen Quellen auf eine leicht modifizierte Wieder­aufführung in den ersten Leipziger Jahren (wohl 1724). Dabei benötigt Bach nur ein vom Streichorchester be­gleitetes Sängerquartett, um in dichten Miniaturen eine tönende Anthropologie zu entfalten, die den realisti­schen Blick auf die menschliche Schwäche und An­fechtung mit der zuversichtlichen Hoffnung auf eine heilsame Verwandlung im Zeichen des Taufbundes und des auferstandenen Christus verknüpft.

1. Arie — Sopran

O heilges Geist­ und Wasserbad,
das Gottes Reich uns einverleibet
und uns ins Buch des Lebens schreibet! O Flut, die alle Missetat
durch ihre Wunderkraft ertränket
und uns das neue Leben schenket!
O heilges Geist­ und Wasserbad!

1. Arie — Sopran

In der Arie zu Beginn hat sich der Librettist und Weimarer Dichter Salomo Franck eng an das Evan­gelium des Sonntags gehalten, an das Gespräch Jesu mit Nikodemus über das Neugeboren­werden aus Geist und Wasser (Johannes Kap. 3, 1–15). Der hinzugefügte Akzent der Sünden­theologie wird ausbalanciert durch das schöne Bild vom Buch des Lebens aus Philipper 4, 3 und Offenbarung 20,12. Die liebliche G­-Tonalität und der sanft fliessende Duktus des Satzes ma­chen im Zusammenspiel mit der dichten Stimm­polyphonie deutlich, dass es beim Schliessen des Taufbundes um eine wohltuende, aber auch ernste Handlung geht. In Bachs ausgedehnten Melismen vermag die Gnadenflut tatsächlich «alle Missetat» abzuwaschen; sein «Buch des Lebens» bietet hörbar Raum für alle Gläubigen.

2. Rezitativ — Bass

Die sündige Geburt verdammter Adamserben
gebieret Gottes Zorn, den Tod und das Verderben.
Denn was vom Fleisch geboren ist,
ist nichts als Fleisch, von Sünden angestecket,
vergiftet und beflecket.
Wie selig ist ein Christ!
Er wird im Geist- und Wasserbade
ein Kind der Seligkeit und Gnade.
Er ziehet Christum an
und seiner Unschuld weiße Seide,
er wird mit Christi Blut, der Ehren Purpurkleide,
im Taufbad angetan.

2. Rezitativ — Bass

Das Bassrezitativ verstärkt den Kontrast, indem das durch Erbsünde «angesteckte», «vergiftete» und «befleckte» Fleisch im Geist-­ und Wasser­bad nun gereinigt wird und der neu Geborene in Christus mystisch auch neubekleidet diesem Taufbad entsteigt. Der düstere Tonfall heftiger Selbstanklage lässt die in einer verzückten Passa­ge evozierte neue Identität eines «seligen Chris­ten» umso heller erstrahlen. Francks grandios präzise Reimkunst und Bachs sensible Akzent­disposition machen die komplexen theologi­schen Inhalte ungewöhnlich zugänglich.

3. Arie — Alt

Jesu, der aus großer Liebe
in der Taufe mir verschriebe Leben,
Heil und Seligkeit,
hilf, daß ich mich dessen freue
und den Gnadenbund erneue
in der ganzen Lebenszeit.

3. Arie — Alt

Die Alt-­Arie ist eine innige Bitte an Jesus um jene durch die Taufe «verschriebenen» Güter «Leben, Heil und Seligkeit» des erneuerten Bundes. Ent­sprechend wählt Bach eine zurückgenommene zweistimmige Anlage aus Generalbass und Alt, um die Liebestat Jesu und die Entschlossenheit zur Nachfolge auszudrücken. Die sangliche An­lage der Continuopartie sowie die noble Kantilene der Singstimme machen das persönliche Zwie­gespräch zum Exempel einer die «ganze Lebens­zeit» inspirierenden Gewissheit.

4. Rezitativ — Bass

Ich habe ja, mein Seelenbräutigam,
da du mich neu geboren,
dir ewig treu zu sein geschworen,
hochheilges Gotteslamm;
doch hab ich, ach! den Taufbund oft gebrochen
und nicht erfüllt, was ich versprochen,
erbarme, Jesu, dich
aus Gnaden über mich!
Vergib mir die begangne Sünde,
du weißt, mein Gott, wie schmerzlich ich empfinde
der alten Schlangen Stich;
das Sündengift verderbt mir Leib und Seele,
hilf, daß ich gläubig dich erwähle,
blutrotes Schlangenbild,
das an dem Kreuz erhöhet,
das alle Schmerzen stillt
und mich erquickt, wenn alle Kraft vergehet.

4. Rezitativ — Bass

Im Bassrezitativ bekennt der im «Geist-­ und Wasserbad» neu Geborene dem «Gotteslamm», dass er den Taufbund oft gebrochen und seine Versprechen nicht gehalten habe, und bittet um Erbarmen und Vergebung. Der Librettist greift die alte Schlangensymbolik in doppelter Weise auf: als verderblicher Schlangenstich und als heil­bringende Erhöhung: «Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschen­sohn erhöht werden» (Joh. 3,14) – eine dramatische Neuinterpretation der Kreuzigung als Erhöhung. Bach versteht es, das zuweilen steif-­feierliche Gerüst eines Streicher­-Accompagnatos so zu dynamisieren, dass jede Wendung des zwischen Anbetung und Zerknirschung changierenden Texte sanrührende Eindringlichkeit gewinnt. Eine veritable Predigt in Tönen, die das abschliessen­de «Vergehen der Kräfte» mit Pianissimo­-Fort schreitungen über einem nur noch statischen Bass in eine bestürzende Todesnähe rückt.

5. Arie — Tenor

Jesu, meines Todes Tod,
laß in meinem Leben
und in meiner letzten Not
mir für Augen schweben,
daß du mein Heilschlänglein seist
vor das Gift der Sünde!
Heile, Jesu, Seel und Geist,
daß ich Leben finde!

5. Arie — Tenor

Die Tenorarie nimmt auf die Soteriologie (Jesu, meines Todes Tod) Bezug und bittet um Beistand in der Todesstunde – er solle ihm als «mein Heilschlänglein» vor Augen stehen, als Gegen­gift zur Sünde, zur Heilung von Seele und Geist. Das unablässige Zucken der von der Unisono­-Violinstimme über einem laufenden Bass aneinandergereihten Quart-­ und Terzsprünge scheint vom ambivalenten Bild der sowohl verderblichen wie heilsamen Schlange inspiriert. Die stetige Um­kehrung der Bewegungsrichtung macht diesen Zusammenhang von Leben und Tod auch moti­visch plausibel.

6. Choral

Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl
dient wider allen Unfall,
der heilge Geist im Glauben
lehrt uns darauf vertrauen.

6. Choral

Beim Schlusschoral handelt es sich um die 5. Stro­phe des Liedes «Nun lasst uns Gott, dem Her­ren» von Ludwig Helmbold aus dem Jahr 1575, mit der die Tauf­- und Heilsthematik nochmals zusammengefasst wird: Gottes Wort, die Taufe, das Abendmahl «dient wider allen Unfall», und der Heilige Geist hilft, genau darauf zu vertrauen.

Reflexion

Die Paradiesschlange

Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen

In dem gesungenen Text von Bach kommt eine Schlange vor, die im Garten (Paradies) versucht, die Menschen zu verführen. Sie ist daher ein negativer Akteur in der sog. Paradiesgeschichte, sie ist ein Tier, kann aber sprechen und wird als «klug» bezeichnet. Dies wäre allerdings besser zu übersetzen mit «gerissener/listiger» als «alle Tiere des Feldes, die JHWH-Gott geschaffen hatte». Es wird nicht ein positiver Ausdruck wie «Weisheit/Klugheit» verwendet, so kann man schon ahnen, dass sie nichts Gutes vorhat.

Der Text mit dem Gespräch Schlange‒Frau ist ein eigenes Stück in Genesis 3 und hat Wurzeln in den Traditionen aus dem Vorderen Orient. Dort gibt es zahlreiche Schöpfungsgeschichten, die sich immer von der Erschaffung der Menschen durch die Götter bis zu ihrer Vernichtung in einer grossen Flut drehen. Zahlreiche solcher Mythen sind Jahrhunderte älter als der Bericht aus der Bibel. Sie haben alle den gleichen Spannungsbogen von einer guten Schöpfung durch die Götter und dann, wegen Verfehlungen der Menschen, bis zu einer grossen Flut, die wieder alle Menschen vernichtet, ausser einem, der gerettet wird.

In unserer Geschichte wird die Frau von der Schlange angesprochen, diese möchte klug/weise werden, das verspricht sie sich von den Früchten des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse.

Der Text lautet genau:

«Die Schlange aber war gerissener als alle Tiere des Feldes, die JHWH-Gott gemacht hatte. Und sie sprach zur Frau: ‹Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft von keinem Baume des Gartens essen?› Da sprach die Frau zur Schlange: ‹Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: ,Rühret sie nicht einmal an, sonst werdet ihr sterben! ̒› Da sprach die Schlange zur Frau: ‹Mitnichten werdet ihr sterben, sondern Gott weiss, dass, sobald ihr davon esset, euch die Augen aufgehen werden, und ihr werdet sein wie Gott, wissend, was gut und böse ist.› Und die Frau sah, dass es gut wäre, von dem Baum zu essen, und dass er lieblich anzusehen sei und begehrenswert, weil er klug machte, und sie nahm von seiner Frucht und ass und gab auch ihrem Mann neben ihr, und auch er ass. Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren, und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.» (Genesis 3, 1‒7)

Es geht also hier um «Gut und Böse» und um klug/weise werden. Der Wunsch der Frau nach Weisheit ist ja sicher nichts Böses. Aber die Schlange verunsichert die Frau und treibt sie aufs Glatteis. Ganz listig stellt sie nämlich die Frage «Hat Gott wirklich gesagt…?» und zwingt so die Frau, Gott zu verteidigen. Nur von einem Baum in der Mitte des Gartens dürfen sie nichts essen. Ein Wort wie «Verführung» kommt in dem Text nicht vor, später heisst es nur, die Schlange habe die Frau «getäuscht».

Nachdem die Menschen gegessen haben, erkennen sie aber nicht ihre grössere Klugheit, sondern nur ihre Nacktheit. So hat sich die Schlange um die beiden Begriffe «Gut und Böse» herumgewunden, um ihr Ziel zu erreichen.

Wie eigentlich kann in das harmonische Paradies das Böse hereinkommen? Dies ist eine Frage, die nicht zu lösen ist, ein unerklärliches Geschehen. Übrigens hat die Schlange gar nicht gelogen, die Menschen sterben ja nicht, nachdem sie von den Früchten gegessen haben, sondern sie werden später nur aus dem Garten vertrieben.

Die Schlange ist ein mythologisch sehr wichtiges Tier, sie ist im Vorderen Orient schon Jahrhunderte vor der Niederschrift unseres Bibeltextes eine überaus schillernde Figur. Sie kann stehen für Gutes, aber auch für Böses, für Leben, aber auch für Tod. In der Paradiesgeschichte hat sie jedoch eine rein negative Funktion. Festzuhalten ist theologisch aber vor allem, dass der Übeltäter in der Bibel eindeutig die Schlange ist.

In der späteren Zeit, vor allem in der ganzen christlichen Geschichte, ist die Schlange als Teufel/Satan interpretiert worden. Davon steht nichts in Genesis 3, im Text wird ausdrücklich gesagt, dass sie ein Geschöpf Gottes sei. Anstelle der Schlange wird dann in der christlichen Geschichte die Schuld an der Übertretung Eva, der Frau, angelastet. Als Verführerin, als minderwertig, als dem Mann untertan, als gefährlich u.a. ist Eva verunglimpft worden, und dies fast 2000 Jahre lang.

Der Kirchenvater Augustinus lag hier völlig falsch, wenn er sagte, der Teufel, der Satan, hätte sich an die Frau gewandt, weil sie die Schwächere, die leichter Verführbare sei. An den Mann, das Bild Gottes, hätte er sich nicht getraut. Diese von der altorientalischen Tradition völlig abwegige Folgerung hat unendlich viel Unheil für Frauen angerichtet. ‒ Auch das Wort «Sündenfall» stammt von Augustinus, in der ganzen hebräischen Bibel findet sich dieser Begriff nicht. Auch in der Paradiesgeschichte findet sich kein Wort für «Sünde», erst in dem folgenden Kapitel Genesis 4, wo der erste Mann ausserhalb des Paradieses, Kain, seinen Bruder Abel erschlägt, findet sich zum ersten Mal dieser Begriff. Die Begriffe Sünde, Erbsünde und Sündenfall stammen alle aus der Auslegung der Genesis von Augustinus.

Die Folgen für ein christliches Frauenbild waren katastrophal, dies wird erst seit dem 20. Jh. richtiggestellt. Der Name Eva ‒ hebr. chawwah ‒ kommt von chay = Leben und es wird am Ende des Kapitels gesagt: «Sie ist die Mutter alles Lebendigen.» Dieser Satz wird von vielen Exegeten als ein Überbleibsel einer Göttin gesehen. Dass die ganze hebräische Bibel nichts von einem «Sündenfall» oder einer Erbsünde weiss, bestätigt die jüdische Tradition. Dort kommt eine so negative Interpretation für die Frau nicht vor. Vielmehr wird Eva sehr verehrt als «unser aller Mutter» und chawwah ist ein beliebter Frauenname in Israel. Dieses Problem über die Frauenfeindlichkeit der christlichen Tradition kann ich hier nicht weiterverfolgen, dies wäre ein weites Feld, darüber gibt es mein Eva-Buch.

Die Frage, die sich hier stellt: Warum spricht eigentlich die Schlange nur mit der Frau, der Mann ist doch neben ihr? Schon oft ist es aufgefallen, dass der Mann wie ein Statist wirkt, er sagt in dieser ganzen Szene kein Wort, er isst nur.

Dies hat tiefgreifende Gründe in der orientalischen Tradition: Die Frau als die, die das Leben weitergibt, ist viel mehr mit dem Leben verbunden als der Mann. In einer vorschriftlichen Zeit war die Frau die massgebende Person, an ihr hing alles, vor allem der Fortbestand der Menschheit. Es war eine Zeit, in der die Männer noch nichts wussten von ihrem eigenen Anteil am Beginn des Lebens. Damals waren die Hauptgöttinnen weiblich, z.B. Innana im Zweistromland. Erst zwischen 4000 und 3000 v.Chr. wurden die Hauptgöttinnen degradiert zu Ehefrauen der Götter. Die verschiedenen Veränderungen liefen natürlich nicht plötzlich ab, sondern in langen Prozessen. Schlangengöttinnen sowie Muttergöttinnen gab es bis in die griechische und römische Zeit. In Ägypten hatte der Erdgott Geb einen Schlangenkopf, in Griechenland wurden Schlangengöttinnen bis in neuere Zeit noch als Figürchen verkauft. Schlangen und Schlangengöttinnen waren auch überall mit einem Baum verbunden, vor allem in Ägypten.

In der Tradition des Zweistromlandes spielt die Schlange ganz verschiedene Rollen. Es gibt ältere Belege, die im Alten Orient und auch in Ägypten vorkommen, dass sie dort nicht nur für Tod und das Böse verantwortlich ist, sondern auch für das Leben.

Die mythische Schlange war auch immer eng mit dem Baum verbunden. Der Baum des Lebens, der in der Mitte des Gartens Eden steht, ist ein Relikt aus dieser Tradition Mesopotamiens. Wer von seinen Früchten isst, erwirbt ewiges Leben. In der Paradiesgeschichte spielt dieser Baum keine Rolle, dort ist es der Baum der «Erkenntnis von Gut und Böse». Dies ist der Baum, von dem die Menschen verbotenerweise essen. So standen eigentlich zwei Bäume in der Mitte des Gartens, der «Baum des Lebens» aus dem alten Orient und der Baum der «Erkenntnis von Gut und Bös», der für die Verfasser der Paradiesgeschichte wichtig war. Das ist für heutige Logik schwer zu verstehen, doch für damaliges Denken normal: Man lässt das Überkommene stehen und stellt das Neue einfach dazu.

Wie äussert sich nun diese positive Rolle der Schlange im Zweistromland lange vor unserer biblischen Geschichte? Wer diesen Baum des Lebens findet und von seinen Früchten isst, erwirbt ewiges Leben. Der Mensch hat sich in den letzten 4000‒5000 Jahren nur sehr wenig verändert. Jeder wollte gern länger leben, möglichst sogar ewig (wie die Götter). So gab es viele Mittel, sein Leben zu verlängern ‒ man denke, dass die durchschnittliche Sterblichkeit bei wenig über 30 Jahren lag ‒, es gab Salben oder Gewässer, in die man steigen konnte, um dann verjüngt wieder daraus hervorzukommen. Schönheitsoperationen gab es noch nicht, aber allerhand Mittel, das Leben zu verlängern. Wer aber den «Baum des Lebens» findet, würde ewiges Leben gewinnen.

Was hat dies alles nun mit der Schlange zu tun? In den letzten 150 Jahren sind eine Fülle von Texten aus dem Vorderen Orient gefunden und entziffert worden. Immer wollten die Menschen wissen, woher sie kommen, so gibt es zahlreiche Schöpfungsgeschichten, nach ihren Anfängen genannt: Enuma Elish, der Athrachasis-Mythos und viele andere. Ich kann hier nur ein Beispiel bringen, das zu unserem Thema passt, nämlich aus dem Gilgamesch-Epos. Diese Schrift, von der es viele Varianten gibt, ist auch recht bekannt. Darin gibt es eine Szene mit der Schlange, die sehr aufschlussreich ist für die Frage nach Leben und Tod. Diese Szene lässt erkennen, dass die Schlange sowohl negativ wie auch positiv gesehen wurde. Der Held der Geschichte, ein Halbgott, will unbedingt den Baum des Lebens finden, um ewig zu leben. Er kann sich mit der menschlichen Endlichkeit nicht abfinden. So macht er sich auf den Weg, hat viele Abenteuer und Begegnungen mit anderen Menschen, dann hat er endlich Glück und findet den Baum des Lebens. Er pflückt von seinen Blättern. Weil er aber so müde ist von seinen vielen Strapazen und Abenteuern, setzt er sich an einem Brunnenrand nieder, legt das Kraut neben sich und schläft ein. Da kriecht eine Schlange aus dem Brunnen herauf und frisst ihm das Kraut weg. Als er erwacht, ist er untröstlich… jetzt hat die Schlange das ewige Leben erlangt! (Gilgamesch XI/304 f.)

Wie kann das sein, dass die Schlange als Symbol für Leben, ja ewiges Leben verstanden wurde? Sie war ja ein sehr gefährliches Tier, besonders in der Hitze des Vorderen Orients, wie konnte sie also zu einem Symbol für ewiges Leben und Gesundheit werden? ‒ Es gibt dazu mehrere Erklärungen. Ein einleuchtender Grund ist: Die Menschen fanden kaum tote Schlangen, diese verkrochen sich in Höhlen, wenn sie ans Sterben kamen. Was die Menschen aber fanden, waren Häute, die an der Sonne trockneten. Daraus zogen sie den Schluss, dass die Schlangen sich immer wieder verjüngten und nie starben. Diese Auffassung hat sich sehr lange gehalten: die Schlange als Symbol für Gesundheit und langes Leben! In der hellenistischen Zeit wurde aus ihr die Aeskulap-Schlange, die sich noch mehr als 2000 Jahre gehalten hat. Sie werden heute kaum eine Apotheke finden, an der sich auf dem Logo nicht eine Aeskulap-Schlange um einen Stab windet, Symbol für Gesundheit und langes Leben.

Im Alten Testament gibt es sogar eine Stelle, die diese positive Sicht bestätigt: In vorexilischer Zeit stand im Jerusalemer Tempel ein Bronzestab mit einer Schlange, die «eherne Schlange». Wer zu ihr aufschaute, wurde gesund. Sie wurde einst von Mose aufgestellt, aber später von einem israelitischen König wieder entfernt.

Auch die Kantate spricht von einer erhöhten Schlange am Kreuz ‒ fast wie die eherne Schlange ‒ als Beginn der neuen Heilszeit.

Nach den vielen positiven Vorkommen der mythischen Schlange muss ich aber noch einmal auf den Alltag der damaligen Zeit kommen. Da war die Schlange ein ungemein gefährliches Tier. Sie schlich sich fast lautlos an, sie war tückisch und ihr Gift war zumeist tödlich. Es gibt zahlreiche Erwähnungen der gefährlichen Schlange, ich will hier nur einen besonderen Text vorstellen, der dies sehr krass deutlich macht. ‒ Wie die Menschheit an vielen Orten eine Erzählung über den Anfang, eine Schöpfungsgeschichte mit einem paradiesischen Zustand hatte, so gab es auch jeweils einen Mythos über eine Endzeit, die Eschatologie, wo dann wieder alles harmonisch und gut wird. Eine Stelle aus dem Propheten Jesaja aus dem 8. Jh. v.Chr. kann das gut belegen

«Am Ende der Tage wird es geschehen:
Und der Wolf wird beim Lamm weilen
und die Hyäne wird beim Zicklein liegen
und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.
Und der Säugling wird sich vergnügen am Loch der Viper,
und zur Höhle der Otter streckt das Kleinkind die Hand aus…»
(Jesaja 11, 6‒8)

In dieser Verheissung wird gesagt, dass das Kleinkind unbeschwert am Loch der Otter spielen kann! Wie die Menschen, so waren auch die Kleinkinder damals nicht viel anders als heute. Sobald die Kleinen kriechen oder laufen können, müssen sie überall die Welt ertasten. Besonders lieben sie es, ihre Fingerchen in Hohlräume, Löcher u.a. zu stecken. Dabei waren sie damals meist im Freien und nicht so behütet wie heute. Heute machen verantwortliche Eltern, wenn die Kleinen in der Wohnung herumkriechen, Deckel über alle Steckdosen, damit sie nicht mit dem Strom in Berührung kommen. ‒ Dass der Prophet Jesaja die Gefährlichkeit der Schlange im Zusammenhang mit Löwen und Hyänen nennt, bestätigt die Gefährlichkeit dieses heimtückischen Kriechtiers. Es gibt keinerlei Zahlen oder Statistiken, wie viele Kleinkinder damals durch Schlangenbisse umgekommen sind, zusätzlich zu der sowieso schon starken Kindersterblichkeit. Aber es müssen sehr viele gewesen sein, sonst hätte der Prophet sie nicht an so markanter Stelle aufgeführt.

Wie kommt es also, dass das gleiche Tier sowohl ein Symbol für Leben und Tod wie auch für Gut und Böse werden konnte? Diese Diskrepanz können wir nicht aufheben, es ist ein krasser Gegensatz ‒ französisch würde man sagen: Les extrèmes se touchent ‒, aber gleichzeitig gehören sie auch eng zusammen. Es ist die Ambivalenz von Leben und Tod, Gut und Böse, was überall zu schaffen macht und nirgendwo restlos erklärt werden kann. Diese Ambivalenz müssen wir aushalten, und jeder denkende Mensch muss sich damit beschäftigen.

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Zum Weiterlesen:

  • Helen Schüngel-Straumann: EVA ‒ die erste Frau in der Bibel: Ursache allen Übels? Paderborn, 2014
  • Othmar Keel: Die Stellung der Frau in der Erzählung von Schöpfung und Sündenfall. In: Orientierung 39 (1975), S. 74‒76
  • Silvia Schroer: Die Zweiggöttin in Palästina/Israel. In: Max Küchler/Christoph Uehlinger (Hrsg.): Jerusalem. Texte ‒ Bilder ‒ Steine (NTOA 6). Fribourg/Göttingen, 1987, S. 201‒225
  • Urs Winter: Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im alten Israel und dessen Umwelt (OBO 53). Fribourg/Göttingen, 1983, 2. Aufl., 1987
  • Das Gilgamesch-Epos, mehrere Ausgaben, z.B. Reclam.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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