Nun danket alle Gott

BWV 192 // zum Reformationstag

für Sopran und Bass, Vokalensemble, Streicher, Traversflöte I+II, Oboe I+II und Basso continuo

Die wahrscheinlich 1730 ohne erhaltene Zweckbestimmung komponierte Kantate «Nun danket alle Gott» ist ein Nachzügler zu Bachs Choraljahrgang von 1724/25. Unter Verzicht auf gedichtete Texte auf das bekannte Kirchenlied von Martin Rinckardt (1636) konzentriert, entstand das Werk möglicherweise für die Schlosskapelle des Herzogs von Sachsen-Weissenfels, dem Bach seit 1729 nebenher als Titularkapellmeister diente. Die beiden umrahmenden Tutti-Sätze heben als prachtvoll-bewegliche Festchöre den Lob- und Dankcharakter hervor, der durch die Traversflöten und Oboen eine mehr lichte als triumphierende Färbung erhält. Da auch das dazwischen eingefügte Sopran-Bass-Duett einen bei aller Entschlossenheit zart leuchtenden Grundzug ausbildet, ist neben dem Trinitatis- oder Kirchweihfest sowie dem Reformationstag auch eine Trauung als Entstehungsanlass diskutiert worden. Weil der Tenorpart im originalen Stimmenmaterial fehlt, sind Aufführungen der ausserordentlich reizvollen Kantate stets auf Rekonstruktionen angewiesen.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 192

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Miriam Feuersinger

Bass
Manuel Walser

Chor

Sopran
Jessica Jans, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Anna Walker, Mirjam Wernli

Alt
Antonia Frey, Tobias Knaus, Lea Pfister-Scherer, Alexandra Rawohl, Lisa Weiss

Tenor
Zacharie Fogal, Manuel Gerber, Raphael Höhn, Sören Richter

Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Retus Pfister, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Aliza Vicente, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Claire Foltzer, Matthias Jäggi

Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Tomoko Mukoyama Herzig, Rebekka Brunner

Oboe
Katharina Arfken, Clara Espinosa Encinas

Fagott
Susann Landert

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Thomas Leininger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter, Thomas Leininger

Reflexion

Referent
Abt Urban Federer

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.04.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Komponist Bourée anglaise & Gigue (Werkeinführung)
Thomas Leininger

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
4. Juni 1730 – Schlosskirche Sangerhausen

Textdichter
Martin Rinckart

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Ebenfalls einen höfischen Bezug weist die Kantate BWV 192 auf, die als Teil einer Gruppe von vier Choralkantaten per omnes versus, also mit reinem Liedtext ohne modernisierende Umdichtungen, um 1730 entstand und so zu Bachs späteren Kirchenkompositionen gehört. Die These einer Auftragskomposition für den Weissenfelser Hof, dem Bach bereits lange verbunden war und von dem er 1729 einen Kapellmeistertitel erhalten hatte, wird durch den eleganten Duktus der Kantate sowie ihre tanzinspirierten Formen nicht gerade entkräftet. Ein äusserst beschwingter und durch die vier Holzbläser betont luftiger Ton zieht sich bereits durch das eröffnende Orchestervorspiel; die Singstimmen passen sich dieser freudigen Beweglichkeit trotz der motettischen Gravität ihres ersten Einsatzes an. Dass Bach bei grundsätzlicher Zuweisung des Cantus firmus an den Sopran diesen ebenso in die konzertant aufgebrochene Chorarie samt ihren Tutti-Effekten einbezieht, wie er die üblichen Vorimitationen der Unterstimmen in einen souverän durchlaufenden Teilchor dieses inspirierten Concerto grosso transformiert, lässt unseren Ensemblesatz als raffinierte Weiterentwicklung des Choralkantaten- Typus erscheinen, mit der Bach sicher auch auf gewandelte Hörerwartungen reagierte. Aufgrund des Verlustes der originalen Tenorstimme verwendet diese Einspielung anstelle der auf Alfred Dürr zurückgehenden Ergänzung der Neuen Bach-Ausgabe eine neue Rekonstruktion von Detlev Schulten. 

Ebenso anspringend beginnt das folgende Sopran-Bass-Duett, das zunächst kaum an eine Choralbearbeitung denken lässt. Dass Bach den kecken Kurzfiguren des Orchesters weit ausschwingende Linien der Gesangssolisten gegenüberstellt, führt den Satz zu einer auch für seine Verhältnisse besonders gelungenen Mischung von rhythmischer Prägnanz und hymnischer Kantabilität. Dass man die strukturell schlüssige relative Kürze des Satzes hörend bedauert, ist ein bei Bach ebenfalls nicht selbstverständlicher Effekt.

Der Beginn des Schlusschores lässt mit seinem gigueartigen Duktus an das Finale einer Orchestersuite denken; da die Originalpartitur verschollen ist und nur die davon gezogenen Stimmen überdauert haben, lässt sich die Abkunft des Satzes aus einem tatsächlichen Instrumentalwerk auch keineswegs ausschliessen. Während der Sopran souverän seine dankenden Kreise zieht, scheinen die übrigen Singstimmen förmlich zu tanzen – dass hohes Gotteslob auch eine ansteckend fröhliche Seite haben kann, belegt diese Kantate ebenso sehr, wie sie zeigt, dass Bachs bekannter Respekt vor dem lutherischen Choral ihm dennoch kühne und kreative Zugänge erlaubte.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Dankbarkeit gehört zur Matrix des christlichen Glaubens: Abendmahl auf Griechisch heisst Eucharistía (Danksagung), für Luther ist sie «das Herz des Evangeliums», die Ethik im reformierten Heidelberger Katechismus ist «Von der Dankbarkeit» überschrieben. Die wahrscheinlich 1730 ohne überlieferte Zweckbestimmung komponierte Kantate «Nun danket alle Gott» steht ganz im Zeichen dieses Gedankens und ist zugleich eine Fortschreibung von Bachs Choraljahrgang von 1724/25. Ohne frei gedichtete Texte auf das Kirchenlied von Martin Rinckart (1636) konzentriert, entstand das Werk möglicherweise für die Hofkapelle des Herzogs von Sachsen-Weissenfels, dem Bach seit 1729 nebenher als Titularkapellmeister diente. Immerhin weiss man, dass «Nun danket alle Gott» bei Trauungen, beim Neujahrstag und beim Reformationsfest gesungen wurde. Insofern ist eine Aufführung am Reformationstag 1730 nicht unwahrscheinlich; die Darbietung einer textgleichen Komposition in der Weissenfelser Nebenresidenz Sangerhausen am Trinitatisfest dieses Jahres verweist auf eine weitere mögliche Zweckbindung dieser vielseitig einsetzbaren Kirchenmusik. Weil der Tenorpart im originalen Stimmenmaterial fehlt und keine Partitur erhalten ist, sind Aufführungen der Kantate stets auf Rekonstruktionen angewiesen, die sich allerdings auf gewisse strukturelle und kontrapunktische Notwendigkeiten stützen können. Während in der Praxis lange Zeit die auch in die Neue Bach-Ausgabe eingegangene Ergänzung Alfred Dürrs herangezogen wurde, haben wir uns für eine an der Bach’schen Vokalstimmführung orientierte neuere Annäherung Detlev Schultens entschieden.

1. Chor
Versus 1

Nun danket alle Gott
mit Herzen, Mund und Händen, der große Dinge tut
an uns und allen Enden,
der uns von Mutterleib
und Kindesbeinen an
unzählig viel zugut
und noch jetzund getan.

1. Chor
Versus 1

Das bekannte Lied des Kirchenmusikers und lutherischen Pfarrers Martin Rinckart (1586– 1649) entstand um 1630 herum. Es handelt sich bei der ersten (und zweiten) Strophe um eine singbar gemachte Nachdichtung (Parodie) des Segensgebetes aus dem apokryphen Buch Jesus Sirach (Kap. 50, 22), zum Teil wörtlich aus der Lutherübersetzung übernommen. Schön ist die ergänzende Verdeutlichung des Dankes «mit Herzen, Mund und Händen», womit die innere Haltung, die bewusst machende Versprachlichung und die Umsetzung im Leben angesprochen sind, alles dies in einem weiten Zeithorizont («von Mutterleib und Kindesbeinen an» bis heute). Bach mobilisiert für diesen freudigen Danktext eine federnde Orchestermusik, die dank der Oboen und Traversflöten einen mehr lichten als triumphierenden Charakter erhält. Seine Choralbehandlung ist gegenüber den Modellen von 1724/25 nochmals freier und reichhaltiger, was sich etwa an der Einfassung des eigentlichen Zeilendurchlaufs mit bewegten Unterstimmen und gedehntem Sopran-Cantus-firmus durch einen gestischen Tuttiblock zu Beginn sowie am Ende zeigt. Zudem ist die kontrapunktische Führung der Chorstimmen von bemerkenswerter Stringenz und Souveränität.

2. Arie — Sopran, Bass
Versus 2

Der ewig reiche Gott
woll uns bei unserm Leben
ein immer fröhlich Herz
und edlen Frieden geben
und uns in seiner Gnad
erhalten fort und fort
und uns aus aller Not
erlösen hier und dort.

2. Arie — Sopran, Bass
Versus 2

Die zweite Strophe – auch sie teilweise in wörtlicher Anlehnung an den Luthertext aus dem Buch Jesus Sirach (Kap. 50, 23–24) – hat zur Vermutung geführt, dass «und edlen Frieden geben» eine Datierung des Liedes aufs Ende des Dreissigjährigen Krieges nahelege, Quellenfunde widerlegen das allerdings. Wenn schon, so ist eine Publikation zum 100-Jahr-Jubiläum der «Confessio Augustana» wahrscheinlich, die vom 23. bis 27. Juni 1630 gefeiert wurde. Da der Erstdruck des Liedes 1636 erfolgte, wäre auch eine Beziehung auf den in Rinckarts sächsischer Heimat hoffnungsvoll begrüssten Frieden von Prag 1635 denkbar. Das Sopran-Bass-Duett kombiniert eine leichtfüssige und nahezu tänzerisch-galante Orchestermotivik einschliesslich der auffällig hervorgehobenen Oberstimme mit einem kernigen Auftritt der Singstimmen, die in ihrem inspirierten Detailreichtum an Bachs Weimarer Kantaten erinnern.

3. Chor
Versus 3

Lob, Ehr und Preis sei Gott,
dem Vater und dem Sohne
und dem, der beiden gleich
im hohen Himmelsthrone,
dem dreieinigen Gott,
als der ursprünglich war
und ist und bleiben wird

3. Chor
Versus 3

Rinckarts Lied und die Kantate schliessen mit einer Doxologie, einem Lobpreis auf den dreieinigen Gott Vater, Sohn und Geist, letzterer wird umschrieben als der, «der beiden gleich» ist, sowie einer Formel, die alle drei Zeitdimensionen und die Ewigkeit umfasst. Somit rundet sich dieser schlichte, eindrückliche Liedund Kantatentext zur Trias Dank, Bitte, Lobpreis. Bach wählt für den Beschluss der Kantate den beschwingten 12⁄8-Rhythmus einer Giga, in den sich die emsig tänzelnden Singstimmen organisch einfügen. Im Wechsel von Vokalensemble und Orchester ergeben sich reizvolle konzertante Klangwechsel.

Reflexion

Abt Urban Federer

Kantate BWV 192 «Nun danket alle Gott» – eine Herzensbildung

Verehrte Damen und Herren, ich muss gestehen: Als ich eingeladen wurde, zur Kantate 192 von Johann Sebastian Bach meine Gedanken vorzutragen, war da eine Enttäuschung: 192? Die kenne ich gar nicht. Und wenn nach einem ersten Blick ins Internet weniger klar ist als nach der Lektüre des heutigen Programms, wofür diese Kantate eigentlich geschrieben wurde, und ich zudem lese, diese Kantate sei nicht vollständig überliefert, vermehrt das mein Fragezeichen: Was soll ich zu dieser Kantate sagen? Meine Antwort lautet ganz nüchtern: nichts über Musik und Text hinaus! Diese Kantate wirft mich – und damit auch Sie – zurück auf das, was vorliegt. In der St. Galler Kathedrale würde ich in der Not das Umfeld dieser barocken Musik abstecken, die schon seit 25 Jahren geschrieben war, als der Dom von St. Gallen gebaut wurde. In dieser Olma-Halle bleibt mir in aller Nüchternheit eine der kürzesten Kantaten Bachs.

So suche ich für meine Gedanken den Einstieg über meine Erfahrung. Und hier tun sich für mich zwei Probleme auf: Zwar vertont die Choralkantate in drei Sätzen die drei Strophen des berühmten Kirchenliedes «Nun danket alle Gott». Aber gerade dieses Lied wurde für mich – zusammen mit anderen Chorälen – schon zu oft «totgesungen». Was verstehe ich unter diesem nicht gerade schönen Ausdruck? Vergessen Sie das frische Musizieren von vorhin. Stellen Sie sich an einem Sonntagmorgen einen Gottesdienst vor, der von Menschen besucht wird, die sich noch nicht ganz aus dem Zerknittertsein des Schlafes entfalten konnten und deren 20. Geburtstag schon ein paar Jährchen zurückliegt. Nun hebt die Orgel zum Choral an: Bereits der Einsatz der Stimmen klebt, das Lied kommt schon von Beginn weg nicht vom Fleck und der erste Anstieg der Melodie liegt leicht unter dem Orgelton. In einem solchen Moment habe ich nur noch einen Gedanken: «Nicht schon wieder dieses Lied! Wie viele Strophen hat es? Nur drei? Okay, das geht…» So kann kein Gotteslob gesungen werden, das Menschen erhebt und uns wirklich Freude macht. Bei einem solchen Singen verstehe ich etwa jüngere Menschen, die diese Art von Liedern langweilig finden und sich in der Kirche bessere Musik wünschen. Und der Inhalt hilft dabei auch nicht, um mein zweites Problem zu benennen. Kann ich heute, mit Blick auf unsere Welt, einfach anheben mit den Worten «Nun danket alle Gott», von dem es dann auch noch heisst, er hätte uns vom Mutterleib bis heute «unzählig viel zu gut […] getan»? Wie ernst ist es uns mit diesem Dank anlässlich der Flüchtlingsströme, der zunehmenden Armut auch in unseren Breitengraden, aufgrund der Pandemie, nie endender Kriege und der drohenden Umweltfragen?

Bach wäre nicht Bach, käme mir in meinen Fragen nicht zuerst die Musik zu Hilfe. Der erste Choralsatz hebt in einem beschwingten Dreivierteltakt an. Musik und Worte wirken erhaben und verspielt zugleich, bis die eigentliche Choralmelodie einsetzt. Der zweite Satz ist tänzerisch und der dritte Satz ist als abschliessendes Lob Gottes ebenfalls tanzartig gehalten. Totgesungen werden kann dieser Choral also nur schwerlich. Eher müssten wir im ersten Satz aufstehen und den Choral ab der Arie leicht tanzen. Diese Kantate zielt darum auf unsere Haltung, wenn nicht äusserlich, dann sicher innerlich. Dieser gesungene Dank will uns alle erheben, den Menschen aufrichten! Und in der Beziehung zwischen Musik und Wort liefert mir Bach dann auch Antworten für mein zweites Problem: Wie ist mit diesem allzu selbstverständlichen Dank umzugehen? Wenn auch im Chor der Dank an Gott feierlich einsetzt, beginnt noch vor dem Einsatz des Cantus firmus ein schon fast scherzhaftes Spiel mit den Worten «mit Herzen, Mund und Händen». Es ist, als würde die Kantate an dieser Stelle einhämmern wollen, wir sollten als ganze Menschen dastehen und danken. Das erinnert mich an meine Ordensregel, in der der hl. Benedikt im 6. Jahrhundert schreibt: «Stehen wir beim Singen der Psalmen so, dass unser Denken und unser Herz im Einklang mit unserer Stimme sind» (RB 19, 7). Wer betet und betend singt, tut dies nicht in Entfremdung zur Welt, zum Körper, zu unseren Gedanken. Wer singend dankt, öffnet das eigene Herz und geht eine Beziehung ein. Darum lässt der hl. Benedikt uns Mönche und Nonnen jeden Morgen als Erstes mit Psalm 95 singen: «Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!» (RB pr 10).

Wer ihr oder sein Herz öffnet für Gott, so eine erste Aussage dieser Kantate, kann danken, ohne die Probleme der Welt auszuklammern. Dass Bach in jedem Fall den Dank wünscht, zeigt er am Ende dieses Satzes, wo der Chor nochmals zu danken beginnt, obwohl die Strophe schon fertig gesungen ist, um dann überraschend schnell im Schlussklang zu landen. Offensichtlich kann nicht nur der fertige Mensch danken. Im Gegenteil: Wer schon alles hat, tut sich schwer, dankbar zu sein. Sind wir dankbare Menschen, wenn wir glücklich sind? Oder sind wir nicht vielmehr glücklich, wenn wir dankbar sein können? Die Beziehung mit Gott, mit dem, der uns übersteigt, ermöglicht uns, dankbar zu sein. Der Mönch soll rufen «Dank sei Gott!», wenn an die Türen des Klosters ein Armer oder ein Gast klopft (vgl. RB 66, 3). Er soll dies im Bewusstsein tun, dass schon das Volk Israel in Ägypten nur zu Gast war und so erfuhr, was es heisst, fremd und ausgegrenzt zu sein. Und der Mönch soll danken, weil im Leiden Christi uns die Türe zu Gott ganz aufgetan wurde. Die Dankbarkeit ist demnach eine christliche Grundhaltung, die Leiden nicht ausklammert, sondern uns gerade in unseren Problemen bestehen lässt. Ansonsten stünde im Mittelpunkt des Christentums nicht das Kreuz.

Ein Spiel zwischen Wort und Musik gibt es auch in der Arie der zweiten Strophe. Im tänzerischen Duett zwischen Sopran und Bass treten die Wörter «Friede» und «fröhlich» miteinander in Dialog, als würden Frieden und ein fröhliches Herz einander hervorbringen. Für die Benediktsregel ist klar, dass etwa der Friede nicht leicht zu haben, sondern anzustreben, ja zu erkämpfen ist. So fordert sie: «Suche Frieden und jage ihm nach!» (RB pr 17, nach Ps 34, 15). Und von der Freude spricht der hl. Benedikt am meisten ausgerechnet im Kapitel über die Fastenzeit. Offenbar vermag die Erwartung zu mehr Freude zu führen. Der Mensch soll die Spannkraft der Seele nicht verlieren. Dazu heisst es in der Regel: «[E]rwarte das heilige Osterfest in der Freude und Sehnsucht des Geistes» (RB 49, 7). Nicht nur der Dank, sondern auch Freude und Friede sind in diesem direkten Vergleich der Kantate mit der Benediktsregel also nicht eine blosse Sache des Gefühls, sondern eine Haltung des Herzens, die uns nicht verbittern, sondern in der Sehnsucht wachsen lässt.

Wenn ich die Kantate 192 hier als eine Herzensbildung verstehe, die uns zu Dank, Friede und Freude führt, finde ich dieses Anliegen auch im biblischen Buch Jesus Sirach wieder, dessen Text Grundlage für das Lied «Nun danket alle Gott» ist. Nach den Worten, die unsere Kantate vertont – der Dank an Gott und der Wunsch, Gott gebe uns die Fröhlichkeit des Herzens und den Frieden –, heisst es bei Jesus Sirach weiter: «Selig, der bei diesen Dingen verweilt und sich dies zu Herzen nimmt und weise wird. Denn wenn er dies tut, hat er zu allem Kraft, weil das Licht des Herrn seine Fährte ist» (Sir 50, 28 f.). Der Text selbst, auf den sich Martin Rinckart stützt, strebt also die Herzensbildung an. Es ist darum nur folgerichtig für mich, dass auch die Musik Bachs unser Herz mit Dankbarkeit, Freude und Friede erfüllen will. Gotteslob soll den Menschen erheben und aufrichten, beim Singen, Spielen und beim Hören!

Ich muss also nicht in perfekter Laune und Situation sein, wenn die ersten Takte des Chorals «Nun danket alle Gott» erklingen. Das eigentliche Fundament des Dankens hat auch diese Herzensbildung Bachs nicht in Gefühlen und optimalen Voraussetzungen, sondern darin, was die Benediktsregel die «Erwartung des Osterfestes in Sehnsucht und Freude» nennt. In der Kantate findet sich dieser Gedanke für mich erneut im Duett zwischen Sopran und Bass. Wie zwischen Fröhlichkeit und Friede kommt es in der Arie auch zum tänzerischen Spiel zwischen den Ausdrücken «aus aller Not» und «erlösen». Im erlösenden Ostern findet unsere Sehnsucht Ziel und Ruhe! Dankbarkeit, Freude und Friede haben dieser Musik gemäss dort eine Grundlage, wo der Mensch sich seinen Nöten und Ängsten stellt und glaubt, dass es ein Ostern gibt, oder wenn Sie es anders mögen: dass es ein Ziel unserer Sehnsucht gibt, gerade auch in all unseren Nöten.

Da aus der Beziehung zum lebendigen Gott heraus in jeder Lage unser Herz mit Dank, Freude, Friede und Hoffnung erfüllt werden kann, sprudelt im letzten Satz der Kantate tänzerisch das beschwingte Gotteslob hervor. Aus dieser Herzensbildung heraus kann auch Jesus Sirach anschliessend an die Worte, die ich vorher zitierte, aus Dankbarkeit ausrufen: «Gepriesen ist der Herr in Ewigkeit! Amen, amen!» (Sir 50, 29). Die Beziehung mit dem lebendigen Gott zielt auch beim hl. Benedikt auf ein freudvolles Herz ab: «Wer aber im klösterlichen Leben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes.» Für Martin Rinckart wird das Herz in der Beziehung zu Gott ebenfalls weit, «wie es im Anfang war / und ist und bleiben wird / so jetzt und immerdar». Und wir? Auch wir können uns in diese Reihe der Herzensbildung durch das Gotteslob einfügen. Für uns ist es die Musik Bachs, die uns erhebt und Freude schenkt. Lassen Sie uns, verehrte Zuhörerin, verehrter Zuhörer, aber auch geschätzte Musizierende, die Kantate darum mit offenem Herzen nochmals spielen, singen und hören, damit es auch für uns heisst: «Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht. Suchet vielmehr den Frieden und jagt ihm nach.»

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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