Gloria in excelsis Deo
BWV 191 // zum 1. Weihnachtstag
für Sopran und Tenor, Vokalensemble, Trompeten I–III, Pauken, Flauto traverso I+II, Oboe I+II, Fagott, Streicher und Continuo
Kantate zum ersten Weihnachtstag. Die Entstehungszeit und das Datum der erstmaligen Aufführung sind nicht bekannt. Es bleibt offen, ob es sich überhaupt um eine Kantate im gebräuchlichen Sinne des Wortes handelt, möglicherweise war es der Auftrag eines auswärtigen Bestellers. Alle drei Sätze entlehnen die Musik aus der h-Moll Messe Bachs.
Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...
Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Mirjam Berli, Susanne Frei, Leonie Gloor, Guro Hjemli, Mami Irisawa, Damaris Nussbaumer, Jennifer Rudin, Noëmi Tran-Rediger
Alt/Altus
Alexandra Rawohl, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Lea Scherer
Tenor
Marcel Fässer, Nicolas Savoy, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Anaïs Chen, Sylvia Gmür, Sabine Hochstrasser, Martin Korrodi, Livia Wiersich
Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof
Violoncello
Claire Pottinger
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Luise Baumgartl, Thomas Meraner
Fagott
Susann Landert
Trompete/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel, Klaus Pfeiffer
Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein, Maria Mittermayr
Timpani/Pauke
Martin Homann
Orgel
Norbert Zeilberger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Dr Phil Notker Wolf Osb
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
18.12.2009
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Der Eingangschor «Gloria in excelsis» wurde in Text und Musik nahezu wörtlich übernommen, während das Sopran-Tenor-Duett «Gloria patri et filio et Spiritui sancto» sowie der vollstimmige Schlusschor «Sicut erat in principio» mehr oder weniger weitgehende Umarbeitungen nach den Sätzen «Domine Deus» und «Cum sancto spiritu» der Messe darstellen. Neben seiner Neutextierung stellte die Kürzung des Duettes um 20 Takte den stärksten Eingriff dar. Der wuchtige Schlusschor wurde hingegen in zahlreichen Details verändert, wovon der regelmässige Einschub eines zusätzlichen Taktes jeweils zu Beginn der Textphrase «Sicut erat in principio» jedem mit der h-Moll-Messe vertrauten Hörer auffallen dürfte. Darüber hinaus hat Bach den in der Messe noch weitestgehend mit den Oboen unisono geführten Flöten eigene Partien zugewiesen, was dem zuvor in einem allgemeinen Sinne «festlichen» Stück vielleicht eine spezifisch «weihnachtliche» Anmutung verleihen sollte und für einen organischen Anschluss an das ebenfalls flötenbegleitete Duett «Gloria patri» sorgt. Über die Bestimmung zum ersten Weihnachtstag und die leicht erkennbaren Parodievorlagen hinaus sind die Entstehungsumstände der Komposition jedoch ungeklärt. Keineswegs handelt es sich um eine liturgische Messe; die dem Duett vorangestellte Bemerkung «Post orationem» belegt vielmehr, dass es sich um eine zweiteilige Musik im Umfeld der Predigt handelt, wie dies für Bachs Kirchenkantaten generell typisch war. Da es für die höchst ungewöhnliche Aufführung einer lateinischen Evangelienvertonung im Leipziger Stadtgottesdienst gegenwärtig keine Hinweise gibt, hat bereits der Herausgeber Alfred Dürr einen besonderen Anlass und vielleicht eine auswärtige Bestellung der Komposition ins Spiel gebracht – einer jener Fälle, bei denen Bach es mit einer winzigen Nachbemerkung auf dem Autograph Generationen von Forschern hätte leichter machen können. Auch die Datierung des Werkes lässt sich nur anhand des Papierbefundes auf Bachs letztes Lebensjahrzehnt eingrenzen – um eine reizvolle und zu Unrecht wenig gespielte Wiederverwendung dreier Sätze aus Bachs grandioser Messe handelt es sich jedoch allemal.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
«gloria in excelsis deo»
Der Text ist der Engelsgesang aus Lukas 2, 14 in der Version des Ordinariums der Messe (in der lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, heisst es: «gloria in altissimis Deo et in terra pax in hominibus bonae voluntatis». Mit dem angefügten Zusatz bildet es das sog. Kleine Gloria, welches bei Hymnen, in katholischer und lutherischer Tradition auch bei den Psalmen, den abschliessenden Lobpreis bildet. In der Kantate verteilt sich der Text auf drei Sätze, von denen der erste vor und die andern beiden nach der Predigt musiziert werden.
1. Chor
Gloria in excelsis Deo.
Et in terra pax hominibus
bonae voluntatis.
1. Chor
Ehre sei Gott in der Höhe.
Und auf Erden Friede den Menschen
guten Willens.
Post orationem
2. Duett (Sopran, Tenor)
Gloria Patri et Filio
et Spiritui sancto.
Post orationem
2. Duett (Sopran, Tenor)
Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist.
3. Chor
Sicut erat in principio et nunc et semper
et in saecula saeculorum, amen.
3. Chor
Wie es war im Anfang, so auch jetzt und immer
und in Ewigkeit. Amen.
Notker Wolf
Unser Versagen mag gross sein, die Liebe Gottes ist unendlich grösser
«Gloria in excelsis Deo» – oder von der Würde des Menschen, Gott rühmen zu dürfen
«Musiker sind die Architekten des Himmels.» Dieser Ausspruch des grossen Popmusikers Bobby McFerrins gilt wahrlich für Johann Sebastian Bach. Mit seiner Musik gibt er der herrlichen Struktur und Ausgestaltung der Kirche von Trogen eine weitere Dimension. Durch das barocke Halbrund des Orgelprospekts blicken wir in den Himmel – wie einst die Hirten auf dem Felde bei Bethlehem – und vernehmen eine himmlische Musik. Wir erahnen etwas von der Grösse und Herrlichkeit Gottes.
Wenige Worte sind es, mit denen der Grossmeister kirchlicher Musik in seiner Weihnachtskantate seine Zuhörer und Beter an das Geheimnis christlichen Glaubens heranführt. Fast enttäuschend mag es klingen, wenn wir feststellen, dass Bach wesentliche Elemente dazu aus seiner monumentalen h-moll-Messe herausgenommen hat. Doch sind es die entscheidenden Worte aus der Weihnachtsbotschaft des Christentums.
Der Himmel selbst tut sich auf, und die Engel interpretieren, was mit Weihnachten beginnt: der seit Menschengedenken und bis heute ersehnte Friede. Eine Welt, die gekennzeichnet ist von Krieg, Folter, Gewalt und Lüge, diesen Ausprägungen der Sündhaftigkeit des Menschen, eine Welt, die in Finsternis liegt, erfährt in dieser Nacht, der «heiligen» Nacht, die Neugeburt und neue Schöpfung.
Der Friede, ursprünglich angelegt in der Schöpfung der Natur und des Menschen, verborgen wie in einer Knospe, wird sichtbar. Die Knospe des Reises wird von Gott selbst geöffnet. Friede wird geschenkt «den Menschen guten Willens» oder wie es in einer treffenderen Übersetzung lautet: «den Menschen seines Wohlgefallens». Gemeint sind die Menschen der Gnade Gottes, denen Gott unverdientermassen in der Fülle der Zeit dieses kostbare Geschenk vermacht, unsere Sehnsucht nicht ins Leere laufen lässt, in die Absurdität. Der Mensch selbst kann sich diesen Frieden nicht geben. Gott ist es, der die Hoffnung und die Erfüllung schenkt.
Der Himmel tut sich auf, ein helles Licht erscheint, die grosse Schar der Engel hebt an zu singen, und wir sind berufen, in diesen Lobpreis mit einzustimmen. Die Engel, diese wesen vorderorientalischer Mythologie, werden vom Lukasevangelisten übernommen. Sie sind ein Zeichen der unbeschreibbaren Lebensfülle Gottes. Gott ist kein Gott des Todes, er ist ein Gott des Lebens und der Gemeinschaft. Er thront nicht als unbewegter Erstbeweger über allen Dingen, sondern teilt seine Fülle, sein Leben anderen Wesen mit. «Was ist doch der Mensch, dass du seiner gedenkst», singt der Psalmist (Psalm 8). Der Mensch wird in diese Lebensfülle Gottes hineingehoben, er bekommt Anteil an diesem Leben, an diesem Licht. Er erlangt seinen Frieden in der Einheit mit Gott selbst.
Gott schenkt uns diesen Frieden nicht mit abstrakter Zusage, mittels einer besonderen Lehre, die wir befolgen müssten. Nein, er wird einer von uns selbst. Den Hirten wird gesagt: «Geht in die Stadt Davids, die Bethlehem heisst. Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.» Sinngemäss dürfen wir fortfahren: Dort findet ihr mich selbst, in einer Gestalt, die ihr nie erwarten würdet. Ich hebe euch hinaus über all eure Erwartungen. Ich komme zu euch, werde einer von euch, trage euer Leben und euer Leiden mit und führe es weiter in die ewige Herrlichkeit. Ich führe euch zu mir, wo keine Träne und kein Schmerz mehr sein werden, kein Krieg, keine Lüge. Ich führe euch in das Reich der Wahrheit und des Lebens. Das ist unser Christengott. Unfassbar in seinen Gedanken, in seinem Geheimnis und doch offenbar in seiner sich selbst entäussernden Liebe.
Daher ruft die christliche Gemeinde in der Liturgie mit den Engeln: «Gloria – Ehre sei Gott in der Höhe.» Und Bach greift im nächsten Satz das zweite in der Liturgie häufig gehörte «Ehre sei» auf, nämlich die Worte, die am Ende von Hymnen und Psalmen entfaltet werden in das Lob auf die Dreifaltigkeit, auf den Gott, der sich uns in dreifacher weise offenbart hat. Dieser Gott ist in Jesus Mensch geworden, und Jesus hat ihn uns als seinen Vater offenbart. Er lebte in Einheit mit diesem Vater, der allein die Welt zu ihrer Vollendung führt, in dessen Weisheit alles beschlossen ist. Diese Weisheit ist der Geist Gottes, der an Pfingsten allen geschenkt wurde, die sich wie die Hirten diesem Gott öffnen. Er ist nicht irgendein Intellekt, der über allem schwebt. Er ist das Leben und die Liebe Gottes selbst, an der wir Christen Anteil haben. Wir werden hineingenommen in diese Herrlichkeit Gottes, in diesen Himmel. Nicht erst nach unserem Tod, sondern schon jetzt in diesem Erdenleben. Das ist unsere würde. Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott würde, eins mit Gott selbst. Ehre sei daher Gott in der Höhe, und den Menschen auf Erden wird Friede.
In der Kantate nun hebt der Chor der Engel mit dem Lobpreis an, singend und musizierend wie auf den glanzüberfluteten Bildern von Giotto, Cimabue und anderen Meistern der italienischen Frührenaissance.
Der Friede auf Erden kommt zunächst im Piano daher und breitet sich in breiten wellen immer mehr aus, so als wolle er langsam den ganzen Erdball umfliessen und umschliessen, bis hin zum festlichen Schlussakkord des ersten Teils: die Vollendung der Verheissung.
Im Herzen der Menschen erklingen die Flöten – die Instrumente der Hirten – in freudig verhaltener weise, sie öffnen sich und nach und nach stimmen Menschen mit ein in ihr irdisches Gloria, ein Gloria des Dankes an den Vater, den Mensch gewordenen Sohn und den Geist, der uns geschenkt ist.
Dieser Geist ist es, der den Lobpreis von Menschen und Engeln zusammenführt. Das menschliche Gloria wird in das himmlische hineingehoben. Der Mensch wird gewürdigt, mit den Engeln die Herrlichkeit Gottes zu besingen: Überwunden sind Not und Tod. «Seht, der Retter ist da.» Die Herrlichkeit Gottes, unsere Verherrlichung wird besungen. Wo Gott die Ehre gegeben wird, herrschen Freude und Friede. Unsere irdische Wirklichkeit mag noch freudlos ausschauen. Das Gloria ist die grosse Hoffnung, die Freudenbotschaft an uns Menschen. Ein Licht ist aufgestrahlt in der Dunkelheit. Für immer darf in uns der Lobpreis erklingen: «Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit.»
J.S. Bach hat uns den Kern der Botschaft der Engel an die Hirten in grossartiger Musik nahegebracht, aber auch deren Reaktion, nachdem sie das Kind gesehen hatten. Sie zogen weiter, Gott lobend und preisend für all das, was sie gesehen und gehört hatten. Bach gibt diesem menschlichen Lobpreis die Worte der Liturgie: «Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit.» In der Ausgestaltung der wenigen Worte der Engel und Hirten fasst Bach die ganze Wirklichkeit menschlicher Existenz zusammen, zu unserer Freude, Hoffnung und Erbauung. Sooft wir selber dieses Gloria Patri beten oder das Gloria der Messe singen, stimmen wir ein in den Lobgesang der Hirten und Engel.
Als ich vor 32 Jahren zum Abt gewählt wurde, habe ich mir traditionsgemäss einen Spruch als Lebensmotto ausgesucht. Ich habe «Jubilate Deo» gewählt, entsprechend einem der schönsten gregorianischen Gesänge: «Jubilate Deo – Lobpreiset Gott, alle Lande, alle Welt juble ihm zu. Singt ein Lied seinem Namen. Kommt und hört und ich will euch erzählen, euch, die ihr Gott fürchtet, was Grosses der Herr an mir getan hat. Halleluja.» Das gilt nicht nur mir, sondern allen Menschen. Mag unser Versagen auch noch so gross sein, Gottes Grossmut ist unendlich grösser. Es macht unsere würde aus, mitten in aller Not der Gegenwart auf Gott blicken und angesichts seiner Liebe unsere Not vergessen zu dürfen. Das Dunkel unseres Seins wird überstrahlt vom Licht des Mensch werdenden Gottes, jetzt und in Ewigkeit. J. S. Bach hat uns diese christliche Grundgestimmtheit in seiner wunderbaren Kantate nahegebracht. Möge sie unser Leben prägen.
Anmerkung zur literarischen Lesung von Gertrud Leutenegger
Zum letzten Konzert des Jahres möchte die J. S. Bach-Stiftung künftig Schriftstellerinnen und Schriftstellern die Möglichkeit geben, sich vom Text des aufgeführten Werkes inspirieren zu lassen und eine kurze literarische Arbeit zu verfassen, die sie – ähnlich wie bei den Kantatenkonzerten – zwischen der ersten und zweiten Aufführung vortragen. Der literarische Beitrag gelangt in der Bach-Anthologie zum Abdruck. Den Anfang macht Ende Dezember 2009 die in Zürich lebende Schriftstellerin Gertrud Leutenegger mit einer Lesung zum «Magnificat» (BwV 243).