Himmelskönig, sei willkommen

BWV 182 // zu Palmarum

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto dolce, Streicher und Continuo

Die Kantate «Himmelskönig, sei willkommen» BWV 182 entstand zum Palmsonntag 1714 als erste Komposition nach Bachs Ernennung zum Konzertmeister am Weimarer Hof. Alfred Dürr vermutet aufgrund einer Vorschrift in einzelnen Aufführungsstimmen, dass Bach zunächst plante, die Kantate bereits nach Satz 6 mit einer Wiederholung des Eingangschores abzuschliessen. Damit hätte das Stück die altertümliche Form einer Concerto-Arie-Kantate erhalten, ein Modell, das Bach nur noch selten verwandte. Anders als in Weimar gehörte Palmarum in Leipzig zur sogenannten «stillen Zeit» (tempus clausum), in der es wie zwischen erstem Advent und Weihnachten keine Figuralmusik mit Instrumenten geben durfte. Bach hat das Stück deshalb wohl 1726 für den Festtag Mariae Verkündigung umgewidmet und damit Jesu Ankunft in Jerusalem in einem weltumspannenden Sinne überhöht.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 182

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Claude Eichenberger

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Raphael Jud

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Noëmi Tran-Rediger

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann

Viola
Susanna Hefti, Céline Portat

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Constantin Bradatan

Flauto dolce
Armelle Plantier

Orgel
David Blunden

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Gottfried Wagner

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
30.03.2007

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 2, 4-6, 8
Salomo Franck (?)

Textdichter Nr. 3
Psalm 40, 8-9

Textdichter Nr. 7
Paul Stockmann, 1633
(33. Strophe aus «Jesu Leiden,
Pein und Tod»)

Erste Aufführung
25. März 1714, Weimar

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

An der Besetzung der einleitenden Sinfonia lässt sich erkennen, wie Bach seine Klangvorstellung entsprechend den ihm zur Verfügung stehenden Aufführungsräumen realisierte. Während die hier eingespielte Erstfassung für die kleine, als «Himmelsburg» jedoch hochaufragende Weimarer Schlosskapelle bestimmt war und als dialogische Oberstimmen über den gezupften Streichern je eine Blockflöte und eine Violine genügten, hat Bach für die grossen Leipziger Stadtkirchen eine Violine und eine Oboe hinzugefügt, um die Partien prägnanter zu machen. Die zarte und durchsichtige Kompositionsweise der Sinfonia setzt für die ganze Kantate einen verinnerlichten Ton: die Ankunft Jesu in Jerusalem, die ja seiner Erniedrigung und Kreuzigung vorangeht, wird nicht als prachtvoller Einzug eines irdischen Monarchen inszeniert, sondern der König des Himmels nimmt seine Wohnstatt im Herzen der auf ihn wartenden Menschen. Diese demütige Haltung wird durch den geradlinig-naiven Klang der Blockflöte verstärkt, der auch den einleitenden Chorus prägt. Dieser ist als Da-capo-Chorarie mit kontrastierendem Mittelteil angelegt; die verwendete Technik einer Permutationsfuge, in der alle Stimmen wiederholt die Folge eines Themas und dreier festgehaltener Kontrapunkte durchlaufen, ist jedoch von bemerkenswerter Kunsthaftigkeit. Das anschliessende Rezitativ geht bereits nach wenigen Takten in ein Arioso über: es ist Christus selbst, der hier von der Kreuz und Tod bringenden Ergebung in den Willen des Vatergottes spricht. In der folgenden Arie verwandelt sich der eben als Verkörperung des Heilandes agierende Bass in einen empathischen Kommentator dieses leidvollen Geschehens. Begleitet von einem schimmernden Streichersatz mit emsig arbeitender erster Violine hebt der Sänger wieder und wieder auf das «starke Lieben» ab, das Jesus erst zu seinem Blutopfer befähigte. Dass die Blockflöte nicht zufällig auf barocken Stilleben als Symbol der Trauer und Vergänglichkeit dargestellt wurde, lässt sich der folgenden Arie ablauschen. Im Sinne einer solchen «natura mortis» handelt es sich bei ihr um ein Stück Musik fast ausserhalb jeder Zeit. Über einem stockenden Bass intonieren Flöte und Singstimme einen aus absteigenden Linien bestehenden klagenden Dialog, der das Thema der Fügung in Gottes Ratschluss nun auch auf die gläubigen Menschen und ihr Verhältnis zu Christus anwendet, dem «Leben und Vermögen» zu weihen sind. Wie in einer barocken Lehenspyramide werden hier vom herrschenden Haupt bis zu den kleinsten Gliedern hierarchische Ordnungsvorstellungen reproduziert, wie sie einer Kirchenmusik im Kontext eines Fürstenhofes zweifellos gut zu Gesicht standen. Im emsigen Continuo-Ritornell der Tenorarie kann man das «Wohl und Weh» erkennen, das der Christ auf seiner beschwerlichen Reise durchleben muss. In den harschen «Kreuzige!»-Wendungen wird die Welt der unmittelbar bevorstehenden Passion mehr als nur angedeutet – die Identifizierung jedes einfachen Gläubigen mit Christi Opfergang stellt sich insofern als Leitidee der Kantate heraus. Die anschliessende Choralbearbeitung «Jesu, deine Passion, ist mir lauter Freude» greift diesen Gedanken in objektivierter Form auf; dass sie einen Meisterorganisten zum Kirchenkomponisten berufen hatten, dürfte den Weimarer Hofbeamten beim Hören dieses strengen Satzes deutlich geworden sein. Doch mochten Tonsetzer und Librettist ihr Werk nicht allzu verhalten beschliessen – vielmehr folgt mit dem abschliessenden Chorus, der mit seiner Dreiteiligkeit, dem dominierenden Flötenklang und der imitierenden Schreibweise wie eine tänzerische VAriente des Eingangschores wirkt. Kaum könnte man besser eine innere (Vor-)Freude beschreiben, die allein geistlicher Natur ist, als es dieser Satz trotz seiner beigemischten «Leidenstöne» vermag. Zugleich ist Bach hier hörbar auf dem Weg zur reifen Ensembleschreibweise seiner Brandenburgischen Konzerte.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Sonata

Grave, Adagio

2. Chor

Himmelskönig, sei willkommen,
lass auch uns dein Zion sein!
Komm herein!
Du hast uns das Herz genommen.

3. Rezitativ (Bass)

Siehe, ich komme, im Buch ist von mir geschrieben;
deinen Willen, mein Gott, tu ich gerne.

4. Arie (Bass)

Starkes Lieben,
das dich, grosser Gottessohn, von dem Thron
deiner Herrlichkeit getrieben!
Starkes Lieben,
dass du dich zum Heil der Welt
als ein Opfer fürgestellt,
dass du dich mit Blut verschrieben.

5. Arie (Alt)

Leget euch dem Heiland unter,
Herzen, die ihr christlich seid!
Tragt ein unbeflecktes Kleid
eures Glaubens ihm entgegen;
Leib und Leben und Vermögen
sei dem König itzt geweiht.

6. Arie (Tenor)

Jesu, lass durch Wohl und Weh
mich auch mit dir ziehen!
Schreit die Welt nur «Kreuzige!»,
so lass mich nicht fliehen,
Herr, vor deinem Kreuzpanier;
Kron und Palmen find ich hier.

7. Choral

Jesu, deine Passion
ist mir lauter Freude,
deine Wunden, Kron und Hohn
meines Herzens Weide;
meine Seel auf Rosen geht,
wenn ich dran gedenke,
in dem Himmel eine Stätt
uns deswegen schenke.

8. Chor

So lasset uns gehen in Salem der Freuden!
Begleitet den König in Lieben und Leiden!
Er gehet voran
und öffnet die Bahn.

Reflexion

Gottfried Wagner

«Der jüdische und christliche Messias»

Gedanken über den Umgang mit jüdisch-christlichen Traditionen nach der Shoah

Der Text der Kirchenkantate «Himmelskönig, sei willkommen» wird dem Weimarer Kirchenlieddichter Salomon Franck zugeschrieben, mag auch letzte Klarheit darüber nicht bestehen. Das Rezitativ zitiert zwei Verse aus dem 40. Psalm, und die einzige Choralstrophe dieser Kantate entspricht im Wesentlichen der vorletzten Strophe aus Paul Stockmanns Passionslied «Jesu Leiden, Pein und Tod» mit dem Textbeginn «Jesu, deine Passion ist mir lauter Freude».
Im Zusammenhang mit dem Titel der Kantate «Himmelskönig, sei willkommen» interessieren mich die verschiedenen Deutungen des endzeitlichen Heils von Juden und Christen. Das Bild des Himmels­königs erfordert eine Hinterfragung der Messiasvorstellung aus jüdischer Sicht. Nach der Shoah ist aber auch seitens der Christen eine sensible Auseinandersetzung mit dem Jesus-Christus-Ereignis als personale Zusammenfassung jüdischen Lebens und Glaubens notwendig.
Aufschlussreich ist bereits der Hinweis auf Zion im einführenden Chor:

«Himmelskönig, sei willkommen,
laß auch uns dein Zion sein!
Komm herein!
Du hast uns das Herz genommen.»

Zion
Der Zion-Berg verdankt seine besondere Bedeutung dem Um­ stand, dass König David Jerusalem zu seiner Hauptstadt, zum Mit­telpunkt des Volkes Israel – Juda und seines Gottesglaubens machte. Mit Zion als Berg Gottes ist heute aber auch im Allgemeinen die ganze Stadt Jerusalem mit ihren endzeitlichen Heilsdeutungen ge­meint. Später, in der Diaspora, dachten die Juden bei dem Namen «Zion» an den Tempel, an ganz Jerusalem und das gesamte Volk im Land der Väter. In der christlichen Glaubenstradition ist unter Zion auch die Stadt des lebendigen Gottes, des himmlischen Jerusalem zu verstehen, wie man dem Paulusbrief an die Hebräer entnehmen kann.

Der Messias und die messianische Zeit aus jüdischer Sicht
Gläubige Juden verstehen unter dem Messias den gesalbten König Israels, der in der letzten Periode der Geschichte auftreten wird, um den bevorstehenden «Umbruch der Zeiten» zu Gericht, Heil und Verwerfung anzukündigen und vorzubereiten. Die jüdische Messiaserwartung gründet in der biblischen Verkündigung als dem Zeug­nis der Geschichte Gottes in dieser Welt. Gott, der Schöpfer der Welt, wird auch ihr Ende bestimmen. Dieses Ende bedeutet aber nicht Chaos oder Vernichtung, sondern Heil für das Volk Israel und alle Völker. Die Zeit des Heils leitet der Messias ein. Er ist der dem Volk Israel verheissene König der Endzeit. Die Aufgabe des kommenden Messias ist die völlige Durchsetzung der Gottesherrschaft – nicht nur in Israel, sondern auch unter den Völkern. Dann wird das Volk Israel erlöst aus Leid und Bedrängnis unter den Völkern; alle Verfol­gung, Entwürdigung und Verachtung hören auf, das Volk Israel fin­det zu seinem Recht in dieser Welt.
«Erlösung» meint dabei nicht so sehr Erlösung von Sünde und Schuld als vielmehr nationale Befreiung. Dann wird Frieden («Sha­lom» im Sinne des allumfassenden Heils) werden für Israel und alle Völker. Jeder jüdische Messiasanspruch wird daran gemessen, ob er solchen weltumfassenden Frieden verwirklicht. Hat aber der Messias den Frieden Gottes herbeigeführt, ist seine Aufgabe erfüllt, und Gott selbst wird König sein.
Auf die Frage, wer und wie der Messias sein wird, gibt es in der hebräischen Bibel verschiedene Antworten. Nach dem Propheten Daniel wird ein Messias erwartet, der in siegreicher, leuchtender Glorie sein von Gott gegebenes Königsamt antritt. Nach dem Pro­pheten Sacharja hingegen ist der Messias ein König, der in niedriger Demut zu wirken beginnt.
Aus der Zeit der Errichtung des Zweiten Tempels (ca. 510 v. Chr.) stammt die «Heroldsansage» über einen gerechten, heilserfahrenen und armen König, der auf einem Esel reiten – und nach der Vernich­tung des Kriegs – eine internationale Friedensdiplomatie pflegen wird. Das erste Zeugnis einer umfassenden Vorstellung einer idealen David-Endzeit mit einem herrscherlich-messianischen Sohn Davids als Repräsentanten findet sich in den Psalmen Salomons. Vom Mes­sias als Person ist der allgemeine Begriff «messianische Zeit» oder «Endzeit» zu unterscheiden. Damit ist die Endphase der Geschichte gemeint, die als entscheidende und schwere Zeit der Krise, Läute­rung und Erneuerung «der kommenden Welt» vorangeht.
Entscheidend aus heutiger Sicht und im Schatten der geschichtlichen Erfahrung ist, dass die Kirche heute nicht mehr wie in der Vergangenheit behauptet, die Christen glauben an Jesus als den Messias, während die Juden nicht glauben, dass mit Jesus der Mes­sias schon gekommen ist. Nach Markus hatte Jesus starke Vorbe­halte gegenüber dem Messiastitel und hatte ein Hoheitsbewusstsein, das nicht nur messianisch war. Der Christus-Titel – also der Ge­salbte –, der ihm als dem Auferstandenen und Verherrlichten gege­ben wurde, ist ein Würde-Namen, der trotz derselben Wortwurzel nicht mit «Messias» wiedergegeben werden kann.
Das Jesus-Christus-Ereignis lässt sich mit Verweisungszusam­menhängen aus der jüdischen Tradition belegen. Christus lebte als gläubiger Jude im Sinne der Schekina, also der Einwohnung Gottes im Volke Israel und seinen Institutionen. Er glaubte an den Herab­ stieg Gottes zu seinem Volk und zu den Völkern. Christus, so in der Auslegung von Johannes, eröffnet den Weg zur vollen Würdigung der vielfältigen jüdischen messianischen Hoffnungen und auch zum immanenten messianischen Teil des Christentums, denn das Chris­tentum ist nach Christus messianisch geblieben. Diese Vorbereitung auf das Reich Gottes ist gott- und menschenbezogen und impliziert den Kampf gegen Unterdrückung, Intoleranz, Antijudaismus, Rassismus und Antisemitismus. In ihrer messianischen Aufgabe kann die Kirche im Sinne einer Ergänzung volle Partnerin der Juden sein.

Jesus in der jüdischen Tradition
Wie tief Jesus im Judentum verankert ist, lässt sich mit seiner Ge­burt und Erziehung als Jude und als ein Lehrer Israels und Heiler seiner Zeit nachweisen. Aber seine Bedeutung als Jude geht aus christlicher Sicht weit darüber hinaus, wie etwa in der Bezeichnung «Jesus, der Prophet» und auch «Jesus, der Messias Israels» deutlich wird. So sehr Jesus in seinem Volke wirkte, nahm er doch innerhalb dieses Volkes eine besondere Stellung ein. Sein Auftreten trägt in der Tat auch prophetische Züge. Jesus nahm die Kritik der Propheten des Alten Testaments am eigenen Volk auf, stellte sich gegen eine zu enge Auslegung der Tora und führte sie in seinem Lehren und Handeln weiter. Indem er Vergebung der Sünden zusprach, kün­digte er zugleich das Kommen des Gottesreiches an. Er sammelte einen Kreis von zwölf Jüngern, entsprechend den zwölf Stämmen Israels, um sich und berief Menschen in seine Nachfolge. Vor allem wandte er sich den Armen, Kranken und Aussenseitern zu. Damit machte er sich bei seinen Anhängern zum langersehnten Messias und Retter Israels, was aber von den politischen Machthabern be­kämpft wurde und mit der Kreuzigung von Jesus endete.
Jesu Leidensweg und sein Sterben am Kreuz geschahen in völliger Hingabe an den Willen Gottes. Sein Weg der Niedrigkeit war be­stimmt von der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen. Bei seinem Tod sprach er jüdische Gebete, die den Psalm 22, 2 beinhal­ten, der von den Leiden und Hoffnungen des Gerechten spricht. Die Auferstehung Jesu, wie sie uns in der Heiligen Schrift des Neuen Bundes, also der christlichen Bibel, vorliegt, liess seine Anhänger glauben, dass sein Tod ein von Gott gewolltes Geschehen war, das für Israel und durch Israel für die Welt gelten sollte. Die zunächst von und für Juden verkündete Überzeugung, dass der Opfertod des Juden Jesus Gottes Heilsangebot ist, wurde für die judenchristliche Urgemeinde absolute Wahrheit. Bahnbrechend für das Christentum wurde, dass das Heilsgebot, so der Heidenapostel Paulus, auch für Heidenvölker galt. Der Evangelist Johannes erinnert daran, als er bekannte: «Das Heil kommt von den Juden» und meinte damit, dass Israel der Welt Christus geschenkt hat.

Passa – Abendmahl
Da der Kantatentext von Salomon Franck zeitlich eng mit dem Passafest der Juden und Abendmahl der Christen zur Osterzeit ver­bunden ist, scheint ein Vergleich von Gemeinsamkeiten und Ähn­lichkeiten angezeigt.
Passa wurde als Feier der Erinnerung und Vergegenwärtigung des Auszugs aus Ägypten zum wichtigsten Fest Israels. Zur Feier des Passamahls gehören bestimmte Segenssprüche und Gebete, die vom Auszug aus Ägypten und von der Stiftung des Passafests berichten. Weil Gott einst sein Volk befreit hat, erhofft man sich eine neue Errettung. Passa ist aber kein Sakrament für Juden, da Brot, Wein, der geröstete Lammknochen und die anderen Elemente des Passamahls nur als Symbole und Zeichen von Gottes Heilshandeln verstanden und vergegenwärtigt werden.
Beim Abschiedsmahl brach Jesus mit seinen Jüngern wie beim Passamahl das Brot und trank Wein. Beides war mit Worten der Deutung, mit Dankgebeten und Lobliedern verbunden. Entschei­dend ist die Umdeutung des Passa, das bei Christen nicht nur als Abschiedsmahl von Jesus verstanden wird: Er selbst nimmt die Stelle des Passalammes ein und gibt Anteil an seinem Sterben.

Die Inspirationsquellen des Kantatendichters: die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes
Als Inspirationsquellen für seine freie Dichtung dienten dem Pro­testanten Salomon Franck die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die den messianischen Einzug von Jesus in Jerusalem als Glaubensberichte wiedergeben. Die genaue Lektüre des Einzugs Jesu in Jerusalem in den abweichenden Interpretationen der vier Evangelien ist für eine Deutung von Francks Dichtung be­sonders anregend. Gemeinsam ist den vier Evangelien das messianische Bild von Jesus, der auf dem Esel sitzend in Jerusalem trium­phierend einzieht.
Ohne diese Hinweise ist der Kantatentext von Salomon Franck mit seinen zahlreichen Bezügen und Zeichen auf die hebräische und christliche Bibel unbegreiflich. Ich gehe in meinem Interpretations­versuch der sieben Textteile von dem Buch des Propheten Sacharja aus, da – bei allen Differenzen in der Gottesfrage – Juden und Chris­ten jenem Tag Gottes entgegenbeten: «An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.»

 Die sieben Textteile der Kantate

Chor
«Himmelskönig, sei willkommen,
laß auch uns dein Zion sein!
Komm herein!
Du hast uns das Herz genommen.
»

Franck verarbeitet sehr frei und kühn in seinem ersten Text der christlichen Gemeinde «Himmelskönig, sei willkommen» jüdische Vorstellungen vom Messias und von messianischen Zeiten mit dem Jesus-Christus-Ereignis bei dem Einzug von Jesus in Jerusalem am Palmsonntag.
Das Kühne liegt in der radikalen Umdeutung und Loslösung des Wortes Zion aus seinem religionsgeschichtlichen Zusammenhang, denn damit ist ursprünglich erst einmal sowohl die heilige Stadt der Könige David und Salomon und der Juden als auch die himmlische Stadt des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes der Christen gemeint. Jesus steht also in der Tradition des jüdischen und christlichen Glaubens.
Ebenso erstaunlich ist bei Franck auch die Umdeutung des Wortes «Herz», wenn man bedenkt, dass Juden und Christen glauben, dass der Kopf der Sitz des Lebens und das Herz der Sitz der Intelligenz, der Erinnerung und des Gewissens sei, wie man in vielen Texten der hebräischen und christlichen Bibel nachlesen kann.
Franck aber zeigt die gläubige Gemeinde seiner Zeit als Zion wie eine sehnsüchtige Frau, die auf den Geliebten wartet, wie man sei­ner poetischen Wendung «Du hast uns das Herz genommen», also ge­stohlen, entnehmen kann.

Rezitativ
«Siehe, ich komme, im Buch ist von mir geschrieben; deinen Willen, mein Gott, tue ich gern.»

Franck rekurriert hier auf zwei Verse aus Psalm 40, 8-9: [«Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt / darum sage ich] / «Ja, ich komme. In die­ser Schriftrolle steht, / was an mir geschehen ist.» Indem der Dichter Je­sus mit dem Psalm 40 der hebräischen Bibel mit seiner freien Bear­beitung verbindet, weist er auf die umfassende Vorstellung einer idealen David-Endzeit mit einem herrscherlich-messianischen Sohn Davids und damit auch auf Jesus als die personale Zusammenfassung seines jüdischen Lebens und Glaubens hin – eine Zusammen­fassung, welche die vielfältigen jüdischen und christlichen messia­nischen Hoffnungen als Zeichen wiedergeben. Franck gestaltet seine Worte als Dialog von Jesus mit Gott, dem Vater. «Deinen Willen, Vater, tue ich gerne», wie es in der Tora verheissen war.

Bass-Arie
«Starkes Lieben,
das dich, großer Gottessohn,
von dem Thron
deiner Herrlichkeit getrieben!
Dass du dich zum Heil der Welt
als ein Opfer vorgestellt,
dass du dich mit Blut verschrieben.
»

Es geht hier um die Menschwerdung Gottes und die Liebe zu den Menschen. Die poetische Umsetzung erinnert an den Prolog des Evangeliums nach Johannes: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Das wahre Licht, das jedem Menschen leuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.»

Alt-Arie
«Leget euch dem Heiland unter, Herzen, die ihr christlich seid! Tragt ein unbeflecktes Kleid eures Glaubens ihm entgegen; Leib und Leben und Vermögen sei dem König itzt geweiht.»

Mit dem Einzug von Jesus in Jerusalem beginnt Franck seine Ge­staltung der Passionsgeschichte. Er beschreibt die Gläubigen, die alles irdische Gut geben, um Jesus den Weg ins Himmelreich zu be­reiten.

Tenor-Arie
«Jesu, lass durch Wohl und Weh
mich auch mit dir ziehen!
Schreit die Welt nur ‹Kreuzige!›,
so lass mich nicht fliehen,
Herr, von deinem Kreuzpanier;
Kron und Palmen find ich hier.»

Franck erinnert hier an den Prozess des Pilatus gegen Jesus: «Schreit die Welt nur ‹Kreuzige›!» Der gläubige Christ will aber nicht wie die Jünger Jesu aus Angst vor der eigenen Verurteilung und dem Tod durch das Bekenntnis zu Jesus fliehen.

Choralstrophe aus Paul Stockmanns Passionslied «Jesu Leiden, Pein und Tod»
«Jesu, deine Passion
ist mir lauter Freude,
deine Wunden, Kron und Hohn
meines Herzens Weide;
meine Seel auf Rosen geht,
wenn ich dran gedenke,
in dem Himmel eine Stätt
uns deswegen schenke.»

Hier zeigt Paul Stockmann verzückte Christen, die ohne Angst, mit Freude dem Opfertod Jesu entgegensehen, da sie Jesus als Ver­künder der messianischen Zeit erkennen: die Krone als eine Vision einer idealen David-Endzeit mit einem herrscherlich-messianischen Sohn Davids. Das Herz, also das reine Gewissen, und die Seele fin­den sanfte Ruhe auf einer Weide mit Rosen ohne Dornen bedeckt. Die Verbindung von Gewissen und Seele weist wieder auch auf die jüdische Tradition hin. So auf den Psalm 62, in dem David Gott als Hoffnung preist, wenn er bekennt: «Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.» Im Gedanken daran sehen die Christen die himmlische Gottesstadt Jerusalem auf dem Weg mit Jesus zu Gott vor sich.

Schlusschor
Beeindruckend ist, wie Franck das Ende des Kirchenkantatentextes im Zusammenhang mit der Tradition der hebräischen und christlichen Bibel im siebten Textteil der Kantate, dem Schlusschor, gestaltet:

«So lasset uns gehen in Salem der Freuden!
Begleitet den König in Lieben und Leiden!
Er gehet voran
und öffnet die Bahn.»

 Mit Salem meint Franck hier Shalom, also einerseits den Frieden und das im Zusammenhang mit der messianischen jüdischen Hoff­nung auf einen weltumfassenden Frieden für alle Völker und mit ihnen auch das jüdische Volk. Aus christlicher Sicht ist damit Ostern, die Zeit nach Auferstehung Jesu gemeint, wie sie sich im Johannes­ Evangelium in den Erscheinungen Jesu vor den Jüngern manifestiert: «Am Abend dieses ersten Tages der Woche [nach der Auferstehung] … kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!» Damit wäre eigentlich der Messias gekommen. Zwei kurze Ge­schichten zum Streit um den Messias bei Juden und Christen in der Tradition des jüdischen Witzes sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Die eine betrifft die Elias-Legende aus dem 3. Jahrhundert nach Christus. Sie endet damit, dass Rabbi Josua ben Levi sich bei dem Propheten Elias beschwert, weil der Messias ihn belogen habe, denn er habe gesagt: «Heute werde ich erscheinen – und er ist doch nicht ge­kommen.» Der Prophet Elias entgegnete ihm: «Er wollte dir bloß sagen: Heute, wenn ihr auf seine Stimme hört.»
Die andere Geschichte stammt vom israelischen Autor Amos Oz. Er erzählt von seiner Kindheit: «Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, erklärte mir meine sehr kluge Großmutter in einfachen Worten den Unterschied zwischen Juden und Christen: Christen, so sagte sie, glauben, dass der Messias schon einmal hier war und eines Tages zurückkehren wird. Die Juden dagegen bestehen darauf, dass der Messias noch kommen wird. Darüber, so sagte meine Großmutter, entstand so viel Wut, Verfolgung, Blutvergießen, Hass … Warum? sagte sie, Warum können nicht alle einfach abwarten? Wenn der Messias kommt und sagt: ‹Hallo, es freut mich, euch wiederzusehen›, dann müssen die Juden nachgeben. Wenn aber anderseits der Messias kommt und sagt: ‹Wie geht es euch, es freut mich sehr, euch zu treffen›, dann müsste sich die gesamte Christenheit bei den Juden entschuldigen. ‹Lebe und lasse leben zwischen jetzt und dann›, so meine kluge Großmutter…» Sie kannte das Geheimnis, mit ungelösten Konflikten, mit dem Anderssein der anderen umzugehen.

Die stete Hoffnung der Menschheit auf eine messianische Zeit
Nach Auschwitz und dem 11. September 2001 versteht es sich von selbst, dass alle Söhne Abrahams – also Juden, Christen und Moslems – auf die messianische Zeit warten, in der weltumfassen­ der Frieden und mit ihm Gott «der Herr König sein und über die ganze Erde sein wird, denn «an jenem Tag wird der Herr einzig sein und sein Name einzig». Also ganz so, wie es von Sacharja im 14. Kapitel be­schrieben wird.
Im Sinne der weisen Grossmutter von Amos Oz ist auch der Text der klingenden Vision eines kommenden, weltumfassenden Frie­dens des jüdischen Komponisten Yair Dalal aus Israel für die Osloer Friedensverträge von 1993 zu verstehen:

«Zaman el Salaam – Time for Peace»

Arabic:
«Like an ocean – peace, my love
has a wide and embracing soul.
There are times of ebb and flow
In days of struggle and sorrow.
Between storms and thunder,
feelings outburst – my love
Time for Peace • Inshallah»

Hebrew:

«There is a time, I know
From far away I long for
Like a lone star in the rain
there, up in heaven.
There are times of ebb and flow
In days of struggle and sorrow
between the lightning, a rainbow will appear
then I will know that the time is now
Time for Peace • Inshallah»

Übersetzung des arabischen Textes:

«Wie ein Ozean, hat der Frieden, meine Liebe,
eine weite und umarmende Seele.
Es gibt Zeiten von Ebbe und Flut
In den Tagen des Kampfes und der Trauer
Zwischen Stürmen und Gewitter
Gefühle brechen auf – meine Liebe:
es ist Zeit für Frieden • Inshallah!»

Übersetzung des jüdischen Textteils:

«Es gibt eine Zeit, das weiss ich,
weit weg von hier, nach der ich mich sehne
Wie ein einsamer Stern im Regen
Da oben im Himmel.
Es gibt Zeiten von Ebbe und Flut
In Tagen von Kampf und Trauer
Zwischen den Blitzen wird ein Regenbogen erscheinen
Dann werde ich wissen, dass die Zeit gekommen ist
Zeit für Frieden • Inshallah»

 

Für Eugenio, Alberto und Silvia.

Mein herzlicher Dank allen, die mir bei der Vorbereitung dieses Textes und der Abbildungen Ratschläge gaben: Dr. Holger Banse, Hamm; Harvey Sachs, New York; Riccardo Bremer, Pietrasanta; Dr. Eberhard Wagner, Gesees bei Bayreuth; Mag. Bettina Semoff, München; Enrico Fubini, Turin; Dr. Michael Wirth, Lausanne.

 

Literatur
• Die Neue Jerusalemer Bibel, Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien 2000
• Arnulf H. Baumann (Hg.), Was jeder vom Judentum wissen muss, Gütersloh 1993
• J. J. Petuchowski – C. Thoma, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung – Hintergründe Klärungen Perspektiven, Freiburg, Basel, Wien 1994
• Dizionario della Bibbia, A. Vallardi- Garzanti, Milano 1993
• Adel Theodor Khoury u. a., Was ist Erlösung, Die Antwort der Weltreligionen, Freiburg im Breisgau 1985
• Amos Oz, Help us to divorce, Israel and Palestine: between right and right, London 2004
• Arnold Schering (Hg.), J. S. Bach, Kantate Himmelskönig, sei willkommen, BWV 182, Edition Eulenburg Nr. 1024, o. O., o. J.
• Hans-Joachim Schulze, Die Bachkantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs, Leipzig 2. Auflage 2007
• Editors Of Reader’s Digest (Hg.), The Story Of Jesus, A Treasury Of Great Works Of Art And Writings Inspired By The Life Of Jesus, Reader’s Digest, New York 1993

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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