Tilge, Höchster, meine Sünden

BWV 1083 // unbekannte Bestimmung

für Sopran und Alt, Streicher und Basso continuo

Eine Bearbeitung von Giovanni Battista Pergolesis «Stabat mater», für Sopran und Alt, Streicher und Basso continuo.

Dass der in späteren Jahren als altmodisch kritisierte Bach durchaus neue Entwicklungen im Blick hatte, wird durch seine um 1746/47 anzusetzende Bearbeitung des «Stabat mater» von Giovanni Battista Pergolesi (1736) belegt. Mit ihr gelang dem Thomaskantor eine geniale Verschmelzung modernster neapolitanischer Ausdruckswelten mit der gediegenen Ausarbeitung seiner mitteldeutschen Heimat. So griff er bei der Verwandlung der lateinischen Marienklage in einen deutschen Busspsalm in die Satzfolge ein, ergänzte Passagen und überarbeitete Stimmführungen und Orchesterdynamiken. Das von Bach und seinem Schwiegersohn Altnikol erarbeitete Material wirft hinsichtlich der Entstehung und Zweckbestimmung noch manche Frage auf – bedeutet aber selbst für ausgemachte Kenner eine berührende Horizonterweiterung.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Marie Luise Werneburg

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Péter Barczi, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen

Viola
Martina Bischof, Sonoko Asabuki, Sarah Mühlethaler

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Frank Urbaniok

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
22.11.2024

Aufnahmeort
St. Gallen // Kirche St. Laurenzen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Entstehungszeit
um 1746–1747, Bearbeitung des «Stabat mater» von G. B. Pergolesi

Textgrundlage
Nachdichtung des Psalms 51, Dichter unbekannt

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Kurz vor seinem frühen Tod 1736 komponierte Giovanni Battista Pergolesi im Auftrag einer katholischen Laienbruderschaft sein «Stabat mater», recht gewagt in der galanten Tonsprache zeitgenössischer Opern gehalten. Dass nun der in späteren Jahren als altmodisch kritisierte Bach neueste Entwicklungen im Blick hatte, wird durch seine um 1746/47 anzusetzende Bearbeitung dieser Marienklage belegt. Mit ihr gelang dem Thomaskantor eine geniale Verschmelzung aktuellster neapolitanischer Ausdruckswelten mit der gediegenen Ausarbeitung seiner mitteldeutschen Heimat. Dabei trat an die Stelle des lateinischen Textes der vierte der sieben Busspsalmen, wobei eine gereimte Nachdichtung des Psalms 51 durch einen unbekannten Librettisten verwendet wurde. Dabei änderte Bach partiell die Satzfolge, ergänzte Passagen, überarbeitete Stimmführungen und führte dank verstärkenden Tutti- Violinen abgestufte Orchesterdynamiken ein. Insbesondere der Platztausch der Vorlagensätze 11 und 12 gestattete eine in dieser Aufhellung für den Busspsalm schlüssigere Dramaturgie. Dies spricht für die ausgeprägte Sorgfalt, mit der die angesichts teils deutlicher Affektänderungen und eines ausgefeilten Tonartenplans keineswegs einfache Neuaneignung vorgenommen wurde. Das von Bach und seinem Schwiegersohn Johann Christoph Altnikol erarbeitete Material wirft hinsichtlich der Entstehung und Zweckbestimmung noch manche Frage auf – bedeutet aber selbst für ausgemachte Kenner eine berührende Horizonterweiterung.

Giovanni Battista Pergolesi:
«Stabat mater» Nr. 1 & 12

Wortnahe und unrhythmische Übersetzung von Fr. Gregor Baumhof, OSB

Nr. 1

Stabat mater dolorosa,
iuxta crucem lacrimosa,
dum pendebat filius.

Nr. 1

Es stand die Mutter mit Schmerzen
weinend beim Kreuz,
als ihr Sohn dort hing.

Nr. 12

Quando corpus morietur
fac ut animae donetur
paradisi gloria.
Amen.

Nr. 2

Wenn der Leib stirbt, dann hilf,
dass Dein Sohn der Seele die
Herrlichkeit des Paradieses schenke.
Amen

Johann Sebastian Bach:
BWV 1083 «Tilge, Höchster, meine Sünden»

Versus 1 — Sopran, Alt

Tilge, Höchster, meine Sünden,
deinen Eifer laß verschwinden,
laß mich deine Huld erfreun.

Versus 1

Anstelle der mittelalterlichen Trauerklage Mariens unter dem Kreuz wählen Bach und sein unbekannter Textdichter den Busspsalm 51. Sie überspringen die Verse 1–2, David habe diese Worte nach seinem Fehltritt bei Bathesba und dem Verbrechen an Urija gesungen, und setzen gleich mit der Gebetsbitte ein: «Tilge, Höchster, meine Sünden». Über laufenden Bässen entfalten Streicher und Singstimmen ein von harmonischen Reibungen und Auflösungen sowie pathetischen Kantilenen und Seufzern geprägtes Klagebild.

Versus 2 — Sopran

Ist mein Herz in Missetaten
und in große Schuld geraten,
wasch es selber, mach es rein.

Versus 2

So ist aus Davids Bitte um Vergebung die in der Bußtradition angelegte Hoffnung aller Christen auf Reinwaschung ihrer Sünden geworden. Der mit seinen Synkopen zugleich federnde wie unerbittlich kurze 3/8-Takt verleiht der Aussage einen drängenden Charakter.

Versus 3 — Sopran, Alt

Missetaten, die mich drücken,
muß ich mir itzt selbst aufrücken;
Vater, ich bin nicht gerecht.

Versus 3

Dieses Bewusstsein führt zur Erkenntnis der eigenen Ungerechtigkeit. In diesem g-Moll-Duett verbinden sich ostentative Selbstanklagen mit fallenden Demutsgesten und auf Wirkung angelegten Seufzerketten.

Versus 4 — Alt

Dich erzürnt mein Tun und Lassen,
meinen Wandel mußt du hassen,
weil die Sünde mich geschwächt.

Versus 4

Eindrücklich ist der weiterführende Gedanke, dass der Sünde „Tun und Lassen“ den Menschen schwächt. Die Es-Dur-Altarie ermöglicht trotz ihrer synkopischen Motorik eine von hörbarem Edelmut geprägte Bußhaltung.

Versus 5 — Sopran, Alt

Wer wird seine Schuld verneinen
oder gar gerecht erscheinen?
Ich bin doch ein Sündenknecht.
Wer wird, Herr, dein Urteil mindern
oder deinen Ausspruch hindern?
Du bist recht, dein Wort ist recht.

Versus 5

Das Wissen um das Unrecht des „Sündenknechts“ mündet in die Frage: „Wer wird, Herr, dein Urteil mindern?“ Das einem Accompagnato ähnliche Duett steckt voller raffinierter Gesangs- und Orchestermanieren.

Versus 6 — Sopran, Alt

Sieh, ich bin in Sünd empfangen,
Sünde wurde ja begangen,
da wo ich erzeuget ward.

Versus 6

Wie im Psalmvers 7 wird hier die Erbsünde angesprochen. Das wohltuende Schweben des 6/8-Taktes steht in eigenartiger Spannung zur Selbstverdammung des Textes.

Versus 7 — Sopran

Sieh, du willst die Wahrheit haben,
die geheimen Weisheitsgaben
hast du selbst mir offenbart.

Versus 7

„Dir gefällt die Wahrheit“ heißt es im Psalm – hier aktiver: „Sieh, du willst die Wahrheit haben.“ Eine derart galante Opernarie hatte die lutherische Gemeinde vermutlich noch nie zu Gehör bekommen. Dabei schenkt Bachs Bearbeitung seiner geliebten Bratsche eine in Italien unbekannte Eigenständigkeit.

Versus 8 — Alt

Wasche mich doch rein von Sünden,
daß kein Makel mehr zu finden,
wenn der Isop mich besprengt.

Versus 8

Die Bitte um Reinwaschung wird wiederholt, und das schon in der hebräischen Bibel erwähnte Reinigungsmittel Ysop genannt (nicht identisch mit dem heutigen Hyssopus officinalis). Die c-Moll-Arie verkörpert mit fallenden Stakkati und gesteigerten Wiederholungen pures Drama.

Versus 8 — Alt

Wasche mich doch rein von Sünden,
daß kein Makel mehr zu finden,
wenn der Isop mich besprengt.

Versus 9

Nun tritt die gefühlsmäßige Wendung im Psalm ein: die Hoffnung auf „Freud und Wonne“ – „auch wenn das Kreuz mich hart bedrängt.“ Bach hatte an der Einrichtung dieses sowohl antikisierend-strengen wie freimodern konzipierten Fugensatzes gewiss Freude.

Versus 10 — Sopran, Alt

Schaue nicht auf meine Sünden,
tilge sie, laß sie verschwinden,
Geist und Herze schaffe neu.
Stoß mich nicht von deinen Augen,
und soll fort mein Wandel taugen,
o, so steh dein Geist mir bei.
Gib, o Höchster, Trost ins Herze,
heile wieder nach dem Schmerze,
Es enthalte mich dein Geist.
Denn ich will die Sünder lehren,
daß sie sich zu dir bekehren
und nicht tun, was Sünde heißt.
Laß, o Tilger, meiner Sünden,
alle Blutschuld gar verschwinden,
daß mein Loblied, Herr, dich ehrt.

Versus 11 — Alt

Öffne Lippen, Mund und Seele,
daß ich deinen Ruhm erzähle,
der alleine dir gehört.

Versus 11

Die Wendung führt zur Bereitschaft, Gott dankend zu rühmen. Gestische Streicher öffnen den Vorhang für einen nobel-heroischen Vokalauftritt.

Versus 12 — Sopran, Alt

Denn du willst kein Opfer haben,
sonsten brächt ich meine Gaben,
Rauch und Brand gefällt dir nicht.
Herz und Geist, voll Angst und Grämen,
wirst du, Höchster, nicht beschämen,
weil dir das dein Herze bricht.

Versus 12

Die prophetische Kritik am Brandopfer wird aufgenommen: Gott wolle vielmehr reuige, bußbereite Herzen und Geister. Sopran und Alt duettieren über luftigen Orchestergirlanden.

Versus 13 — Sopran, Alt

Laß dein Zion blühend dauern,
baue die verfallnen Mauern,
alsdann opfern wir erfreut;
alsdann soll dein Ruhm erschallen,
alsdann werden dir gefallen
Opfer der Gerechtigkeit.

Versus 13

Während im Psalm 51,20-21 die Aussicht auf die im restaurierten Jerusalem dargebrachten Stieropfer angedeutet wird, ist hier ethisch vom „Opfer der Gerechtigkeit“ die Rede. In leuchtendem B-Dur offeriert die festlich-schwungvolle Musik ansteckende Zuversicht.

Versus 14 — Sopran, Alt

Amen.

Versus 14

Die Kantate schließt mit einem als gewichtiges Fugenduett gestalteten „Amen“ – der hebräischen Bekräftigung: So möge es sein!

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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