Wachet! Betet! Betet! Wachet!

BWV 070 // zum 26. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Tromba, Oboe, Fagott, Violoncello, Organo, Streicher und Continuo

Weiterer Text zur Einführung (z. B. Auszug aus „Zur Kantate“)

Die Kantate BWV 70 hat Bach 1723 in Leipzig vom 2. Advent auf den 26. Trinitatissonntag und damit an das Ende des Kirchenjahres versetzt, was durch die eschatologische Perspektive beider Kontexte erleichtert wurde. Salomo Francks 1717 gedrucktes Weimarer Libretto wurde dafür um drei Rezitative ergänzt; die Verwandlung in eine zweiteilige Predigtkantate bedingte zudem die Einführung eines weiteren Choralsatzes (Nr. 7).

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 70

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Chor

Sopran
Olivia Fündeling, Guro Hjemli, Susanne Seitter, Gunta Smirnova, Noëmi Sohn Nad

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Kazuko Nakano, Liliana Lafranchi, Damaris Rickhaus

Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Manuel Gerber, Walter Siegel

Bass
Oliver Rudin, Manuel Walser, Tobias Wicky, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Dorothee Mühleisen, Christine Baumann, Petra Melicharek, Christoph Rudolf, Ildiko Sajgo

Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Sarah Krone

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Dominik Melicharek

Fagott
Susann Landert

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Jörg Andreas Bötticher

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Jan Assmann

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
22.11.2013

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 3, 5, 8, 10
Salomo Franck, 1717

Textdichter Nr. 11
Christian Keymann, 1658

Textdichter Nr. 2, 4, 6, 7, 9
unbekannter Dichter

Erste Aufführung
26. Sonntag nach Trinitatis,
21. November 1723, Leipzig

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Der Eingangschor erschafft einen dramatischen Spannungsaufbau, der von Fanfarenmotiven und kontrastierenden Bewegungsimpulsen lebt. Das gestische «Wachet!» wird als auffahrende Figur umgesetzt, während das «Betet!» als flehentlich ausgehaltener Spannungsklang bei drohend näherkommenden Orchestereinschlägen daherkommt. Der schwungvolle Gestus und die zielgerichteten harmonischen Entwicklungen verleihen der Musik einen flächigen Charakter, der bereits auf die Kantatenchöre von Bachs Söhnen vorausweist. Im aufgelockerten Mittelteil vermitteln disparate Einsätze und unerwartete Wendungen hingegen ein Bild der Ungewissheit: Das Ende der Welt wird kommen, doch kennen wir weder Zeit noch Stunde und müssen «allezeit bereit» sein.

Das Bassaccompagnato ist als grosser Aufzug angelegt, in dessen Trompetenglanz das barocke Justiztheater der symbolischen Repräsentation allenthalben antönt. Dass der Zerfall der irdischen Ordnung für die «erwählten Gotteskinder» zugleich eine Verheissung enthält, wird in ariosen Passagen angedeutet. Die Altarie antwortet darauf mit einer einschmeichelnden Violoncello-Kantilene, die in einer (späteren?) Alternativversion von der Orgel übernommen wurde. Der Hinweis auf die angesichts der «letzten Zeit» dringliche Umkehr, die hier als Auszug aus dem inneren «Sodom und Ägypten» der Sünde und Unfreiheit gedeutet wird, kommt in dieser Besetzung nicht als donnernde Prophetenpartie daher, sondern als eindringlich geschwisterliche Warnung. Wie schwer es dem «schwachen Fleisch» jedoch fällt, diesem «himmlischen Verlangen» zu entsprechen, macht das Tenorrezitativ mehr als deutlich. Dessen schonungslose Selbstbefragung mündet als dominantischer Halbschluss in ein «jammervolles Ach!». Darauf folgt mit der Sopranarie eine echte Kräftigungsmusik mit kantigen Unisonostreichern über einem energisch durchlaufenden Bass. Trotz aller «Schmähungen» bleibt «Christi Wort … fest bestehen», was Bach in hoch ausgehaltenen Liegetönen nachzeichnet. Die Gewissheit, die endzeitliche Vision des in den Wolken schwebenden Heilands zu erleben, versetzt selbst den Continuo kurzzeitig in eine beschwingte Aufwärtsbewegung («es wird doch und muß geschehen!»). Dementsprechend gewährt das liebliche Tenorrezitativ einen Vorausblick in das «himmlische Eden», bevor die für Leipzig eingefügte Choralstrophe «Freu dich sehr, o meine Seele!» den ersten Kantatenteil im fliessenden Dreiertakt beschliesst.

Die den zweiten Teil eröffnende Arie «Hebt euer Haupt empor!» strahlt mit ihrem langen Vorspiel und dem klangvollen Streichersatz warme Fülle und Zuversicht aus. Selten erschliesst sich die Funktion einer zweiteiligen Kantate als Predigtumrahmung so sinnfällig wie hier – es ist die vom Prädikanten wortgewaltig entfaltete Zusage, die Trost in allem Leiden gewährt. Musikalisch resultiert daraus eine kraftvolle Tenorpartie, die einigen Schmelz entfaltet und dennoch einen verinnerlichten Helden zeigt. Kein triumphierender Feldherr tritt hier auf den Plan, sondern ein zuversichtlicher Coach, der die Seinen für jedweden Streit gerüstet sieht.

Doch noch einmal kehren «Zweifel, Furcht und Schrecken» zurück, kann im Bassaccompagnato das «Sündenkind» Mensch nur mit Mühe den von allen Seiten eindringenden Anfechtungen standhalten. Zuspruch leistet der von der Trompete wortlos intonierte Choral «Es ist gewißlich an der Zeit, daß Gott der Herr erscheinet». Seine Einführung darf als kühne Innovation betrachtet werden, die nicht nur die Form des Satzes in folgenreicher Weise transformiert. Dass über dem rasenden Orchester und der haltlos schwankenden Singstimme der von Christi Wiederkunft sprechende Cantus firmus thront und damit noch das Chaos des Weltgerichts als Teil eines göttlichen Plans erkennbar wird, verleiht Bachs Szenengestaltung eine musiktheologische Dimension.

Darauf folgt mit der extrem verlangsamten Arie «Seligster Erquickungstag» eine an Partien Händels sowie die Bachschen Basskantaten gemahnende Musik des beseelten Loslassens. Selbst der Presto-Mittelteil mit den wiederkehrenden Signalmotiven des Eingangschores entfaltet nun keinen Schrecken mehr, sondern setzt ekstatische Freude frei – da alle Angst bewältigt ist, kann das Gericht emphatisch bejaht werden. Eine trugschlüssige Zäsur, die das Ende als blossen Durchgang zum wahren Leben relativiert, führt zum Adagio zurück, dessen nahezu aufgehobene Bewegung als komponierte «Stille» zu deuten ist. Nach diesem grandiosen Triptychon von Todesfurcht, Ausgang und Eingang vermöchte man keine Steigerung mehr zu erwarten. Doch hat Bach selbst diese Herausforderung mit kunsthafter Einfachheit gemeistert: Indem er die abschliessende Choralstrophe durch drei obligate Streicherstimmen in ein nahezu unwirkliches Licht taucht, verleiht er ihr eine leise Eindringlichkeit, die noch den Unbussfertigsten auf zarteste Weise «ertöten» und erlösen will. Der sorgsam ausgesuchte Liedtext «Nicht nach Welt, nach Himmel nicht» macht dabei deutlich, dass kein messbarer Preis, ja nicht einmal der Besitz des Himmels das ersehnte Ziel darstellt, sondern allein das Ankommen in Gottes Hand. Um diesen zu Beginn der Kantate noch kaum vorstellbaren und dabei sowohl dogmatisch korrekten als auch philosophisch tiefschürfenden Trost dürfen wir Bachs Weimarer und Leipziger Hörergemeinden beneiden…

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate ist entstanden durch Umarbeitung der gleichnamigen Weimarer Kantate BWV 70a, die zum 2. Sonntag im Advent bestimmt war. Da in Leipzig im Unterschied zu Weimar die Zeit zwischen erstem Advent und erstem Weihnachtsfeiertag «tempus clausum» (stille Zeit) war, also keine konzertierende Kirchenmusik erklang, hatte Bach dafür keine Verwendung mehr. Eine Umwidmung für den 26. Sonntag nach Trinitatis bot sich an, weil die Lesungen beider Tage den gleichen Themenkreis umfassen: Am zweiten Advent die Wiederkunft Christi (Lukas 21), und am 26. Trinitatissonntag das Weltgericht (Matthäus 25). Der unbekannte Bearbeiter übernahm den Kantatentext von Salomon Franck, bestehend aus Eingangschor, vier Arien und Schlusschoral unverändert und fügte die von ihm verfassten vier Rezitative und eine weitere Choralstrophe ein. Die Arien Francks singen davon, dass es gilt, wachsam und bereit zu sein. Die Gedanken der Rezitative schwanken zwischen hoffnungsvoller Glaubensgewissheit und der ängstlichen Sorge, im Gericht doch nicht bestehen zu können.

Erster Teil
1. Chor

Wachet! betet! betet! wachet!
Seid bereit
allezeit,
bis der Herr der Herrlichkeit
dieser Welt ein Ende machet.

1. Chor
Bach entwirft für dieses Dictum eine wuchtige Gerichtsmusik, die in auffahrenden Läufen und mittels fanfarenartiger Melodik ein endzeitliches Bild der Auseinandersetzung und Entscheidung malt. Die merklich solistische Diktion der Singstimmen lässt auch hinter der Leipziger Version die intime Klangwelt der Weimarer Schlosskirche durchscheinen.

2. Rezitativ (Bass)

Erschrecket, ihr verstockten Sünder!
Ein Tag bricht an,
vor dem sich niemand bergen kann:
Er eilt mit dir zum strengen Rechte,
o! sündliches Geschlechte,
zum ewgen Herzeleide.
Doch euch, erwählte Gotteskinder,
ist er ein Anfang wahrer Freude.
Der Heiland holet euch, wenn alles fällt und bricht,
vor sein erhöhtes Angesicht;
drum zaget nicht!

2. Rezitativ
Die höchst ungewöhnliche Mitwirkung einer Trompete in einem Rezitativ und die drängenden Sechzehntel der Orchesterbegleitung illustrieren den Ernst der Situation: Bach zieht alle Register, um die «verstockten Sünder» zu ihrem Heil zu «erschrecken». Umso wirksamer ist die Verlangsamung und Beruhigung der Musik im Moment der Segensverheißung an die «erwählten Gotteskinder». Bach hat hier wie auf einem spätmittelalterlichen Altarbild die getrennten Auswege des Jüngsten Gerichts musikalisch eindrucksvoll gegeneinander gesetzt.

3. Arie (Alt)

Wenn kömmt der Tag, an dem wir ziehen
aus dem Ägypten dieser Welt?
Ach! lasst uns bald aus Sodom fliehen,
eh uns das Feuer überfällt!
Wacht, Seelen, auf von Sicherheit
und glaubt, es ist die letzte Zeit!

3. Arie
Zwei Bilder aus dem Alten Testament, die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und die Flucht aus der todgeweihten Stadt Sodom zeigen gleichnishaft, um was es geht. Die fliessende Bewegung und die Tonart a-Moll verleihen der Musik einen sehnsuchtsvollen Ton. Dass Bach die Wendung «Wenn kömmt der Tag» mehrfach auf kontrastierende Weise vertont, mag subtil die menschliche Unwissenheit über das eigene Schicksal und den Moment des göttlichen Eingreifens andeuten.

4. Rezitativ (Tenor)

Auch bei dem himmlischen Verlangen
hält unser Leib den Geist gefangen;
es legt die Welt durch ihre Tücke
den Frommen Netz und Stricke.
Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach;
dies presst uns aus ein jammervolles Ach!

4. Rezitativ
Das kurze, textlich aber gewichtige Rezitativ hebt einzelne Schlüsselworte durch ihre hohe Lage und harmonische Färbung hervor.

5. Arie (Sopran)

Lasst der Spötter Zungen schmähen,
es wird doch und muss geschehen,
dass wir Jesum werden sehen
auf den Wolken, in den Höhen.
Welt und Himmel mag vergehen,
Christi Wort muss fest bestehen.
Lasst der Spötter Zungen schmähen;
es wird doch und muss geschehen!

5. Arie
Ein Wort Jesu bestätigt die Hoffnung der Glaubenden: «Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen» (Lukas 21, 33). Über einem laufenden Bass verkörpert eine Unisono-Stimme sämtlicher Streicher Entschlossenheit in aller Anfechtung. Die Beständigkeit des göttlichen Wortes hat Bach in naheliegender Weise durch lang ausgehaltene Töne ausgedrückt («bestehen»).

6. Rezitativ (Tenor)

Jedoch bei dem unartigen Geschlechte
denkt Gott an seine Knechte,
dass diese böse Art
sie ferner nicht verletzet,
indem er sie in seiner Hand bewahrt
und in ein himmlisch Eden setzet.

6. Rezitativ
Es klingen biblische Bezüge an, wonach der Herr seine Knechte «in seiner Hand bewahrt» und ihnen die Bewahrung seiner Schöpfung anvertraut. Spannungsgeladene Akkorde verdeutlichen demgegenüber die «böse Art» des «unartigen Geschlechtes».

7. Choral

Freu dich sehr, o meine Seele,
und vergiss all Not und Qual,
weil dich nun Christus, dein Herre,
ruft aus diesem Jammertal!
Seine Freud und Herrlichkeit
sollt du sehn in Ewigkeit,
mit den Engeln jubilieren,
in Ewigkeit triumphieren.

7. Choral
Ein schlichter Choralsatz leitet in zutraulichem G-Dur die Predigt ein und blickt auf die hellere Gedankenwelt des zweiten Kantatenteils voraus.

Zweiter Teil
8. Arie (Tenor)

Hebt euer Haupt empor
und seid getrost, ihr Frommen,
zu eurer Seelen Flor!
Ihr sollt in Eden grünen,
Gott ewiglich zu dienen.

8. Arie
«Hebet eure Häupter empor; denn eure Erlösung naht.» (Lukas 21, 28). Erstmals in der Kantate werden tänzerische Töne angeschlagen, die im Verein mit der lieblichen Oboe und der heroischen Stimmlage Tenor für Ermutigung und Zuversicht stehen.

9. Rezitativ (Bass)

Ach, soll nicht dieser große Tag,
der Welt Verfall
und der Posaunen Schall,
der unerhörte letzte Schlag,
des Richters ausgesprochne Worte,
des Höllenrachens offne Pforte
in meinem Sinn
viel Zweifel, Furcht und Schrecken,
der ich ein Kind der Sünden bin,
erwecken?
Jedoch, es gehet meiner Seelen
ein Freudenschein, ein Licht des Trostes auf.
Der Heiland kann sein Herze nicht verhehlen,
so vor Erbarmen bricht,
sein Gnadenarm verlässt mich nicht.
Wohlan, so ende ich mit Freuden meinen Lauf.

9. Rezitativ
Ein ausgedehntes Accompagnato-Rezitativ ruft anfangs nochmals die Schrecknisse des Gerichts und des Todes in Erinnerung. Doch findet die Musik hörbar Trost im endzeitlichen Choral «Es ist gewisslich an der Zeit», den die Trompete wortlos, aber eindrücklich anstimmt.

10. Arie (Bass)

Seligster Erquickungstag,
führe mich zu deinen Zimmern!
Schalle, knalle, letzter Schlag,
Welt und Himmel, geht zu Trümmern!
Jesus führet mich zur Stille,
an den Ort, da Lust die Fülle.

10. Arie
Kontrastreich ist diese letzte Arie angelegt. Die umrahmenden Abschnitte verkörpern in der «Simeons»-Stimmlage Bass und allein mit sparsamer Continuobegleitung die Seligkeit des Eingangs in Christi Reich, während der martialische Mittelteil jenseitstrunken das Jüngste Gericht herbeisingt.

11. Choral

Nicht nach Welt, nach Himmel nicht
meine Seele wünscht und sehnet,
Jesum wünsch ich und sein Licht,
der mich hat mit Gott versöhnet,
der mich freiet vom Gericht,
meinen Jesum lass ich nicht.

11. Choral
Entsprechen der veränderten Seelenlage ist der Schlusschoral dieses Kantatenteils im ruhigen Vierertakt gehalten. Die selbstständig geführten Streicher verleihen ihm himmlischen Glanz.

Reflexion

Jan Assmann

«Wann kommt der Tag?»

Die Kantate «Wachet! Betet! Betet! Wachet!» appelliert an die Gläubigen, bereit zu sein für den Tag, an dem Gott seine Getreuen aus dieser Welt der Unterdrückung und Ungerechtigkeit erlösen wird.

«Wann kömmt der Tag, an dem wir ziehen
aus dem Ägypten dieser Welt?»

So heißt es in der ersten Arie der Bach-Kantate «Wachet! Betet! Betet! Wachet!». Was haben wir uns unter dem «Ägypten dieser Welt» vorzustellen? Und an welchen Tag ist hier gedacht? Aus Ägypten sind die Kinder Israel bekanntlich schon vor über dreitausend Jahren ausgezogen, als Gott sie durch Mose aus dem Sklavenhaus befreite. Sie waren 400 Jahre vorher aufgrund einer Hungersnot aus Kanaan in Ägypten eingewandert und hatten sich dort zu einem grossen Volk vermehrt, so dass es die Ägypter mit der Angst zu tun bekamen und die Israeliten in den schlimmsten Formen unterdrückten. So steht es im Buch Exodus, im 2. Buch Mose, das damit das Bild Ägyptens in der kulturellen Erinnerung für alle Zeiten als Inbegriff von Ausbeutung, Unrecht und Unterdrückung eingeschwärzt hat. Dem Textdichter Salomon Franck gilt diese ganze Welt als ein einziges Ägypten, «ein Sklavenhaus», aus dem uns alle ein kommender Tag befreien wird. Das ist der Tag des Jüngsten Gerichts, bei dem am Ende der Welt die Frommen ins Paradies erlöst und die Sünder in die Hölle geworfen werden. Der Auszug aus Ägypten wird hier als eine Präfiguration des Weltendes genommen. So wie Gott einst die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft befreite, so wird er am Jüngsten Tag seine Getreuen aus dieser Welt der Unterdrückung und Ungerechtigkeit erlösen.
Salomon Franck hat diese Kantate zum 2. Advent geschrieben, und Bach hat sie in Weimar 1717 am 2. Advent aufgeführt. In Leipzig, wo er sie 1723 wieder aufführen wollte, war aber Musik an den Adventsonntagen ausgeschlossen. So musste er einen anderen Sonntag nehmen und wählte den 26. Sonntag nach Trinitatis. Bachs geistliche Kantaten sind alle für einen ganz bestimmten Ort im Kirchenjahr geschrieben. Und im christlichen Kirchenjahr haben alle Sonn- und Feiertage eine ganz spezifische Bedeutung. Das Kirchenjahr gibt der leeren Zeit Sinn und Form, sodass sie nicht nur vergeht, sondern auch etwas wiederbringt, die Erinnerung nämlich an die heilige Geschichte, die Gott mit den Menschen vorhat. Diese Bedeutung muss man kennen, wenn man Text und Musik der Bach-Kantaten verstehen will. Daher stellt sich die Frage, was der 2. Advent mit dem Weltende zu tun hat, und wie es Bach möglich war, eine für den 2. Advent geschriebene Kantate auf den 26. Sonntag nach Trinitatis umzuwidmen.

Der Sabbat
Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich aber ganz allgemein die Grossartigkeit des Gedankens hervorheben, die vergehende Zeit zum Medium der Vergegenwärtigung einer heiligen, hoch bedeutsamen Geschichte zu machen. Die Christen haben diese Idee von den Juden übernommen. Sie haben den Sabbat und damit die Woche eingeführt, eine kulturelle Errungenschaft, die sich inzwischen in der ganzen Welt durchgesetzt hat. Das war in der Zeit des babylonischen Exils, als nach dem Verlust von Land, Königtum und Tempel den Juden die Zeit als die einzige Dimension erschien, in der sich in der Fremde die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen noch ziehen und die besondere Identität des auserwählten Volkes im rituellen Vollzug erleben ließ. Die damalige Welt kannte Feiertage, aber keine Sonntage im Sinne einer in regelmäßigem kurzem Abstand wiederkehrenden Ruhezeit.
Im Kreislauf des Jahres liest sich die jüdische Gemeinde an den Sabbat- und Festtagen anhand ausgewählter Abschnitte durch die ganze Tora (die 5 Bücher Mose) und dazu passender Passagen aus den Prophetenbüchern hindurch. Die Tora handelt von der Geschichte, zunächst der Menschheit, dann Israels, von der Schöpfung bis zum Tod des Mose. Diese heilige Geschichte wird im Jahreslauf liturgisch rekapituliert und aus den Prophetenbüchern hermeneutisch beleuchtet. Der Sabbat verbindet also die zyklische und die lineare Zeiterfahrung. Das Zyklische liegt in der Wiederholung des formalen Ablaufs, das Lineare im lesenden und deutenden Nachvollzug der heiligen Geschichte. Das Christentum hat dieses Verfahren im Ritus des Kirchenjahrs übernommen und im Verlauf seiner Geschichte enorm erweitert und ausgestaltet.

Das Kirchenjahr
Das Kirchenjahr gliedert sich in zwei Hälften. Die erste Hälfte von Advent bis Pfingsten rekapituliert das Leben Jesu von der Geburt bis zur Himmelfahrt und der Ausgießung des Heiligen Geistes, also der Institution der Kirche. Bis dahin geht das Kirchenjahr also genau wie die jüdische Durcharbeitung der Heilsgeschichte linear-chronologisch vor. Die zweite Hälfte von Trinitatis bis zum 26., manchmal 27. Sonntag nach Trinitatis greift einzelne Themen aus den Evangelien auf. An die Stelle von Tora und Propheten treten bei den Christen Evangelien und Episteln, dazu aber immer noch thematisch passende Abschnitte aus dem Alten Testament, sowie Lieder, Gebete und Predigt, die das Thema in weitere Zusammenhänge stellen. Dadurch ist die Zeit, die im christlichen Kirchenjahr rituell vergegenwärtigt wird, dreischichtig geworden: die wichtigste Zeitschicht, das Leben Jesu, auf das sich die Evangelien- und Epistellesungen beziehen, liegt in der Mitte zwischen der alttestamentlichen Heilsgeschichte, die bis zur Schöpfung zurückreicht und der Gegenwart der Gemeinde, wie sie in den Liedern, Gebeten und Predigten anklingt.
In der profanen Alltagszeit ist ein Tag wie der andere, der seine zufällige Bedeutung aus den Geschäften und Widerfahrnissen des Lebens erhält. Die Zeit erscheint hier als reine Vergänglichkeit. Im sich alljährlich wiederholenden und in diesem Sinne ewigen Kirchenjahr jedoch hat jeder Sonn- und Feiertag seine ganz spezielle, nur ihm eigene heilsgeschichtliche Bedeutung, die sich aus der zugehörigen Evangelien- und Epistellesung ergibt, und die in der jeweiligen Begehung durch Lieder, Gebete und Predigt nach allen Richtungen hin ausgeleuchtet wird.

Das Weltende in zweifacher Beleuchtung
Der 2. Advent, für den Franck und Bach die Kantate «Wachet! Betet! Betet! Wachet!» geschrieben haben, steht in der Semantik des Kirchenjahrs im Zeichen der Erwartung des Kommens Christi. Dabei geht es aber an diesem Sonntag nicht um die Geburt des Heilands, sondern um seine Wiederkehr am Ende der Zeiten, also tatsächlich um das Weltende und Jüngste Gericht. Die Evangelien-Lesung zu diesem Tag ist Lukas 21, 25-34:
«Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen; und auf Erden wird den Leuten bange sein, und sie werden zagen, und das Meer und die Wassermengen werden brausen, und Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden; denn auch der Himmel Kräfte werden sich bewegen. Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in der Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht».

«Hebt euer Haupt empor und seid getrost, ihr Frommen!» singt denn auch der Tenor in der dritten Arie der Kantate.
Bach hat 1723 in Leipzig die Kantate für den 26. Sonntag nach Trinitatis umgewidmet. Das ist der letzte Sonntag des Kirchenjahrs, bevor es dann am 1. Advent wieder neu beginnt. Die Lesung für diesen Sonntag sah Matthäus 25, 31-46 und 2 Petrus 3, 3-23 vor. Das sind zwei Texte, in denen es ebenfalls um Weltende und Weltgericht, nun aber nicht im Zeichen der Erlösung, sondern von Furcht und Zittern geht. Bei Matthäus steht:
«Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken.» 

So hat es Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle dargestellt. Bei Petrus heisst es:

«Es wird aber des HERRN Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht, an welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen. (…) Wir aber warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.» (2 Petrus 3, 10-13)

Beide Tage, das Ende und der Anfang des Kirchenjahrs, stehen also im Zeichen derselben Endzeitstimmung. Das Kommen des Messias ist nah, und mit ihm das Ende der Welt, das Jüngste Gericht, die Erlösung der Frommen und die Bestrafung der Verdammten. So konnte Bach die Weimarer Kantate auch für Leipzig übernehmen, ohne ein einziges Wort an Salomo Francks Texten für den Eingangschor und die vier Arien zu ändern, in denen es um den Jüngsten Tag geht. Allerdings steht dieser Tag am 2. Advent vor allem unter dem Aspekt der Erlösung. Das macht schon die triumphale Eingangs-Sinfonia klar, in der die Trompete des Jüngsten Gerichts die Frommen zur freudigen Erwartung der Erlösung aufruft. Bach musste die Adventskantate also um den Aspekt des Zorns und Schreckens ergänzen, um sie für die sehr viel düstere Beleuchtung einzurichten, in der das Weltende am 26. Sonntag nach Trinitatis erscheint.

Das Accompagnato und die Schrecken des Weltendes
Zu diesem Zweck bestellte er sich für die Leipziger Fassung noch vier Rezitative, die er zwischen die Arien einschob. Für den Ausdruck der Schrecken des Jüngsten Tages verwendet Bach zwei hochdramatische Bass-Accompagnati. Das Accompagnato, das orchesterbegleitete Rezitativ, ist die dramatischste und expressivste der fünf musikalischen Formen, die in einer Kantate Verwendung finden können, neben Eingangschor, Schlusschoral, da-capo-Arie und sogenanntem Secco, dem nur vom Continuo begleiteten Rezitativ. Das erste Accompagnato unserer Kantate schließt an den Eingangschor an und steht ganz im Zeichen des dies irae, indem es die Sünder zur Umkehr aufruft, den Frommen aber mit einer plötzlichen Wendung ins Sanfte in lieblichen Melismen und Koloraturen die ewige Seligkeit verheißt. Im zweiten Accompagnato, das vor der letzten Arie und dem Schlusschoral steht, geht es besonders expressiv und dramatisch zu. Oktavierende und repetierende Sechzehntel im Bass, wilde Zweiunddreissigstel-Kaskaden in den Violinen malen Zusammenbruch und Absturz, und über dem Getümmel intoniert die Trompete des Jüngsten Gerichts den Choral «Es ist gewißlich an der Zeit», den das Gesangbuch dem 26. Sonntag nach Trinitatis zuordnet:

«Es ist gewißlich an der Zeit,
dass Gottes Sohn wird kommen
in seiner großen Herrlichkeit,
zu richten Bös und Fromme.
Da wird das Lachen werden teu’r,
wenn alles wird vergehn im Feu’r,
wie Petrus davon schreibet.»

Auch hier geht es wieder um Heil und Verdammnis. Die beiden Accompagnati arbeiten also die Ambivalenz des Jüngsten Tages heraus: für die einen bedeutet er das Ende mit Schrecken, Heulen und Zähneklappern, für die Anderen den ersehnten Anfang des ewigen Friedens und Heils. Ende und Anfang – das ist die Stimmung in diesen späten, düsteren Novembertagen vor dem 1. Advent. Das Kirchenjahr ist ans Ende gekommen und der Mensch denkt dabei sowohl an sein eigenes Ende, den Tod, als auch an das Ende der Zeit, die den einen das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis verheißt. Diesem dreifachen Ende steht aber ein zweifacher Anfang gegenüber: das neue Kirchenjahr mit der Advents- und Weihnachtszeit, und die Auferstehung am Ende der Weltzeit mit dem ewigen Leben in der neuen Welt des Gottesreiches, von dem die Christen träumen. Der jüngste Tag kommt wie ein Dieb in der Nacht, plötzlich, unvermutet, man muss ständig darauf gefasst sein. Bereitsein ist alles, mit Hamlet zu reden. Jedes Ende könnte das letzte sein; man weiss nicht, ob es noch einmal weitergeht. Da hilft nur Wachen und Beten, Beten und Wachen. «Wachet und betet», sagte Jesus im Garten Gethsemane, «in der Nacht da er verraten ward», «wachet und betet, auf dass ihr nicht in Anfechtung fallet!» (Matthäus 26,41). Nicht einschlafen in dem «Ägypten dieser Welt», nicht sich abfinden mit Verrat und Gewalt, Unrecht und Unterdrückung, auch wenn es nur um die Vermenschlichung der Welt und nicht ihre völlige Auflösung am Ende der Tage geht.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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