Non sa che sia dolore
BWV 209 // Weltliche Kantate
für Sopran, Traversflöte, Streicher und Basso continuo
Dass auch ein Johann Sebastian Bach sich gelegentlich oder studienhalber mit der italienischen Kammerkantate als der Modegattung des Hochbarock auseinandergesetzt haben sollte, wollte seinen auf Kirche und Orgel geeichten Verehrern lange nicht einleuchten. Tatsächlich sind aber unter Bachs Namen – wenn auch nicht in seiner Handschrift – zwei solcher Solokantaten überliefert, die der nach Anlass und Echtheit fragenden Forschung noch immer Rätsel aufgeben. Während das nur für Bass und Continuo gesetzte dreisätzige «Amore traditore» den Topos des enttäuschten Liebenden auskostet, hat man bei der aufwendiger instrumentierten Soprankantate «Non sa che sia dolore» nach Bezügen zu einem gen Ansbach (?) abreisenden Freund oder Kollegen gesucht. Sowohl für den eröffnenden Konzertsatz für Flöte und Streicher als auch hinsichtlich der gerade nicht italienisch geglätteten harmonischen Bewegung der gesamten Kantate ist kaum ein Schöpfer ausserhalb der Bach’schen Schule oder Familie denkbar – legen wir die Scheuklappen beiseite und lassen uns vom Charme beider hochstehenden Gelegenheitskompositionen verzaubern!.
Solisten
Sopran
Miriam Feuersinger
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Peter Barczi
Viola
Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Markus Bernhard
Traversflöte
Marc Hantaï
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Alice Borciani, Maya Amrein, Johannes Lang, Dominik Wörner
Reflexion
Referenten
Johannes Lang
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
24.06.2022
Aufnahmeort
Rorschach (SG) // Würth-Haus
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
Nach 1729 — Leipzig
Textdichter
Unbekannt, teilweise nach Giovanni Battista
Guarini (1598) sowie Pietro Metastasio (1722/1729)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Sinfonia
1. Sinfonia
Die Kantate beginnt mit einer Sinfonia für Traversflöte, Streicher und Basso continuo, die die Grundanlage eines Konzertsatzes mit der Dacapo-Form einer Arie verbindet. Der elegische Grundton und die tragische Tonart h-Moll verleihen dem Kantatenbeginn einen angespannten Charakter, der in typisch Bachischer Weise motivische Konsequenz mit empfindsamer Leidenschaft verbindet.
2. Rezitativ — Sopran
Non sa che sia dolore
chi dall’amico suo parte e non more.
Il fanciullin’ che plora e geme
ed allor che più ei teme,
vien la madre a consolar.
Va dunque a cenni del cielo,
adempi or di Minerva il zelo.
2. Rezitativ — Sopran
Nicht weiss, was Schmerz sei,
wer von seinem Freunde scheidet und nicht stirbt.
Das Knäblein, das weint und stöhnt,
und gerade da es sich am meisten fürchtet,
kommt die Mutter, es zu trösten.
Geh also, auf die Zeichen des Himmels,
genüge nun Minervas Eifer!
2. Rezitativ
Durch das zugesetzte Streicheraccompagnato bekommt die Klage über den bevorstehenden Abschied eine gewisse Feierlichkeit, die vom erhaben-gelehrsamen Grund («Minervas Schwingen») der Trennung inspiriert scheint.
3. Arie — Sopran
Parti pur e con dolore
Lasci a noi dolente il core.
La patria goderai,
a dover la servirai;
varchi or di sponda in sponda,
propizi vedi il vento e l’onda.
3. Arie — Sopran
Scheide nur und mit Schmerzen;
lass uns zurück mit schmerzendem Herzen!
Der Heimat wirst du dich erfreuen,
nach Gebühr ihr dienen.
Du fährst nun von Ufer zu Ufer,
günstig siehst du Wind und Welle.
3. Arie
Es ist fast ein Passionston, mit dem Flöte und Streicher in dieser gewichtigen Arie über lakonischen Bassformeln vom Abschiedsschmerz der Zurückgelassenen reden. Die triolischen Figu- rationen der Flöte tragen in das gedämpfte Schreiten der Streicher ein auffälliges Moment der Unruhe hinein, das auf «Wind und Wellen» der beschriebenen Lebensreise hindeuten könnte.
4. Rezitativ — Sopran
Tuo saver al tempo e l’età constrasta,
virtù e valor solo a vincer basta;
ma chi gran ti farà più che non fusti
Ansbaca, piena di tanti Augusti.
4. Rezitativ — Sopran
Dein Wissen steht in Gegensatz zu dem der Zeit und deinem Alter,
Tugend und Wert allein genügen zu obsiegen.
Doch wer wird grösser dich machen, als du je gewesen bist?
Ansbach, voll so vieler Erhabener.
4. Rezitativ
Die einem offenbar noch jungen Adressaten gewidmeten schmeichlerischen Verse werden in einem edlen Berichtston vorgetragen, der etwas überraschend die fränkische Residenz und Nichtuniversitätsstadt Ansbach als eine Art neues «Athen» apostrophiert.
5. Arie — Sopran
Ricetti gramezza e pavento,
qual nocchier, placato il vento,
più non teme o si scolora,
ma contento in su la prora
va cantando in faccia al mar.
5. Arie — Sopran
Du weisest zurück Kummer und Furcht,
wie der Steuermann, wenn der Wind sich gelegt hat,
nicht mehr sich fürchtet noch erblasst,
sondern zufrieden auf dem Bug singt
im Angesichte des Meeres.
5. Arie
Der aufgeräumte Gigaton der ins lichte G-Dur versetzten Schlussarie könnte den Moment der unverdrossenen Abreise beschreiben. Obwohl die Metaphorik eher maritim ausgerichtet ist, hört man im hurtigen 3⁄8-Takt förmlich die Pferde traben – von der beschriebenen «Windstille » scheint die Musik jedenfalls nichts zu wissen. Dabei bildet sie wiederholt komplexere Bewegungsmuster aus, bei denen sich die Flöte figurativ von der ersten Violine löst. Mit ihrer beträchtlichen Virtuosität war diese Arie wie die gesamte Kantate gewiss kein Anfängerstück.