Barmherziges Herze der ewigen Liebe

BWV 185 // zum 4. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Oboe, Streicher und Continuo

Der meisterliche Komponist Bach war nichts ohne seine Textdichter. Und so ist die 1715 in Weimar entstandene und 1723 in Leipzig wiederaufgeführte Kantate «Barmherziges Herze der ewigen Liebe» Zeugnis seiner kongenialen Zusammenarbeit mit dem Weimarer Hofbibliothekar und Sekretär Salomo Franck (1659–1725). Gerade Bachs Weimarer Kirchenkompositionen profitierten enorm von der anspielungsreichen und bildkräftigen Sprachkunst Francks, die Bach zu besonders eindringlichen und farbenreichen Umsetzungen anregte.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 185

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Regina Kabis

Alt/Altus
Alex Potter

Tenor
Jens Weber

Bass
Markus Volpert

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Martin Korrodi

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Martin Stadler

Fagott
Susann Landert

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Pia Reinacher

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
29.07.2007

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Salomo Franck, 1715

Textdichter Nr. 6
Johann Agricola, 1529

Erste Aufführung
nicht bekannt

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate «Barmherziges Herze der ewigen Liebe» gehört zu einer ganzen Gruppe von Kompositionen, die Bach aus seiner Weimarer Zeit mit nach Leipzig nahm und für die dortigen Bedingungen einrichtete. 1715 nach einem Libretto des Hofbibliothekars Salomo Franck in Weimar entstanden, wurde die Kantate später wahrscheinlich ein weiteres Mal am dortigen Hof und dann 1723 und nochmals Mitte der 1740er-Jahre im Leipziger Gottesdienst dargeboten.

Nicht untypisch für Bachs Weimarer Stil beginnt die Kantate nicht mit einem Tuttisatz, sondern einem Sopran-Tenor-Duett mit begleitendem Continuo, das den Satz mit charakteristischen 68- Schwüngen eröffnet. Dass Barmherzigkeit und Liebe etwas mit dem gebenden und nehmenden Verhältnis zweier Menschen zueinander zu tun haben, wird durch die zweistimmige Vokalbesetzung auch strukturell verdeutlicht. Verborgener Hauptdarsteller des von schmelzender Kantabilität und lieblich-konsonanten Führungen geprägten Duettes ist eine mit der Choralmelodie «Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ» betraute Oberstimme der Oboe, die Bach für Leipzigs grössere Kirchenräume einem Trompeten- oder Horninstrument übertrug.

Ein klingendes Bild der alle Verhärtung überwindenden Vergebung offeriert das folgende Rezitativ, dessen pianissimo geführte Streicherstimmen wie ein dem sanftmütigen Agieren der Altstimme aufgesetzter Heiligenschein wirken. Francks sprachmächtige Wortbilder befähigen Bach zu einer sowohl geschlossen wirkenden wie auch jeder Einzelwendung gegenüber sensiblen Vertonung. Dass Menschen immer Spielräume des vertrauenden Handelns haben, wird im zentralen Abschnitt des Satzes («Vergebt – so wird euch auch vergeben ») auf inspirierende Weise greifbar.

Während Martin Luthers befreiende Lehre einer durch blosse Leistung nicht verdienbaren Gnade noch damit rang, die durch den Glauben bereits geretteten Menschen trotzdem zu gutem Handeln zu motivieren, haben Bach und Franck in der Altarie dafür eine zu Herzen gehende Antwort parat, ist es doch kaum möglich, sich dem schimmernden Zauber des in langsamstem Tempo ausgekosteten schenkenden Tuns zu entziehen: «Sei bemüht, in dieser Zeit, Seele reichlich auszustreuen» – was Streicher und Oboe in feierlichem A-Dur schreitend zelebrieren, ist nichts anderes als die ansteckende Freundlichkeit eines im Evangelium verwandelten Daseins.

Hätte es zu Bachs Zeiten schon eine moderne Medialität gegeben, dann könnte das folgende Rezitativ mit seiner alltagsnahen Rhetorik wohl als Beispiel einer gelungenen Kurzpredigt für Funk und Fernsehen durchgehen, fordert doch das Libretto unter Heranziehung biblischer Gleichnisse dazu auf, sich von der törichten «Eigenliebe» zu lösen und vor dem Splitter im Auge des Nächsten erst den Balken im eigenen wahrzunehmen – eine lebenspralle Homilie, die Bach Wort für Wort und womöglich nicht ohne schalkhaftes Augenzwinkern nachzeichnet.

Diese moralischen Grundsätze werden in der folgenden Arie zu einer christlichen Vorbildethik überhöht. «Das ist der Christen Kunst, nur Gott und sich erkennen» – während die Basskantilene sich diese Norm abgeklärt zu eigen macht, liegt die deutende Pointe in der Instrumentalbesetzung verborgen, spielen doch nicht nur sämtliche Streicher ein- und dieselbe Unisonostimme, sondern selbst der Generalbass fügt sich dieser verbindlichen «Parteilinie» im Oktavabstand notengetreu ein. Besser hätte man das Einswerden von Gottesbild und Selbsterkenntnis sowie den Verzicht auf jede krittelnde Distanz nicht fassen können als in dieser tiefliegenden Miniatur, bei der notabene auch Bach selbst auf fast alle Kunstentfaltung demonstrativ verzichtete.

Dafür stattete er den Schlusschoral – die erste Strophe des Bittliedes «Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ» von Johann Agricola (1530) – mit einer aus der vokalen Vierstimmigkeit heraustretenden Violinpartie aus, die wie ein heller Morgenstern den «rechten Weg» zu Glauben und Nächstenliebe überstrahlt und so zu finden hilft.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Arie Duett und Choral (Sopran und Tenor)

Barmherziges Herze der ewigen Liebe,
errege, bewege mein Herze durch dich;
damit ich Erbarmen und Gütigkeit übe,
o Flamme der Liebe, zerschmelze du mich!
Barmherziges Herze der ewigen Liebe,
errege, bewege mein Herze durch dich!

2. Rezitativ (Alt)

Ihr Herzen, die ihr euch
in Stein und Fels verkehret,
zerfließt und werdet weich;
erwägt, was euch der Heiland lehret,
übt, übt Barmherzigkeit
und sucht noch auf der Erden
dem Vater gleich zu werden.
Ach! greifet nicht
durch das verbotne Richten
dem Allerhöchsten ins Gericht,
sonst wird sein Eifer euch zernichten.
Vergebt, so wird euch auch vergeben;
gebt, gebt in diesem Leben;
macht euch ein Kapital,
das dort einmal
Gott wiederzahlt mit reichen Interessen;
denn wie ihr meßt, wird man euch wieder messen.

3. Arie (Alt)

Sei bemüht in dieser Zeit,
Seele, reichlich auszustreuen,
soll die Ernte dich erfreuen
in der reichen Ewigkeit,
wo, wer Gutes ausgesäet,
fröhlich nach den Garben gehet.

4. Rezitativ (Bass)

Die Eigenliebe schmeichelt sich.
Bestrebe dich,
erst deinen Balken auszuziehen,
dann magst du dich um Splitter auch bemühen,
die in des Nächsten Augen sein.
Ist gleich dein Nächster nicht vollkommen rein,
so wisse, daß auch du kein Engel,
verbeßre deine Mängel!
Wie kann ein Blinder mit dem andern
doch recht und richtig wandern?
Wie, fallen sie zu ihrem Leide
nicht in die Gruben alle beide?

5. Arie (Bass)

Das ist der Christen Kunst:
nur Gott und sich erkennen,
von wahrer Liebe brennen,
nicht unzulässig richten,
noch fremdes Tun vernichten,
des Nächsten nicht vergessen,
mit reichem Maße messen,
das macht bei Gott und Menschen Gunst,
das ist der Christen Kunst.

6. Choral


Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ,
ich bitt, erhör mein Klagen,
verleih mir Gnad zu dieser Frist,
laß mich doch nicht verzagen;
den rechten Weg, o Herr, ich mein,
den wollest du mir geben,
dir zu leben,
mein’m Nächsten nütz zu sein,
dein Wort zu halten eben.

Reflexion

Pia Reinacher

«Süsse Gefühle – dämonische Albträume»

Vom Ende der gebrauchsfertig vorpräparierten Moral

Die Liebe ist eine Kraft, die alle Verhältnisse erschüttert. Sie fegt ver­rottete Beziehungen weg und legt verschüttete Empfindungsräume frei. Sie weckt Erlösungs- und Verwandlungsphantasien. Sie fordert mit ketzerischer Unbedingtheit die Wiedergeburt mitten im Leben. Wer von der Liebe entflammt wird, folgt irrationalen Regeln, die ihn selbst in einen Strudel stürzen.
Vielleicht rennt er kopflos davon. Vielleicht versinkt er in nacht­dunkler Depression. Vielleicht lässt er sich von feurigen Gefühlen treiben und verrennt sich in einen Zustand narkotisierter Wahrneh­mung. Vertraute Menschen werden unerträglich. Gewohnheiten verlieren ihren Reiz. Liebgewordene Rituale lassen ihn plötzlich kalt. Wer liebt, kommt sich selbst abhanden. Das Verhältnis zur Welt gerät ins Wanken. Eines steht dabei fest: Die Leidenschaft führt an die Grenzen des Sagbaren. In diesem Prozess wird das liebende Subjekt in einen Ausnahmezustand geschleudert.
Es handelt sich hier um das Symptomprofil der Liebe – aus welt­licher, moderner Sicht. Johann Sebastian Bachs Kantate «Barmherzi­ges Herze der ewigen Liebe» spricht von dieser unbändigen Kraft der Liebe, wenn wir auch nicht ganz sicher sein können, welche Va­riante damit gemeint ist. Ist es die Liebe zu Gott, oder umschliesst diese in ihrem Kern eben auch die erotische Liebe? Spricht sie von der Liebe als Passion, von der romantischen oder gar von der plato­nischen Liebe? Zielt sie auf die Nächstenliebe oder fordert sie keck die Selbstliebe? Nur eines steht zunächst fest. Der Textschreiber wusste um die rätselhafte Macht dieser Empfindung, darum be­schwört er das vertrackte Gefühl gleich mit den ersten Versen – in einem für uns nüchterne Zeitgenossen verblüffend pathetischen Lobgesang:

«Barmherziges Herze der ewigen Liebe,
errege, bewege mein Herze durch dich;
damit ich Erbarmen und Gütigkeit übe,
O Flamme der Liebe, zerschmelze du mich!»

 Der Weimarer Oberkonsistorial-Sekretär Salomon Franck, eines der originellsten und begabtesten Dichtertalente unter all jenen, die mit Bach zusammengearbeitet haben, transportiert an seine Hörer das geheime Wissen um die irrationale, unwiderstehliche, ambiva­ lente Wirkung der Liebe. Er weiss, dass dieses Gefühl die stärkste Zuneigung ausdrückt, die ein Mensch für einen anderen Menschen zu empfinden imstande ist.
Allerdings kennt er auch die kalte Kehrseite, die Desillusionierung und Enttäuschung, die dem Rausch folgen können. Hass, Kälte, Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit sind Vorboten und Symptome des Verfallsdatums. Sie künden vom rasanten Umsturz süsser Gefühle in dämonische Albträume und verwandeln den «hortus amoenus» unversehens in einen Kampfplatz der Destruktion.
Die diskret eingestreuten, aber unüberhörbaren Warnungen des Weimarer Dichters vor der Hartherzigkeit, sein Appell an Barmher­zigkeit und an die Weichheit des Herzens sprechen eine deutliche Sprache. Es ist eine zwiespältige Botschaft, die den Hörer der Kan­tate gleichzeitig verführerisch überzeugen und ihm, ganz in baro­cker Manier, unterschwellig auch ein bisschen Angst einjagen soll – nur so prophylaktisch, für den Fall, dass der Mensch sich nicht an die Vorgaben des Heilands halten sollte:

«Ihr Herzen, die ihr euch
in Stein und Fels verkehret,
zerfliesst und werdet weich,
erwägt, was euch der Heiland lehret,
übt, übt Barmherzigkeit und sucht noch auf der Erden
dem Vater gleich zu werden.
Ach! Greifet nicht durch das verbotne Richten
dem Allerhöchsten ins Gericht,
sonst wird sein Eifer euch zernichten.

Vergebt, so wird auch euch vergeben;
gebt, gebt in diesem Leben;
macht euch ein Kapital,
das dort einmal
Gott wiederzahlt mit reichen Interessen;
(…)»

Dieser Kantatentext, den der Dichter eigens für die Aufführung am 4. Sonntag nach Trinitatis, dem 14. Juli 1715, in Weimar geschrieben hat, ist geschwängert mit Merksätzen aus der Bibel. Er buchstabiert Gleichnisse und Denkbilder, welche die Heilige Schrift als verbind­lich für den Glauben vorgibt. Er evoziert Symbole, die der zeitgenös­sische Zuhörer zu Beginn des 18. Jahrhunderts ohne nachzudenken entschlüsselte, er rekurriert auf Bilder, die er ohne Zögern entzifferte. Kein Zweifel, Bachs Kantate «Barmherziges Herze der ewigen Liebe» ist eine Schule der Gefühle. Sie zielt auf Höheres als nur auf kurzweilige Unterhaltung. Sie hat nichts weniger im Sinn, als Mo­ delle des richtigen und des falschen Lebens vorzuführen. Insofern verfolgt sie eine didaktische Absicht. Dem Gläubigen soll der gute und der schlechte Weg aufgezeigt werden. Ein idealtypischer Lebens­entwurf, aber im Kleinformat. Der aus der Feder des Theologen Johann Agricola stammende und bereits vor 1530 geschriebene Cho­ral fasst die Ergebnisse der moralischen Belehrung kurz und bündig zusammen:

«(…) den rechten Weg, o Herr, ich mein,
den wolltest du mir geben,
dir zu leben,
mein’m Nächsten nütz zu sein.
dein Wort zu halten eben.»

Richtig ist die Verflüssigung des Herzens. Richtig ist, mit der Liebe verschwenderisch umzugehen. Richtig ist, von der übersteigerten Eigenliebe Abstand zu nehmen. Und richtig ist, durchaus mal von der Liebe entflammt zu werden, vielleicht sich sogar daran zu ver­brennen – bei alledem die Nächstenliebe aber nicht zu vergessen.
Das barocke Weltbild war ein geschlossenes, die Botschaften ein­deutig, die Hierarchien unverrückbar. Das Leben ein gigantisches Maskenspiel, die eigene Rolle eine Selbstinszenierung im festen Gefüge des «theatrum mundi», das vom Antagonismus von Dies­seits und Jenseits, Lebensgier und Todesangst, ratio und vanitas, Verheissung und Strafe bestimmt war. Wer nicht spurte, wurde durch Musik, Literatur und Kunst schaudererregend über mögliche Strafen und Konsequenzen belehrt. Mir kommt die Wallfahrtskirche im Hergiswald in den Sinn, die, unweit von Luzern, versteckt im Wald am Nordabhang des Pilatus, ein dramatischer Ort der baro­cken Instruktion ist. Mit dem Felixalter des Meisters Hans Ulrich Räber wurden die Zeitgenossen über die Richtlinien des Weltgerichts belehrt.

Tugend und Moral
Auch in dieser pädagogischen Inszenierung überblenden sich die weltliche Liebe und die Gottesliebe auf undurchschaubare Weise – aber wehe, wer sich in diesem Spiel, in diesem Welttheater, auf die falsche Seite geschlagen hat. Die Predella des Alters demonstriert deren Schicksal. Auf ihrer Bühne zeigt sie das Erwachen der Toten am Jüngsten Tag. Auf der linken Seite sehen wir holde, tugendhafte, wenn auch ziemlich aseptische Menschen, die von Engeln in den Himmel hinaufgezogen werden. Rechts aber fangen gehörnte, bocksfüssige, gefährlich fletschende, im Ganzen aber nicht uninter­essante Teufel mit Lassos die Sündigen ein – übrigens meistens hochbusige, rothaarige Damen – um sie alsbald grausam ins Höllen­feuer zu stossen. Auf der linken, flankierenden Säule streben die Gerechten in den Himmel, rechts zerren Ungeheuer mit Mistgabeln die Verdammten ins Purgatorium. – So ging das zu in den Zeiten von Johann Sebastian Bach. Mit den ausgelassenen, plastischen, überschwänglichen Mitteln der Kunst wurde das Therapieziel des tugendhaften Lebens anvisiert. Mit Musik, Literatur und Kunst wurde gelenkt, beeinflusst, gesteuert und umgebogen. Über diese Medien verschafften sich die Statthalter Gottes auf Erden Respekt. Geht das heute noch? Das ist die Frage, die wir uns beim Anhören dieses Kantatentextes stellen.
Können die raffinierten Einschüchterungs- und Belehrungsmethoden des Barocks uns aufgeklärten Zeitgenossen noch etwas anha­ben? Gelingt es uns überhaupt noch, sie zu entziffern? Und wenn wir sie entziffern: Bewegen sie etwas in uns? Fühlen wir uns vom leicht frömmlerischen Unterton, vom ungenierten Pathos, vom ver­staubten Charme dieser moralischen Merksätze aus dem religiösen Poesiealbum noch betroffen? Reagieren wir aufgeklärte Bürger überhaupt noch auf diese Appelle? Wir haben ja doch inzwischen gelernt, uns des eigenen Verstandes zu bedienen, Denkvorgaben zu misstrauen, dumpfe Glaubenssätze zu verwerfen und den persönlichen Einsichten zu vertrauen. Alles ist eine Frage des Zeitgeistes, gewiss, und dieser ist nicht mehr, wie er damals war. Wo Bach auf ein geschlossenes Weltbild zählen konnte, leben wir in einem aufge­brochenen Universum. Wo Jenseitssehnsucht das Denken bestimmte, berauschen wir uns lustvoll an der Diesseitigkeit.
Kein Zweifel, die Musik Bachs ist zeitlos – aber der Kantatentext ist zeitgebunden. Denn «Frau Musica» besitzt ontische Qualitäten, sie erreicht ihren Adressaten direkt, affektiv, sinnlich spürbar und jenseits des Bewusstseins. Kein Zufall, dass schon der Genfer Refor­mator Calvin der Kälte und der Versteinerung des Herzens mit der bewegenden Wirkung der Musik entgegentreten wollte. Nicht so einfach gelingt das mit den Versen der Kantate. Sie müssen zuerst buchstabiert, verstanden, ihre Bilder und Metaphern entschlüsselt sowie in einen theologischen Kontext eingeordnet werden.
Sind wir so bibelfest, dass wir die theologischen Anspielungen sogleich erkennen und ihren Sinn freilegen?
In diesem Dschungel hilft uns eine andere Fährte weiter. Wie fremd uns die Denkbilder dieser Bachkantate auch anmuten, sie überwinden in verwandelter Form die Zeit. Als Kerngedanken zum richtigen Leben haben sie die Säkularisierung überdauert. In den literarischen Geschichten, die sich die Menschen ständig neu erzäh­len, tauchen sie immer wieder als Leitideen auf, wenn auch je nach Zeitgeist unter anderen Masken.
Ich nenne vier zentrale Ideen, Versatzstücke aus Bachs Kantate, die wir ohne weiteres in die Neuzeit transponieren können. Erstens: das Bild vom versteinerten Herzen, das mittels Affekt zum Schmel­zen gebracht und nach reinigender Katharsis erweicht. Zweitens: das Säen der Liebe, das zu Gegenliebe provoziert. Drittens: die De­nunziation der Eigenliebe, die zu Blindheit gegenüber eigenen Schwächen und Fehlern führt. Viertens: die Nächstenliebe, die auch eine Folge der Selbsterkenntnis ist und ein gerechtes Verhalten anderen gegenüber auslöst.
Bereits eine kleine Expedition durch die Schweizer Literatur demonstriert, dass die christlichen Variationen über die Liebe auch in den Texten unserer Autoren zur Sprache kommen. Nur wird das Phänomen beinahe nie anhand der Gottesliebe, sondern fast immer anhand der erotischen Liebe untersucht. Schon von jeher waren die Schriftsteller die Analysten und Kommunikatoren leidenschaftlicher Gefühle. In ihren Werken diskutieren sie Regelsysteme und Verbote, Lebensgier und Moral – mit den Mitteln ihrer Zeit. Es sind die Urgeschichten der Menschheit, die jede Gesellschaft neu hervorbringt. Es sind die stets alten und unvergleichlichen Erzählungen über Scheitern und Schuld, Verlangen und Konflikt, die jede Epoche an­ ders erzählt. Darin spiegelt sich jeweils ein Sittenbild der Zeit. Die Schlüsselgedanken aber haben ihren Ursprung in der Bibel, diesem Buch der Bücher. Diese literarischen «Frömmigkeitsübungen» un­terscheiden sich in einem zweiten Punkt radikal vom Muster eines Kantatentextes von Johann Sebastian Bach. Sie verzichten nämlich auf Moral. Sie verzichten auf Merksätze. Sie verzichten auf Rezepte zum richtigen und falschen Leben. Ihre Methode ist nicht das Ein­ pauken, sondern das Vorführen, ihre Wirkung liegt nicht im Ideolo­gisieren, sondern im urteilsfreien Illustrieren dessen, was der Fall ist. In zeitgenössischen Texten wird nicht gepredigt, sondern erzählt. Die Schlüsse über die richtige Lebensgestaltung muss der emanzi­pierte, autonome, durch Humanismus und Aufklärung geläuterte Leser schon selber ziehen.

Das versteinerte Herz
Lassen Sie uns abschweifen. An zwei Beispielen aus allernächster Nähe möchte ich Ihnen veranschaulichen, wie die Kerngedanken der Bachkantate «Barmherziges Herze der ewigen Liebe» auch und gerade von den Schweizer Schriftstellern zur Sprache gebracht wer­den. Die Metapher des versteinerten Herzens ist uralt. Salomon Franck hält sich an das Buch des Propheten Hesekiel im Alten Tes­tament und seinen Satz:

«Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben.»

Diesen Sinnspruch unterfüttert er zusätzlich mit einem Wort aus den Psalmen, nämlich:

«Mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.»

Bei dieser Ausgangslage müssen wir nicht lange suchen, sondern werden sofort bei Gottfried Keller fündig. Das satirische Porträt ei­ner versteinerten Schönen in Gottfried Kellers Novelle «Pankraz der Schmoller» gehört zum Erlesensten auf diesem Feld. Keller ist an Betty Tendering beinahe zerbrochen. Die hochfahrende Schöne, stadtbekannte Reiterin und spätere Gattin eines Brauereibesitzers, treibt den buckligen, verschlossenen, ungehobelten und widerbors­tigen Keller in den rettungslosesten Liebeskummer seines Lebens. Das unbedeutende Schweizerlein lernt die Frau in Berlin kennen und verliebt sich unsterblich. Die herrische, laszive Stolze bringt den Brummler, der sich vornehmen Damen gegenüber naturgemäss wie ein Stockfisch zu benehmen pflegt, beinahe um den Verstand. Die elegante Personnage hält ihn hin, gängelt ihn genüsslich, sie ist ein Stein, der nicht zu erweichen ist. Aus blossem Narzissmus treibt sie den Dichter schliesslich zum Geständnis seiner Gefühle, nur um ihn dann genussvoll zurückzuweisen.
In seiner Novelle hat sich Gottfried Keller später an der harther­zigen Dame gerächt. Er lässt sie als Tochter eines Regimentskom­mandeurs auftreten und zeichnet ihren Charakter mit spöttischem Scharfsinn. Wir sehen eine selbstsüchtige, hartherzige Kokette, die mit tückischer Schlauheit den Verliebten so lange leiden lässt, bis er endlich das ersehnte Liebesgeständnis spuckt – was sie durchaus gnädig entgegennimmt. Nicht die Liebe hat Lydia im Sinne, sondern eitle Selbstbespiegelung und blinde Herrschaft über den stottern­ den Verliebten.
Eine schöne Rache, wie der Schriftsteller die Hartherzige für alle Zeiten an den Marterpfahl seiner Weltliteratur bindet – aber wir dürfen nicht übersehen, dass dieses Motiv nur vordergründig ist. In Wahrheit diskutiert Gottfried Keller an diesem Beispiel Sinnange­bote und denkt über christlich-moralische Regeln über das richtige und falsche Verhalten nach.
Zweite Abschweifung: auch die Sache mit dem Balken, dem Split­ter in den Augen und der eigenen Blindheit, wird schon in der Bibel gepredigt. Der Kantatendichter hält sich eng an einen Appell aus dem Neuen Testament. Die Stelle im Matthäusevangelium lautet:

«Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen, zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.»

Die Banalität des Bösen
Mit der Kernfrage nach Lastern wie der Eigenliebe, der Heuchelei und der Blindheit in eigener Sache setzt sich der Schweizer Schrift­steller Markus Werner in seinem Roman «Am Hang» auseinander. Das geht so: Zwei Männer, die sich zufällig im Hotel Bellavista in Montagnola getroffen haben, ziehen sich gegenseitig über den Tisch. Zumindest versuchen sie es. An einem Pfingstwochenende lernen sich die beiden, die unterschiedlicher nicht sein könnten, kennen und kommen nicht mehr auseinander. Der smarte Scheidungsan­walt Clarin, ein Mann Mitte dreissig, oberflächlicher Tatmensch und leichtsinniger Verführer, wird seltsam angezogen von Loos, einem Mann Anfang fünfzig, verschrobener Sonderling, Spezialist für tote Sprachen und linker Moralist.
Der Rechtsanwalt, ein notorischer Schürzenjäger, hält die Ehe für undurchführbar, für einen Irrweg, für eine glatte Überforderung der menschlichen Natur. Loos dagegen, der behauptet, seine von ihm vergötterte Frau vor einem halben Jahr durch einen Hirntumor ver­loren zu haben, ist in allem das pure Gegenteil. Er sei von Natur aus nicht aufgeschlossen, das sei der Fluch der Treue, meint er.
Von Clarins Theorien über die ewige Wiederholung in der Ehe hält Loos nichts. Er verwickelt den Jüngeren in eine Unterhaltung über ihre Lebens- und Liebesgeschichte. Zwei Nächte verbringen die beiden Männer miteinander, debattierend, trinkend. Dabei ent­hüllen sie gegenseitig ihre Ansichten über Erotik, Anziehung und Wahrhaftigkeit. So scheint es zumindest auf den ersten Blick.
In Realität wird ein moralisches Lehrstück gegeben. Markus Werner verhandelt in seinem Roman «Am Hang» die Banalität des Bösen, die zerstörerischen Wirkungen des Zeitgeistes, die verwerflichen Folgen der missbrauchten Liebe und die verheerenden Auswirkungen einer zerfallenden Emotions- und Beziehungskultur. Zu Gericht gesessen wird über Wahrheit und Blindheit, nur findet das Tribunal selber un­ter dem Deckmantel der Täuschung statt. Was sich als aufflammende Männerfreundschaft präsentiert, entpuppt sich nach und nach als kühl arrangiertes Setting zwischen Richter und Angeklagtem. Sie ver­suchen sich gegenseitig zu entlarven und ihrer Fehler zu bezichtigen. Es ist ein virtuoser Tanz um Blindheit, Täuschung und Lüge. Das Interesse von Loos und Clarin aneinander ist weniger ein Symptom wachsender Sympathie, sondern ein Zeichen von Rivalität, das ge­genseitige Aushorchen, ein Trick unter Gegnern. Der Freundschafts­diskurs ist in Wahrheit ein Verhör unter Feinden.
Alle Gewissheiten geraten dabei ins Wanken und alle Wahrheiten drehen sich um sich selbst. So radikal unterschiedlich die Männer auch scheinen, sie sind sich in Wahrheit verblüffend ähnlich. Beide haben wohl die gleiche Frau geliebt.
Und beide lügen. Loos, der von Anfang an die Rolle des Verhörers und stummen Richters für sich reklamiert, um das verstiegene Lebensgebäude seines Rivalen zu entlarven, lügt dabei um einiges handfester als sein jüngerer Gegner. Er lügt die eigene Biografie um. Er täuscht eine falsche Identität vor. Mehr noch: Er lügt die zwölf­ jährige Ehe mit seiner Frau zu einem regelrechten Glücksfall um, zu einer idealen Beziehung und ihren Untergang zu einem unverschul­deten Unglücksfall.
Auch bei Markus Werner kollidieren effektvoll zwei Konzepte von Moral und Wahrhaftigkeit. Aber weit und breit gibt es keine Aussicht auf ein eindeutiges Ergebnis. Der Schriftsteller zeigt nur, was der Fall ist. Er macht uns auf die Beschädigungen im Seelenleben seiner Figuren aufmerksam. Er nimmt uns die Selbstgewiss­heit. Am Ende liefert er Hinweise zur Austauschbarkeit aller Urteile über Schuld und Lüge. Damit lässt er uns allein.
Das ist die zeitgenössische Variante des alten Gedankens aus dem Matthäusevangelium. Es ist eine moderne Antwort auf die Frage, welche die Bachkantate aufwirft. Es ist die Frage nach der Eigen­ liebe, die vor allem die eigene Person schont. Die ironische Feststellung, dass man selbst ein Mängelwesen und so wenig ein Engel wie der andere sei. Der spöttische Ratschlag, doch besser die eigenen Fehler zu verbessern, bevor man den Nächsten bei seinen Schwä­chen ertappe – da sonst – und jetzt sind wir wieder in der Barock­ zeit – die beiden Blinden zu ihrem Leide alle beide in die Grube pur­zeln würden.
Allerdings leben wir nicht mehr in einer geschlossenen Welt. Alle Eindeutigkeiten haben sich verloren, alle verbindlichen Vorgaben aufgelöst. Moral wird nicht mehr gebrauchsfertig vorpräpariert. Das Sinnangebot, das der zeitgenössische Schriftsteller parat hat, liegt im Text selbst versteckt. Da verbergen sich die existenziellen Kernfragen, die nach neuen Antworten verlangen. Sie zu suchen und zu finden, liegt allein an uns.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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