Fallt mit Danken, fallt mit Loben

BWV 248/4 // Weihnachtsoratorium

für Sopran, Tenor und Bass, Vokalensemble, Corno da caccia I+II, Oboe I+II, Streicher und Basso continuo

Die als IV. Teil in Bachs Weihnachtsoratorium eingegangene Kantate «Fallt mit Danken, fallt mit Loben» verdankt der Klangpracht ihrer weltlichen Vorbilder viel. Vor allem das zuvor dem Kurprinzen huldigende Hörner-Menuett des Eingangschores passt vorzüglich zum gemessenen Lob des auf Erden erschienenen Gottessohnes. Ebenso glücklich gelangen die Verwandlung der spielerischen «Echo»-Arie in ein auf den himmlischen Zuspruch lauschendes Nachsinnen sowie des fürstlichen Adlerflugs der Tenorarie in ein von zwei virtuosen Violinen vorangetriebenes Versprechen eifriger Christusnachfolge. Das Zentrum machen jedoch zwei ausgedehnte Bassrezitative aus, deren innige Meditation über den Jesusnamen durch die hinzutretenden Choralstrophen des Soprans sowie den schimmernden Streicherornat in ein nahezu überirdisches Licht getaucht werden.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 248 / IV

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Miriam Feuersinger

Tenor
Daniel Johannsen

Bass
Tobias Wicky

Chor

Sopran
Lia Andres, Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Anna Walker

Alt/Altus
Antonia Frey, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Simon Savoy, Sarah Widmer

Tenor
Clemens Flämig, Christian Rathgeber, Nicolas Savoy, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Retus Pfister, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Dorothee Mühleisen, Ildiko Sajgo, Judith Von Der Goltz

Viola
Martina Bischof, Peter Barczi, Sarah Krone

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Guisella Massa

Oboe
Andreas Helm, Philipp Wagner

Fagott
Susann Landert

Corno
Olivier Picon, Thomas Müller

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Dirk Börner

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Ulrich Luz

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
12.01.2018

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
unbekannter Verfasser

Erste Aufführung
Neujahr 1735

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Neujahr ist das Fest der Beschneidung und Namengebung Jesu. Die Evangelienlesung für diesen Tag besteht aus einem einzigen Satz, Lukas 2, 21. Der Eingangschor und die beiden Arien sind im Parodieverfahren entstanden, wonach der Librettist seinen Text einer bereits vorhandenen Musik unterlegen musste. Es ist die sog. Herkules-Kantate «Laßt uns sorgen, laßt uns wachen über unsern Göttersohn» BWV 213, eine Huldigungskantate für den seinerzeitig elfjährigen sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian, dessen Entwicklung am Scheideweg zwischen Tugend und Wollust hier in einer antikisierenden Szenerie verhandelt wird. Mit ihren nur 7 Sätzen und der Klammerwirkung der beiden neukomponierten Duo-Rezitative ist diese Kantate der wohl kompakteste und in seinem durchgehenden Jesus-Bezug geschlossenste Teil des Weihnachtsoratoriums.

36. Chor

Fallt mit Danken, fallt mit Loben
vor des Höchsten Gnadenthron!
Gottes Sohn
will der Erden
Heiland und Erlöser werden,
Gottes Sohn
dämpft der Feinde Wut und Toben.

1. (36) Chor
Im Eingangschor der Herkules-Kantate ist der Ratschluss der Götter zu vernehmen: «Lasst uns sorgen, lasst uns wachen über unsern Göttersohn!» In der Kantate des Weihnachtsoratoriums aber geht es um Lob und Dank an den Erlöser Jesus Christus. Der entspannt fliessende 3∕8-Duktus des Satzes erhält durch die hinzutretenden Hörner und die besonders sprechenden Motive eine zugleich fürstliche wie priesterliche Färbung.

37. Evangelist: Tenor

«Und da acht Tage um waren, daß das Kind beschnitten
würde, da ward sein Name
genennet Jesus, welcher
genennet war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe
Heiland und Erlöser werden,
empfangen ward.»

2. (37) Evangelist
Der Tenor trägt das Evangelium des Festtages vor.

38. Rezitativ und Choral — Duett Bass, Sopran

Immanuel, o süßes Wort!
Mein Jesus heißt mein Hort,
mein Jesus heißt mein Leben.
Mein Jesus hat sich mir ergeben,
mein Jesus soll mir immerfort
vor meinen Augen schweben.
Mein Jesus heißet meine Lust,
mein Jesus labet Herz und Brust.
Jesu, du mein liebstes Leben,
meiner Seelen Bräutigam,

Komm! Ich will dich mit Lust umfassen,
mein Herze soll dich nimmer lassen,
der du dich vor mich gegeben
an des bittern Kreuzes Stamm!

ach! So nimm mich zu dir!
Auch in dem Sterben sollst du mir
das Allerliebste sein;
in Not, Gefahr und Ungemach
seh ich dir sehnlichst nach.
Was jagte mir zuletzt der Tod für Grauen ein?
Mein Jesus! Wenn ich sterbe,
so weiß ich, daß ich nicht verderbe.
Dein Name steht in mir geschrieben,
der hat des Todes Furcht vertrieben.

3. (38) Rezitativ mit Choral
Das Rezitativ widmet sich dem Namen Jesu, ausgehend von der alttestamentlichen Verheissung, dass eine junge Frau einen Sohn gebären und ihm den Namen Immanuel (d.h. Gott mit uns) geben werde (Jesaja 7, 14). Die eingefügten Zeilen aus dem Choral «Jesu, du mein liebstes Leben» von Johannes Rist leiten die Gedanken zum Kreuzestod Jesu und dessen Bedeutung für den christlichen Glauben. Durch die hinzugefügten Streicher erhält das Accompagnato-Rezitativ einen feierlichen Charakter, der diesem durch Leben und Tod bindenden Bekenntnis beträchtlichen Ernst verleiht, dem durch den sanften Choralgesang eine tröstliche Botschaft zuwächst.

39. Arie — Sopran

Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen
auch den allerkleinsten Samen
jenes strengen Schreckens ein?
Nein, du sagst ja selber nein,
Nein!
Sollt ich nun das Sterben scheuen?
Nein, dein süßes Wort ist da!
Oder sollt ich mich erfreuen?
Ja, du Heiland sprichst selbst ja,
Ja!

4. (39) Arie
Die Arie mit dem eigenartigen Echo erinnert an das aus andern Kantaten bekannte Gespräch zwischen Gott und einer glaubenden Seele. Das pittoreske Echospiel der weltlichen Kantate wird hier in einer Weise transformiert, die die aufrichtig erbetene Stimme des Heilands als in das tägliche Dasein hineinreichende Dimension hörbar werden lässt.

40. Rezitativ und Choral — Duett Bass, Sopran

Wohlan, dein Name soll allein
in meinem Herzen sein!
Jesu, meine Freud und Wonne,
meine Hoffnung, Schatz und Teil,

So will ich dich entzücket nennen,
wenn Brust und Herz zu
dir vor Liebe brennen.
mein Erlösung, Schmuck und Heil,
Doch, Liebster, sage mir:
Wie rühm ich dich, wie dank ich dir?
Hirt und König, Licht und Sonne,
ach! wie soll ich würdiglich,
mein Herr Jesu, preisen dich?

5. (40) Rezitativ und Choral
Zwischen die restlichen Zeilen der Choralstrophe von Johannes Rist sind bekenntnisartige Worte eingefügt, welche mit der Frage schliessen, wie Jesus würdiglich zu preisen sei. Sie wird in der folgenden Arie beantwortet. Die Wiederaufnahme des Accompagnato-Rezitativ und Choral verbindenden Satzkonzepts macht diesen zweisätzigen Rahmen zum predigthaften Zentrum der Kantate. Er lässt in seinem tiefschürfenden Fragen und eindringlichen Duktus alle barocke Konvention hinter sich.

41. Arie — Tenor

Ich will nur dir zu Ehren leben,
mein Heiland, gib mir Kraft und Mut,
daß es mein Herz recht eifrig tut!
Stärke mich,
deine Gnade würdiglich
und mit Danken zu erheben!

6. (41) Arie
Es gilt, Jesus die Ehre zu geben und dazu ihn um Kraft und Mut zu bitten. Bach übernimmt dafür aus seiner Herkules-Kantate eine Arie, die mit ihrem heroischen Tonfall und ihren beiden virtuosen Violinpartien zu den besonders bravourösen Partien aus seiner Feder gehört. Das ursprünglich abbildende «Schweben auf Adlerflügeln» wird hier zu einem eifernden «Lebens»-Vorsatz verwandelt. Anders als seine unverkennbar italienisch-opernmässigen Vorbilder setzt Bach im Mittelteil nicht auf einen Affektwechsel mit reduzierter Komplexität, sondern verfolgt seinen auch motivisch integralen Ansatz kompromisslos weiter.

42. Choral

Jesus richte mein Beginnen,
Jesus bleibe stets bei mir,
Jesus zäume mir die Sinnen,
Jesus sei nur mein Begier,
Jesus sei mir in Gedanken,
Jesu, lasse mich nicht wanken!

7. (42) Choral
Als Schlusschoral bestimmte der unbekannte Dichter die 15. Strophe aus dem Neujahrslied «Hilf, Herr Jesu, lass gelingen» von Johannes Rist. Bachs für die Mehrheit der Schlusschoräle des Oratoriums erkennbare Neigung zu charakteristisch instrumentierten Zwischenspielen verleiht diesem Satz mit seinen anspringenden Hornpartien eine besonders eingängige Wirkung, zu der auch die Eleganz der vokalen Gesten einiges beiträgt.

Reflexion

Ulrich Luz

Liebe Anwesende!

Ich bin noch ganz bewegt von den Höhenflügen der wunderbaren Musik, die wir soeben gehört haben. Nur mit grossen Hemmungen führe ich Sie nun in meiner Reflexion in die von vielen oft unsicheren Hypothesen geprägten Niederungen der Jesusforschung. In dieser Kantate kommt ja nur ein einziger Bibeltext vor, Lukas 2, 21. Um den Namen Jesus geht es hier. Er kommt nicht nur im Bibeltext vor: Siebenmal heisst es im darauf folgenden Rezitativ-Choral: «mein Jesus». Und im Schlusschoral von Johannes Rist beginnt jede der sechs Zeilen mit dem Wort «Jesus». So wichtig ist dieser Name: Jesus.

Sie haben mich heute als Neutestamentler eingeladen, also als einen, der sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit diesem Namen und demjenigen, der ihn trug, beschäftigt, der historischen Gestalt Jesu von Nazareth. «Jesus» ist die griechische Form eines sehr geläufigen jüdischen Namens, «Jeschua» (= Josua), im galiläischen Dialekt wohl «Jeschu». Dieser Name erinnert daran, dass Jesus Jude war. Der Heiland des christlichen Glaubens, der im Eingangschor «Gottes Sohn» genannt wird, war Jude. Da kommt einem natürlich sofort die Frage: Ja – wollte denn der Jude Jesus überhaupt «der Erden Heiland und Erlöser werden», wie es im Eingangschor heisst? Ich stelle diese Frage einen Moment zurück.

Jesus von Nazareth stammte aus einer kinderreichen Handwerkersfamilie, die in der Kleinstadt Nazareth in Galiläa lebte. Seine Eltern waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Joseph und Maria. Das Markusevangelium nennt in Kapitel 6 seine Brüder: Jakob, Joses, Judas und Simon. Er hatte auch Schwestern – wir wissen nicht, wie viele. In der katholischen Kirche wurden diese Angaben des Markusevangeliums oft umgedeutet, um das Dogma von der immerwährenden Jungfräulichkeit Marias nicht zu gefährden. Es gibt aber keinen Grund für solche Umdeutungen: die Aussagen von Mk 6 sind philologisch klar. Über Jesu Jugend wissen wir wenig; nicht einmal sein Geburtsjahr ist ganz sicher. Ganz sicher wissen wir nur, dass Jesus wirklich gelebt hat: Die Zeiten sind vorbei, als scheinbar aufgeklärte Religionskritiker sagen konnten, dass Jesus ein reiner Mythos sei. Nicht nur neutestamentliche, sondern auch griechische, römische und jüdische Quellen bezeugen seine Existenz eindeutig.

Jesus hatte eine ganz besondere Biographie. Als erwachsener, etwa 30- bis 35-jähriger Mann wurde er ein Schüler des Täufers Johannes – das hebräische Wort für «Schüler» wird in unseren Bibelübersetzungen mit «Jünger» übersetzt. Er liess sich von Johannes taufen, blieb aber nicht bei Johannes in der Wüste am Jordan, sondern kehrte ins heimatliche Galiläa zurück. Dort wirkte er als Wanderprediger, Wunderheiler und Exorzist, ohne festen Wohnsitz und ohne ein regelmässiges Einkommen. Nach dem Sinn seiner Familie war das nicht. Das älteste Evangelium, das Markusevangelium, überliefert in Kapitel 3, dass Jesu Mutter und seine Geschwister umsonst versucht hätten, ihn in den Schoss der Familie zurückzuholen; sie sagten, er sei verrückt. – Er aber liess sich nicht zurückholen, sondern verkündete, dass das Reich Gottes, d.h. Gottes neue Welt, nahe herbeigekommen sei. Er heilte Kranke und trieb Dämonen aus. Vor allem von psychisch Kranken dachte man damals, sie seien von bösen Geistern besessen. Es ist sicher, dass Jesus solche ausserordentlichen Fähigkeiten besass.

Nach einiger Zeit zog er mit seinen Jüngern in die heilige Stadt Jerusalem. Dort verhielt er sich ziemlich provokativ; das zeigen die Geschichten von seinem Einzug am Palmsonntag und von der anschliessenden Austreibung von Geldwechslern und Opfertierverkäufern aus dem Tempelvorhof. Vielleicht wollte er in Jerusalem die Entscheidung über seine Verkündigung des Gottesreichs suchen. Am Passahfest, einem der grossen jüdischen Feste im Frühling, war die Stadt voller Festpilger, darunter natürlich auch Anhänger und Anhängerinnen Jesu aus Galiläa. Deshalb galt Jesus als ein Sicherheitsrisiko für die jüdischen Autoritäten, die für Ruhe und Ordnung in der Stadt verantwortlich waren, und ebenso für den Statthalter Pilatus. Pilatus liess ihn auf unauffällige Weise kreuzigen; die Anklage lautete, dass er König der Juden sei, d.h. Messias im politisch-militärischen Sinn des Wortes. Aber das wollte Jesus sicher nicht sein – ganz im Gegenteil: Jesus war Pazifist, der jede Gewaltanwendung ablehnte.

Auf der einen Seite ist mir dieser Jesus fremd: als Jude, als Aussteiger, Wanderprediger, Wundertäter und Dämonenaustreiber. Ich bin ja selber nicht Jude und kein Aussteiger, sondern ich lebe mit einer gesicherten Rente und einer guten Krankenversorgung in der friedlichen Schweiz. Ich weiss nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich Jesus irgendwo auf der Strasse begegnet wäre. Es ist gut möglich, dass ich ihm eine Weile zugehört hätte, dann die Achseln gezuckt hätte und weitergegangen wäre.

Auf der anderen Seite finde ich Jesus grossartig, und zwar gerade als Juden. Anders als bei den meisten führenden Juden der damaligen Zeit war sein Verständnis des Gottesvolks Israel sehr offen. Für ihn bildeten nicht die Superfrommen, die Superreinen und die Gelehrten das Zentrum von Israel, und auch nicht die Reichen und Mächtigen, sondern die einfachen Leute, die Armen, die Frauen, die Kranken und die Kinder. Sie waren für ihn am wichtigsten. – Grossartig finde ich auch seine Verkündigung: Jesus redete nicht über Gott und über das nahe Reich Gottes, als ob das Gegenstände wären, über die man reden könnte. Aber er entwarf von Gott her die Vision eines neuen Menschen und einer neuen Welt, einer Welt, in der Menschen nicht mit Gegengewalt auf Gewalt antworten, in der sie nicht richten und verurteilen, einer Welt, in der man nicht siebenmal, sondern sieben mal siebzig Mal verzeiht. In einer seiner vielen Geschichten, die wir «Gleichnisse» nennen, erzählte er von einer Welt, in der Menschen nicht nach Leistung, sondern nach Bedürfnissen entlöhnt werden. Seine Aufforderung zur Feindesliebe weckt auch in uns eine tiefe Sehnsucht nach einem neuen Menschen und einer anderen Welt, einer Welt des Friedens, in der es keinen Hass und keine Feindschaft mehr gibt. So stellt Jesus die Welt, wie sie Gott will, also Gottes kommendes Reich, als Kontrast mitten in die ganz andere Menschenwelt. Alles das finde ich grossartig.

Es gibt für mich auch problematische Seiten an der Verkündigung Jesu – aber davon will ich jetzt nicht reden. Ich will vielmehr dabei bleiben, dass er Jude war und einen ganz und gar jüdischen Namen trägt. Vorher fragte ich: Wollte denn der Jude Jesus überhaupt «der Erden Heiland und Erlöser werden», wie der Chor gesungen hat? Wollte er Gründer einer Weltreligion werden? Meine Antwort als Neutestamentler ist klar: Nein – das wollte er nicht! Er hätte sich darüber sehr gewundert und wahrscheinlich energisch gegen eine solche Zumutung protestiert. Jesus war zwar sehr offen; aber seine Sendung galt Israel – und nur Israel. Alle weiteren Entwicklungen, die zur Entstehung der christlichen Kirche führten, geschahen nach Ostern. Erst der Glaube an Jesu Auferstehung machte sie möglich.

Was bedeutet es für uns, dass Jesus Jude war? Mir sind drei Dinge wichtig. Ich denke erstens, dass uns das bescheiden machen sollte. Wir – Katholiken und Protestanten – gehören zu den sogenannten «Heidenchristen». In den Augen Jesu wären wir bestenfalls Adoptivkinder des Gottes Israels. Unser Verhältnis zu Israel – und damit meine ich das ganze Gottesvolk Israel, nicht einfach den heutigen Staat Israel – ist bleibend einseitig: Wir sind nachträglich adoptierte Kinder Gottes. Das sollte uns bescheiden machen.

Zweitens denke ich, dass wir das Alte Testament hochhalten sollen. Wir mögen manches darin als problematisch und für uns unwichtig empfinden, aber es war die Bibel Jesu. So sahen es auch die Verfasser der neutestamentlichen Schriften: Das Alte Testament gab ihnen die Sprache, in der sie ausdrücken konnten, was Jesus für sie bedeutete. Die Erfahrungen in der Kirchengeschichte mit all denen, die versuchten, das Alte Testament aus dem Kanon zu entfernen und Jesus zu «entjuden», waren katastrophal; die deutschen Christen in der Nazizeit sind nur ein Beispiel dafür. Jesus war Jude. Darum ist für mich seine Bibel, das Alte Testament, wichtig.

Drittens gibt Jesus Impulse für den interreligiösen Dialog. In Europa und Nordamerika versuchen heute Religionsphilosophen, so etwas wie eine globale Superreligion zu postulieren, einen universalen Monotheismus oder Ähnliches. Ich denke nicht, dass wir das können oder gar tun sollten. Wir sollen unsere eigene Herkunft aus Israel nicht verleugnen. Zum Beispiel mit Buddhisten sollten wir so ins Gespräch kommen, dass wir zu unserer eigenen Herkunft aus dem Judentum stehen und die Wurzeln des Buddhismus in den religiösen Traditionen Indiens mit gleichem Respekt hochachten.

Aus diesen drei Gründen bin ich dankbar dafür, dass Jesus Jude war und einen jüdischen Namen trägt. Der Dichter unserer Kantate war von einer persönlichen, mystischen Jesusfrömmigkeit geprägt: Jesus ist für ihn «meine Lust», «mein liebstes Leben» oder «meiner Seele Bräutigam». So könnte ich das nicht nachsprechen. Und trotzdem ist mir der Name des Juden Jesus sehr wichtig. Jesus ist für mich ein Begleiter, der mich mein ganzes Leben begleitet hat. Er ist vielleicht mein bester Freund, mit dem ich immer wieder Zwiesprache halte und dem ich, wie jedem guten Freund, auch einige kritische Fragen stellen darf.

 

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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