Erwünschtes Freudenlicht

BWV 184 // zum 3. Pfingsttag

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Flauto traverso I+II, Streicher und Continuo

Das Werk geht auf eine Festmusik aus Bachs Köthenerzeit zurück. Ein unbekannter Dichter hat im sog. Parodieverfahren zu den einzelnen Teilen der bereits vorhandenen Musik möglichst passende neue Texte verfasst. Er liess sich weitgehend von der Evangelienlesung des Feiertages aus Johannes 10 leiten, wo von Jesus, dem guten Hirten, die Rede ist.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 184

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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Ulrike Hofbauer

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Daniel Johannsen

Bass
Fabrice Hayoz

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein, Maria Mittermayr

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Alois M Haas

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.05.2010

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1-4, 6
Unbekannt

Textdichter Nr. 5
Anarg von Wildenfels, 1526

Erste Aufführung
3. Pfingsttag,
30. Mai 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Während die Choralkantaten des Jahrgangsprojektes 1724/25 nach einem Standardmodell konzipierte Neukompositionen darstellen, geht die Pfingstkantate BWV 184 auf eine verschollene und wahrscheinlich nur für zwei Singstimmen gedachte höfische Glückwunschkantate aus Bachs Köthener Dienstzeit zurück, die Bach erstmals 1724 für Leipzig einrichtete und dann mindestens 1731 nochmals in womöglich überarbeiteter Form wiederaufführte.

Das einleitende Tenorrezitativ prägt mit den munteren Traversflöten von Beginn an einen charmanten Charakter aus. Passend zur Hirtenmetaphorik zeichnet sich ein Frühsommerspaziergang mit gurrenden Vogelrufen ab, der es gar nicht leicht macht, sich auf den seriös-lehrhaften Vortrag des unverdrossen argumentierenden «Singepfarrers» zu konzentrieren – eine innere Spannung, die den Vokalsolisten aber vielleicht auch zu seinem verzückten Arioso-Abschluss verleitet.

Das folgende Sopran-Alt-Duett hat von seiner weltlichen Vorlage zweifelsohne die typisch höfische Kombination aus fasslichem Tanzduktus und volltönender Tutti-Besetzung entlehnt. Das terzenselige Duettieren erneuert im Einklang mit den perlenden Instrumentalgirlanden das Bild einer verzauberten Idylle und macht so die zuweilen etwas spröde Pfingstthematik als beglückende Ermutigung plausibel. Die beiden Singstimmen agieren dabei wie in einem opernhaften Liebesgesang; wie es angesichts einer so lieblichen Klangwelt dann getreu dem Wortlaut des Mittelteils gelingen soll, gerade dieses verführerische «Locken der schmeichelnden Erde» zurückzuweisen, bleibt das Geheimnis des Librettisten…

Das erneut dem Tenor übertragene zweite Rezitativ äussert in beseeltem Tonfall die Einsicht, dass die in Jesu Herz wohnenden auserwählten Seelen eine vollkommene Freude geniessen dürfen, die bereits auf den Himmel vorausweist. Der Text kombiniert dabei Bilder und Gestalten des Alten Testamentes mit der Liebestat am Kreuz und verleiht so der Textaussage beträchtliche heilsgeschichtliche Tiefe.

Die folgende Tenorarie mit obligater Violine bringt in dieses gelöste Musizieren einen leidenschaftlich gespannten Ton ein, der die mit dem Pfingstgeschehen anbrechende «güldne Zeit» mehr als arbeitsam errungenen Idealzustand denn als bequemes Schlaraffenland erscheinen lässt. Dass die Prosodie dieser offenkundigen Neutextierung nicht immer glücklich geriet, haben Betrachtungen der Kantate bereits wiederholt angemerkt.

Während Bach in seiner Vertonung der achten Strophe des reformatorischen Liedes «O Herre Gott, dein göttlich Wort» dem alten Choral einen beschwingt-ariosen Charakter abgewinnt, kann der folgende Schlusschor seine Herkunft aus einem weltlichen Drama erneut nicht verleugnen. Bach hat dabei offenbar eine nur zweistimmige Vorlage in den Rahmenabschnitten zur üblichen Chorbesetzung a 4 aufgefüllt. Dieses schwungvolle Stück ging dann 1733 mit dem neuen Text «Lust der Völker, Lust der Deinen» in die zu Ehren des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian komponierte Herkules-Kantate «Laßt uns sorgen, laßt uns wachen» ein und wäre beinahe auch noch dem Eingangschor der Kantate V des Weihnachtsoratoriums unterlegt worden, wenn Bach sich nicht zur ungleich mitreissenderen Neuvertonung von «Ehre sei dir, Gott, gesungen» entschlossen hätte.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Rezitativ (Tenor)

Erwünschtes Freudenlicht,
das mit dem neuen Bund anbricht
durch Jesum, unsern Hirten!
Wir, die wir sonst in Todes Tälern irrten,
empfinden reichlich nun,
wie Gott zu uns den längst erwünschten Hirten sendet,
der unsre Seele speist
und unsern Gang durch Wort und Geist
zum rechten Wege wendet.
Wir, sein erwähltes Volk, empfinden seine Kraft;
in seiner Hand allein ist, was uns Labsal schafft,
was unser Herze kräftig stärket.
Er liebt uns, seine Herde,
die seinen Trost und Beistand merket.
Er ziehet sie vom Eitlen, von der Erde,
auf ihn zu schauen
und jederzeit auf seine Huld zu trauen.
O Hirte, so sich vor die Herde gibt,
der bis ins Grab und bis in Tod sie liebt!
Sein Arm kann denen Feinden wehren,
sein Sorgen kann uns Schafe geistlich nähren,
ja, kömmt die Zeit, durchs finstre Tal zu gehen,
so hilft und tröstet uns sein sanfter Stab.
Drum folgen wir mit Freuden bis ins Grab.
Auf! Eilt zu ihm, verklärt vor ihm zu stehen.

1. Rezitativ
Der Dichter spricht vom «Freudenlicht», das mit der Zeit des Neuen Testaments angebrochen ist durch den guten Hirten Jesus. Dieser gute Hirt liebt seine Herde und gibt sein Leben hin für die Schafe, wie es im Evangelium heisst. Auch der Dichter des 23. Psalms wird zitiert, welcher sich im finstern Todestal nicht fürchtet, weil der gute Hirt ihn begleitet. Wer diesem Hirten nachfolgt, ist berufen, dereinst «verklärt vor ihm zu stehen» (Philipper 3, 21). Die rezitierende Tenorstimme umflackern zwei Querflöten mit einem Motiv, welches Freudenlicht und gleichzeitig pfingstliche Feuerzungen evozieren kann.

2. Arie (Duett Sopran, Alt)

Gesegnete Christen, glückselige Herde,
kommt, stellt euch bei Jesu mit Dankbarkeit ein!
Verachtet das Locken der schmeichlenden Erde,
daß euer Vergnügen vollkommen kann sein!

2. Arie
In dieser Arie klingt das Wort Jesu aus Matthäus 11, 28 an: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» Sopran und Alt singen im Duett und im 3/8-Takte einen vergnüglichen Hirtenreigen.

3. Rezitativ (Tenor)

So freuet euch, ihr auserwählten Seelen!
Die Freude gründet sich in Jesu Herz.
Dies Labsal kann kein Mensch erzählen.
Die Freude steigt auch unterwärts zu denen,
die in Sündenbanden lagen,
die hat der Held aus Juda schon zerschlagen.
Ein David steht uns bei.
Ein Heldenarm macht uns von Feinden frei.
Wenn Gott mit Kraft die Herde schützt,
wenn er im Zorn auf ihre Feinde blitzt,
wenn er den bittern Kreuzestod
vor sie nicht scheuet,
so trifft sie ferner keine Not,
so lebet sie in ihrem Gott erfreuet.
Hier schmecket sie die edle Weide
und hoffet dort vollkommne Himmelsfreude.

3. Rezitativ
Hier wird betont, dass die Erlösungstat Jesu allen Menschen zugute kommen soll; auch Sünder dürfen zur Herde kommen. Beim Versprechen «vollkommener Himmelsfreuden» ergeht sich der Bass in ausschwingenden Fiorituren.

4. Arie (Tenor)

Glück und Segen sind bereit,
die geweihte Schar zu krönen.
Jesus bringt die güldne Zeit,
welche sich zu ihm gewöhnen.

4. Arie
Mit Jesus haben sich die Verheissungen des Alten Testamentes erfüllt (Lukas 4, 19.21). Das Bild, dass der gute Hirt die geweihte Schar krönen werde, stammt aus dem 1. Petrusbrief 5, 4. «Glück und Segen» verheissen Tenor und eine Solovioline im Wechselspiel.

5. Choral

Herr, ich hoff je, du werdest die
in keiner Not verlassen,
die dein Wort recht als treue Knecht
im Herzn und Glauben fassen;
gibst ihn’ bereit die Seligkeit
und läßt sie nicht verderben.
O Herr, durch dich bitt ich, laß mich
fröhlich und willig sterben.

5. Choral
Bach überrascht uns: an die Stelle eines Rezitativs, das im ursprünglichen Werk an dieser Stelle stand, folgt ein neu komponierter Choral. Die Strophe spricht vom Wort Gottes: Der Mensch kann es «in Herzen und Glauben fassen». Wer treu daran festhält, den wird Gott auch im Sterben nicht verlassen.

6. Chor

Guter Hirte, Trost der Deinen,
laß uns nur dein heilig Wort!
Laß dein gnädig Antlitz scheinen,
bleibe unser Gott und Hort,
der durch allmachtsvolle Hände
unsern Gang zum Leben wende!

6. Chor
Es folgt ein weiterer Chor zum Schluss. Er nimmt nochmals ein Jesuswort aus dem Evangelium auf: «Ich gebe ihnen ewiges Leben, und niemand wird sie aus meiner Hand reissen», das Orchester verleiht dem «Gang zum Leben» einen tänzerischen Schwung in Form einer Gavotte.

Reflexion

Alois M. Haas

«Einer Welt zum Trotz, die sich über ihre Entstehung keine Gedanken mehr macht»

Wie das Göttliche Gestalt annimmt – Gedanken zur Pfingstkantate «Erwünschtes Freudenlicht».

Für das integrale Anhören Bachscher Kantaten, in denen musikalische Gestaltung, religiöse Inhalte, biblisch imprägnierte Textdeklamation und Wortauszeichnung gleichzeitig wahrgenommen werden sollten, ist heutzutage wenig geistige Disposition vorgegeben.

I
Bachs Ruhmesgeschichte bezeugt es immer wieder – selbst «aufgeklärte» Zeitgenossen neo-paganer Prägung erliegen der Bachschen Musik, indem sie Bachs christlichen Wahlspruch: «Deo soli gloria» mit komplexen Deutungskonstruktionen «aufzuklären» versuchen. Der Philosoph Hans Blumenberg hat es uns am Beispiel der Matthäuspassion prätentiös und überzeugend vorgemacht. Allerdings wäre es zu einfach, Bachs einseitige Faszination bei einer Klientele verurteilen zu wollen, welche mit der von Max Weber entlehnten Entschuldigung – dass man (als musikalisch sensibler, aber «religiös unmusikalischer» Mensch) eigentlich nur von seiner Musik, weniger aber von seiner lutherisch infizierten Spiritualität berührt sei – immerhin ein hermeneutisches Problem offenlegt, das unsere säkulare Kultur insgesamt hinsichtlich klassisch religiöser Themen in der ästhetischen Erfahrung stellt: nämlich das hier nicht lösbare Problem, warum und wie religiöse Erfahrung heute in ästhetische aufgehoben zu werden droht oder umgekehrt, wie die heute noch mögliche ästhetische Erfahrung auf die religiöse immer wieder zurückweist. Auf jeden Fall ist in der Deutung von Religion und religiösen Dokumenten längst «ein hermeneutischer Pluralismus» wirksam, der zwar die sich immer mehr verbreitende Ignoranz religiöser Inhalte religiöser Musik verbieten, aber kritische Deutungspositionen «sine ira et studio» zulassen muss.
Bachs Ruhmesgeschichte zeigt neben den religiös unmusikalischen und ihren Deutungsproblemen noch ein weiteres Problem: Schon zu seinen Lebzeiten wurde Bach zwar als virtuoser Organist, nicht aber wegen seiner Kompositionskunst anerkannt, die als altmodisch und überholt angesehen wurde – ein Sohn nannte ihn gar «eine alte Perücke!» –, obwohl er gerade als Komponist (hinsichtlich Harmonik, Kontrapunktik usw.) seiner Zeit offenbar weit voraus war. Faktisch wird man aus beiden Komponenten der Bachdeutung entnehmen, dass er zu jedem Zeitpunkt allen Verehrern und Kritikern, aber auch den musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit je schon überlegen war. und so wird es bleiben! Man mag Bach einen «fünften Evangelisten» nennen, wie es der Religionshistoriker und lutherische Erzbischof Nathan Söderblom (1866–1931) getan hat, man mag mit Nietzsche seine Botschaft «mit dem unermesslichen Gefühl der Bewunderung (…) wie ein Evangelium» angehört haben (1870) – er bleibt bis heute unvergleichbar.
Der geistige Raum aber, aus dem heraus Bach seine Musik gestaltete, war die lutherische Frömmigkeit und Liturgie, die zweifellos in der Bibel ihr ausgesprochenes Zentrum hatte. Aus dem hier gebotenen Verständnis von Stimme und Wort heraus gestaltete er seine Musik mit der ihr eigenen Plastik und Modulation von Wortakzentuierungen, wie es die Bibel liebt. Wer ihn und seine Musik verstehen will, müsste der Tatsache Rechnung tragen, dass sie immer nur im Spannungsbereich von «Singen und Sagen», Musik (Gesang) und Wort in ihrer eigentlichen Form erlebbar ist. Der Forderung, Einblick in diesen Konnex zu gewähren, kann ich als musiktheoretischer Laie – leider – nicht entsprechen. So halte ich mich denn weithin an die Textaussage der Kantate von Pfingstdienstag und höre deren musikalische Umformung schweigend an – nach Albert Einsteins Ratschlag für Bachhörer: «Maul halten!», aber auch in Realisierung einer Festlegung, die – wie geschaffen für Bachsche Musik! – der folgenden Definition von Musik durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1746–1816) zugrunde liegt:

«Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.» (Musik ist eine dunkle oder verborgene arithmetische Übung des Geistes, der nicht weiss, dass er zählt oder: eines unbewusst zählenden Geistes.)

Mit andern Worten: Ich vertraue auf das unbewusste meines die Musik begleitenden Geistes und achte voll auf das Wort, das sich ihr anschmiegt, also auch zu Musik wird.

II
Für Johann Sebastian Bach lagen Weltliches und Geistliches – wie noch in der frühen Neuzeit und im Mittelalter – nahe beieinander. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass Bach für seine Kantate BWV 184 eine weltliche Vorlage aus der Köthener Zeit benutzte, die er als Textvorlage dieser Kantate übernahm. Er soll die Vorlage, die nicht erhalten ist, in seinem ersten Amtsjahr in Leipzig zu Pfingsten 1731 umgearbeitet haben. Der Dichter des zugrunde liegenden Textes ist unbekannt; er folgt den Gedanken des Evangeliums (Johannes 10, 1–11) und der Epistel (Apostelgeschichte 8, 14–17). Gerade dies war Bachs Absicht im Hinblick auf den Pfingstdienstag, der zu feiern anstand.
Unserer Kantate zum dritten Pfingsttag gehen zwei andere mit vergleichbarer Thematik voraus: das Pfingstfest selber (vier Variationen: BWV 172; BWV 59; BWV 74; BWV 34) mit dem intensiven Thema der Inhabitatio (Einwohnung) im Bild einer Entzündung des menschlichen Inneren durch Feuer(zungen), dann der zweite Pfingsttag (Pfingstmontag) mit dem Thema der Erhöhung des Menschen durch die Erlösungstat Jesu (BWV 173; BWV 68; BWV 174) und schliesslich der dritte Pfingsttag (Pfingstdienstag) mit der durch all das bezeugten Freude über die zwischen Hirte und Herde hergestellte innige Beziehung (BWV 184 und BWV 175).
Die Kantate BWV 184 «Erwünschtes Freudenlicht» beginnt mit einem umfangreichen Rezitativ und trägt schon im Titel einen fernen Anklang an die alte Pfingstliturgie: «Accipite jucunditatem gloriae vestrae» (Introitus). Angespielt wird auf die Feuerzungen, die an Pfingsten nach Apostelgeschichte 2, 1–11 sich auf die verängstigten Jünger, die sich versammelt hatten, niederliessen und sie mit dem Heiligen Geist erfüllten, sodass sie in allen Sprachen der Welt zu predigen vermochten. Das Freudenlicht ist «erwünscht», weil es die Jünger aus einer ängstlichen Befangenheit lichtvoll erlöst und sie trostvoll in die Befähigung zur Mission entlässt. Das Ereignishafte, das sich beim Geistempfang als Brausen und Sturm bemerkbar gemacht hatte, fehlt hier und ist im Ausdruck «Freudenlicht» zum eher stillen Leuchten gedämpft, das nun den Eintritt in den neuen Bund ermöglicht.
Ganz stark ist die Bildlichkeit, die nun angewendet wird, wenn es darum geht, den Erlöser selber zu benennen: Jesus, unser «Hirt», wir seine «Herde». Dieses im Christentum «stehende» Bild, das von Nietzsche als ideologisches Vehikel einer Sklavenhalterkirche entlarvt worden ist, steht hier genau für dessen Gegenteil – für die innigste Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Der Auferstandene ist der Hirt und als solcher das «Freudenlicht», wir, seine Schafe, als aus dem Irrgang in den «Todes Tälern» Errettete. Das im Johannesevangelium des Tages reich ausgeformte Bild vom Hirt und seiner Herde umfasst auch das räumliche Umfeld von Weide, Stall und Türeingang. Der Hirt ist die archaische, vom Evangelisten Johannes privilegierte Sinnfindungsformel für eine christliche Existenz (Johannes 10). Neben der Relevanz von Herrschaft und Schutzbefohlenheit ist hier die Bildebene vor allem durch die naturhafte, ländlich-innige und friedliche Atmosphäre personaler Zweisamkeit von Hirt und (Schaf-)Herde gekennzeichnet, weit mehr als durch die herrschaftliche Führerdominanz des Hirten über eine (anonyme) Herde. Im Hintergrund sind immer die zahlreichen Bibelstellen mitzudenken, in denen von der Schutzfunktion des Hirten für seine Herde die Rede ist: «Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser» (Psalm 23, 1); «Ein Hirte, mein Knecht David, wird das Volk weiden (…)» (Ezechiel 34, 23); die Evangeliengeschichte vom verlorenen Schaf. Kommt dazu, dass die Figur des guten Hirten seine eigentliche, menschliche Bildentwürfe übersteigende Funktion erst bekommt, wenn seine Archaik im Rahmen der Geschichte der vorchristlichen Kulturen und des frühen Christentums bedacht wird. Der Gute Hirte mit dem Lamm auf den Schultern gehört zu den frühesten Darstellungen Jesu (in den Katakomben; das Mosaik über dem Eingang des Mausoleums der Galla Placidia in Ravenna usw.); es muss in der Verfolgungszeit des dritten Jahrhunderts n. Chr. für die Christen in der emotionalen Intensität seines Identifikationsangebots nahezu apotropäischen Charakter gegenüber den Verfolgern besessen haben! Diese Stimmung möglicher Sicherheit in der irdischen Pilgerschaft soll aufgerufen werden durch den Hinweis auf die Speisung der Seelen, auf «unsern Gang durch Wort und Geist», was nichts anderes ist als die Lesung der Heiligen Schrift, deren Wort, in seiner geistigen Dimension erkannt, uns auf den rechten Weg führt – eine Anspielung auf den Menschen am Scheideweg («homo in bivio»), der zwischen der Orientierung am Guten oder Schlechten sich zu entscheiden hat. Die Liebe des Hirten zu seinen Erwählten gewährt Trost und Beistand, markiert aber auch dessen Willen, den Erwählten bis in den Tod die Treue zu halten – eine Anspielung auf die Passion Jesu. Der menschliche Tod ist darin aufgehoben und besiegt, sodass einsichtig wird, dass letztlich den das Leben durcheilenden Christen die «Verklärung» bevorsteht, wie sie – als «Taborlicht» – im Leben Jesu augenfällig wurde (Markus 9, 2–9; Matthäus 17, 1–8; Lukas 9, 28–36).

III
Das Rezitativ hat unter dem Leitmotiv des Guten Hirten einen Abriss der Heilsgeschichte gegeben – vom Anbrechen des neuen Bundes bis zur individuellen Eschatologie im Sterben des Einzelnen. Grund genug, jetzt in der Arie in Freude auszubrechen – wie es ohnehin deren Funktion ist, «allemal einen Affect, oder ein Morale oder sonst etwas besonderes in sich (zu) halten»:

«Gesegnete Christen, glückselige Herde,
kommt, stellt euch bei Jesu mit Dankbarkeit ein!
Verachtet das Locken der schmeichelnden Erde,
dass euer Vergnügen vollkommen sein kann.» 

Wenn der asketische Imperativ, sich von der attraktiven Erde oder Welt zu trennen, sich hier mit der Preisung der Auserwählten verbindet, so ist das Resultat eine Neudefinition von vollkommenem Vergnügen, die nicht unbedingt unserer Semantik von Vergnügen entspricht. Gerade deswegen ist hier der epigrammatische Gestus der christlichen Weltdistanzierung akzentuiert als ein Zeichen des Widerspruchs, was uns durchaus zu denken geben darf.
Das folgende grosse Rezitativ offeriert das Rahmenthema der Freude in ihrer ganzen Bedeutungsbreite, wie sie für Bachs Spiritualität typisch gewesen sein dürfte. Die für die Freude signifikanten Momente bestehen in der Auserwähltheit der Christen, die, in Jesu Herz begründet, auch die Sünder nicht ausschliesst, weil «der Held aus Juda» – wie der alttestamentliche David – die Sünden zerschlagen und uns von allen Feinden befreit hat. Töne aus den Kampfpsalmen erklingen im agonalen Geist einer göttlichen Schutzaktion zugunsten der Herde, der Kreuzestod wird als Tat eines Helden gefeiert, die Raum für die «edle Weide» hier und Hoffnung auf die Himmelsfreude dort eröffnet.
Wieder ist Zeit für eine Arie, in der die Jenseitsperspektive geklärt und unter Aufnahme antiker Utopien hoffnungsvoll entworfen wird:

«Glück und Segen sind bereit,
die geweihte Schar zu krönen.
Jesus bringt die güldne Zeit,
welche sich zu ihm gewöhnen.»

Wenn es Jesus ist, der «die güldne Zeit» heraufführt, dann erfüllen sich Menschheitsträume in ihm. Denn der Topos der Aetas aurea ist ebenso alt wie das Geschichtsbewusstsein der abendländischen Menschheit reicht und im Vorstellungsbereich aller Mythen, Märchen und Sagen im gesamten indogermanischen Sprachgebiet (indisch, semitisch, germanisch) gegenwärtig. Er besagt: In einer unausdenkbar weit zurückliegenden Urzeit lebte der Mensch in einem unaussprechlich innigen Verband mit der Natur in Unschuld und Einheit allen Lebens. Daraus herausgefallen, sehnt er sich zurück in diesen paradiesischen Ursprung, von dem Hesiod, Platon, Vergil und unendlich viele andere so genaue Vorstellungen (vom Tier- und Menschenfrieden und der Einheit mit der Natur) zu berichten wussten. Der urtümliche Traum eines solchen Friedensreiches in nicht errechenbarer Urzeit gipfelt in der Phantasie eines in Südgriechenland beheimateten Arkadien, bewohnt von einem rauen Hirtenvolk, das immer wieder Verherrlichungen in bukolischer Dichtung bis weit in die Neuzeit hinein erfahren durfte. Das Hirtenbild – das ist für Bach die Pointe! – bindet die ganze antike Vorbildlichkeit des Lebens an das Leben Jesu, der selber der Gute, der Beste Hirte aller Zeiten gewesen ist. Bach lebt in solchen typologischen Bezügen, in denen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ineinander verwoben werden.
Der jetzt einsetzende Choral ist ein Gebet um einen guten Tod und die Seligkeit im Jenseits. Das Ich, das spricht, steht für alle Menschen. So verbinden sich Lehre und individueller Glaube zu dem Amalgam, das christliches Leben sein sollte – was nicht untypisch für diese musikalische Form ist.
Der Texttyp des Chors, der den Schluss der Kantate bildet, könnte dem Texttyp des Schluss- und Bittgebets angehören, wie wir ihn etwa in der Barockpredigt finden:

«Guter Hirte, Trost der Deinen,
Lass uns nur dein heilig Wort!
Lass dein gnädig Antlitz scheinen,
bleibe unser Gott und Hort,
der durch allmachtsvolle Hände
unsern Gang zum Leben wende!»

Alle Affekte – Trost und Schutz –, alle Personen der Kantate – der gute Hirte Jesus, der Gott-Mensch, wir, die Menschen –, alle Eckdaten des Menschenlebens – Tod und Leben –, alle Lehrgehalte «dein heilig Wort», die Bibel – werden nochmals inständig beschworen als Momente eines gelingenden Lebens in lutherischem Geist.

IV
Zum Schluss soll ein vielleicht provokativer Ausblick stehen, dem ich nicht mehr als die Evidenz einer eindringlichen Vermutung zugestehe. Der grosse Theologe Hans Urs von Balthasar († 1989) hat einst im Blick auf die grossen Kunstwerke der abendländischen Menschheit die provokante Ansicht geäussert, dass alle «grossen Werke ursprünglich (…) in der Sphäre des Gebetes und der Kontemplation (…) (auftauchten). Wahrhaft lebendig sind nur die Werke der Beter geblieben; Schütz, Bach, Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert haben gebetet. Giotto und Angelico, Donatello und Michelangelo, Corneille und Racine und Pascal und Newton haben gebetet. Die Windbeutel, die nicht gebetet haben und die heute als Kulturträger gelten, zerflattern immer schon nach wenigen Jahren und werden durch andere Windbeutel ersetzt. Und die Beter werden vom nichtbetenden Pöbel zerrissen wie Orpheus von den Mänaden, aber noch im Zerrissenwerden streuen sie ihre Klänge aus, und wenn sie durch Missbrauch allmählich in der Welt wirkungslos werden, sie sind an heiler Stelle geborgen und können jederzeit dort von den Betenden wiedergefunden werden.»

Zwar haben die meisten Vertreter der ästhetischen Elite empört aufgeschrien, als George Steiner 1990 in seinem Essay «Von realer Gegenwart» die Erkenntnis von Sir Thomas Browne, dass im Menschen etwas ist, das ohne uns sein kann, «und wir können nicht sagen, wie es in uns gelangt ist», in enge Verbindung brachte mit den Intentionen von Dichtern und Musikern:

«Der Künstler und der Dichter und der Musiker übersetzen diese Erkenntnis in lebendige und gelebte Form. Sie erheben das Postulat auf Metaphysik, wobei sich das Metaphysische auch auf das Religiöse ausdehnt. Die ‹Verifikationstranszendenz›, die das zur Folge hat, ist eine Disziplin des Nichtwissens. Sei es in spezifisch religiösem, für uns jüdisch-christlichem Sinn oder in der allgemeineren platonisch-mythologischen Gestalt, die Ästhetik ist formgewordene Epiphanie. Es ‹schimmert etwas durch›.»

Bei Bach schimmert etwas nicht nur durch, es erklingt immer wieder überraschend in Wort und Weise, ist also ein dem Nichtwissen widerständiges Wissen im Glauben um die Epiphanie des Göttlichen, wie es vielleicht nur ganz selten denkbar ist in einer Welt, welche die Emergenz ihrer Entstehung nicht mehr gross hinterfragen möchte.

 

Literatur
• Hans Urs von Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen. Erweiterte Neuausgabe aus dem Nachlass. Hg. und eingeleitet von Alois M. Haas, Freiburg 2009
• Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren, München 1998
• Werner Beierwaltes, Musica exercitium metaphysices occultum? Zur philosophischen Frage nach der Musik bei Arthur Schopenhauer, in: Philosophischer Eros im Wandel der Zeit. Festgabe für Manfred Schröter zum 85. Geburtstag, München 1965
• Klaus Berger, Das Evangelium nach Johannes und die Jesustradition, in: Thomas Söding (Hg.), Johannesevangelium. Mitte oder Rand des Kanons, Freiburg i. Br. 2003
• Eugen Biser, Das Licht des Lammes. Hinblicke auf den Erhöhten, München 1958
• Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Metzler, Stuttgart 2008
• Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988
• Gilles Cantagrel, Les Cantates de J.-S. Bach. Textes, traduction, commentaires, Paris 2010
• Alfred Dürr, Johann Sebastian Bach. Die Kantaten, Kassel u. a. 1995
• Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Aus den Quellen der Humanität, Frankfurt a. M. 1989
• Josef Engemann, Hirt, RAC 15, 1991
• Alois M. Haas, Wind des Absoluten. Mystische Weisheit der Postmoderne?, Freiburg i. Br. 2010
• Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970
• Karsten Lehmkühler, Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen, Göttingen 2004
• Rochus Leonhardt, Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische Ansatz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie, Tübingen 2003
• Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Tübingen 1994
• Barbara Naumann, Musikalisches IdeenInstrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990
• Erdmann Neumeister, Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music, Weissenfels 1700, Vorrede; zitiert nach Daniel R. Melamed, Chor und Choralsätze, in: Christoph Wolff, Die Welt der Bach Kantaten, 3 Bände, Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 1996/2006
• Rolf Schweizer, Bach und (k)ein Ende? Kirchenmusik zwischen Kontemplation und spassigem «Event», in: Deutsches Pfarrblatt 100, 2000
• Julius Schwietering, Singen und Sagen (1908), in: ders., Philologische Schriften. Hg. von Friedrich Ohly und Max Wehrli, München 1969
• Nathan Söderblom, Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionswissenschaft. Nachgelassene Gifford-Vorlesungen, München 1942
• Manfred Spitzer, Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart/New York 2002
• George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauss, Hanser, München/ Wien 1990
• Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009
• Frédérick Tristan, Les premières images chrétiennes. Du symbole à l’icône: IIe-VIe siècles, Paris 1996
• Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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