Ach Gott, vom Himmel sieh darein

BWV 002 // zum 2. Sonntag nach Trinitatis

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Zink, Posaune I–III, Streicher und Basso continuo

Die Kantate «Ach Gott, vom Himmel sieh darein» komponierte Bach 1724 als zweiten Beitrag seines Choraljahrganges. Anders als bei den meist konzertant durchgearbeiteten Schwesterwerken dieses Langzeitprojektes hat Luthers ernstes Klagelied Bach vor allem im Eingangschor zu einer bewusst archaischen Form und Besetzung inspiriert. Als strenge Choralmotette mit dem Alt übertragenem Cantus firmus und ohne eigenständige Instrumentalstimmen angelegt, verleihen die drei mit dem Chor mitlaufenden Posaunen dem auch dank seiner phrygischen Tonalität fremdartigen Satz priesterliche Gravität und Kraft. Kreuz, Not, Verfolgung und Pein werden im Zuge der Kantate als von Gott auferlegte Prüfungen vorgeführt, an deren Bewältigung sich Rechtgläubige und «Rottengeister» kämpfend voneinander scheiden.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 2

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Alex Potter

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Markus Volpert

Chor

Sopran
Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Maria Weber, Mirjam Wernli

Alt
Antonia Frey, Katharina Jud, Dina König, Francisca Näf, Alexandra Rawohl

Tenor
Manuel Gerber, Tiago Oliveira, Christian Rathgeber, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Daniel Pérez, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Marita Seeger, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Olivia Schenkel

Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov

Violone
Shuko Sugama

Oboe
Kerstin Kramp, Philipp Wagner

Zink
Frithjof Smith

Posaune
Simen van Mechelen, Henning Wiegräbe, Joost Swinkels

Fagott
Susann Landert

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Rainer Hank

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
28.06.2019

Aufnahmeort
Speicher AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Publikationen zum Werk im Shop

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
18. Juni 1724, Leipzig

Textdichter
Martin Luther (Sätze 1, 6: nach Psalm 12); Anonym (Sätze: 2–5)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Johann Sebastian Bach begann seinen Choralkantaten- Jahrgang 1724/25 mit einer ambitionierten Eröffnungsgeste – die vier ersten Kantaten des Zyklus wurden von besonders kontrastreichen Chorsätzen eröffnet, wobei Bach die später regelmässig dem Sopran zugewiesene Melodie in absteigender Folge jeweils einer anderen Stimme übertrug.

Für den ernst bittenden Charakter des frühreformatorischen «Ach Gott, vom Himmel sieh darein» wählte Bach im Eingangschor die unüberhörbar «alte» Form einer von Posaunen und Streichern begleiteten Vokalmotette ohne eigenständige Instrumentalstimmen, wobei der verbreiterte Cantus firmus dem Alt zufiel. Zu dieser archaischen Aura passen die modale Tonalität mit ihrem auffällig «phrygischen » Halbtonschritt des Beginns sowie die durch eine eigenständige thematische Führung des Continuo erreichte Fünfstimmigkeit des Satzes. Dass Bach diesen alten Klang mit seiner modern ausgeweiteten Harmonik konfrontiert, verleiht der Komposition einen eigentümlich geschärften Reiz.

Indem Singstimme und Generalbass in kanonischer Engführung die erste Zeile wortwörtlich vortragen, bleibt das Tenorrezitativ trotz der solistischen Deklamationsform zunächst dem Choral verbunden. Danach aber entfaltet der Text ein von schroffen Dissonanzen illustriertes Kaleidoskop barocker Vergänglichkeitsbilder, die jede Abkehr vom Evangelium als von der «törichten Vernunft» irregeleitete menschliche Hybris denunzieren.

«Tilg, o Gott, die Lehren, so dein Wort verkehren » – eine Aufforderung dieser Art hätte Bach durchaus auch in ein donnerndes Basssolo mit herrschaftlicher Trompete verwandeln können. Stattdessen entscheidet er sich in dieser Arie für eine Kammerbesetzung aus Alt, Continuo und Solovioline, in deren lapidaren Bassformeln und schneidenden Figurationen man das beflissene Funktionieren einer gutgeölten Dogmenbürokratie sehen kann, vor deren vom hochliegenden Altus verkörperter scharfer Fragentechnik kein «Ketzer» oder «Rottengeist» bestehen kann. Dass hier bewusst Tradition in die Waagschale geworfen wird, um aktuelle theologische Kontroversen im antiaufklärerischen Sinne des orthodoxen Luthertums zu entscheiden, wird in Choralzitaten des Mittelteils ohrenfällig.

Nach so viel verstörender Spaltung tut empathische Zuwendung zu den in dieser Welt Leidenden not – und das von Streichern begleitete Bassrezitativ leistet dies in bemerkenswerter Weise. Während der Beginn dem schimmernden Orchesterglanz zum Trotz noch von «Kreuz», «Not» und «Plage» redet, gewinnt der dem helfenden Handeln des Höchsten gewidmete zweite Satzabschnitt einen ermutigenden Ariosocharakter. Dass die wahre «Kraft der Armen» im «heilsamen Wort» Gottes liegt, macht Bach mit einer zugleich energischen wie demütigen Schlussgeste unmissverständlich klar.

Dass Prüfung und Verwandlung im heilsgeschichtlichen Sinne zusammengehören, lässt sich bereits dem von Klangwechseln und Gegenbewegungen geprägten Orchestervorspiel der folgenden Arie entnehmen. «Durchs Feuer wird das Silber rein» – wie ein aus dem schmelzenden Berggestein herausgepresstes Edelmetall strömt die Geduld und Tapferkeit preisende Tenorstimme flüssig ihrer Bestimmung und geistlichen Neuprägung entgegen.

Dass Bachs Choralsätze über ihre Wortvertonung auch eine innermusikalisch haltgebende Wirkung haben, macht der Schlusschoral «Das wollst du Gott bewahren rein» in seltener Klarheit erlebbar. Zwar finden sich in seinen Akkordfortschreitungen noch manche Reflexe des kämpferisch-bitteren Textes, doch überwiegt der über Generationen und Stile hinaus kraftvoll einheitsstiftende Charakter des gemeinsamen Singens mit seinem leuchtenden modalen Schluss bei Weitem.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate «Ach Gott, vom Himmel sieh darein» komponierte Bach 1724 als zweiten Beitrag seines Choraljahrganges. Ihr liegt eines der grossen Lutherlieder – eine Nachdichtung des Psalms 12 – zugrunde, dessen erste und sechste Strophe integral übernommen wurden, während der unbekannte Textdichter für die je zwei Rezitative und Arien zwar nur noch einzelne Verse wörtlich zitiert, sich aber auch sonst relativ eng an Luthers Text und Pointierung hält. Es ist eine ergreifende Klage über die Untreue der Menschen, über ihre Abkehr von Gottes Wort und vom rechten Glauben. Anders als bei den meist konzertant durchgearbeiteten Schwesterwerken dieses Langzeitprojektes hat Luthers ernstes Klagelied Bach vor allem im Eingangschor zu einer bewusst archaischen Form und Besetzung inspiriert. Kreuz, Not, Verfolgung und Pein werden im Zuge der Kantate als von Gott auferlegte Prüfungen vorgeführt, an deren Bewältigung sich Rechtgläubige und «Rottengeister» kämpfend voneinander scheiden. Während der Text bei seiner Erstveröffentlichung im Nürnberger «Achtliederbuch» noch mit der Melodie von «Es ist das Heil uns kommen her» verknüpft war, ist er seit dem «Erfurter Enchiridion» von 1524 mit der auch von Bach verwendeten Melodie verbunden. Dass die tatsächlich sehr drastische Vergänglichkeitsrhetorik gerade dieser Kantate im von anderen Idealen der edlen Kirchlichkeit und vernunftgemässen Erbauung geprägten 19. Jahrhundert als Beleg für die vermeintlich «schlechten» Kirchentexte Bachs herangezogen wurde, verwundert nicht. So fasste der Rezensent Ludwig Bischoff 1852 seine Einschätzung des Tenorrezitativs mit den Worten «So etwas kann nur noch Mormonen und Pietisten behagen» zusammen, was ihn sogar zur Forderung nach Textänderungen bei künftigen Aufführungen verleitete.

1. Chor

Ach Gott, vom Himmel sieh darein
und laß dichs doch erbarmen,
wie wenig sind der Heilgen dein,
verlassen sind wir Armen.
Dein Wort man nicht läßt haben wahr,
der Glaub ist auch verloschen gar
bei allen Menschenkindern.

1. Chor

Die Kantate beginnt mit der ersten Strophe des Lutherliedes «Ach Gott, vom Himmel sieh darein», welches eine bewegende Nachdichtung des Psalms 12 durch den Reformator darstellt: ein Klagelied über die Abkehr der Menschen von Gott und seinem Wort. Die besondere Würde von Psalm und Lutherwort drückt sich in der hörbar ungewöhnlichen Faktur des Satzes aus. Als strenge Choralmotette mit dem Alt übertragenem Cantus firmus und ohne eigenständige Instrumentalstimmen ausgearbeitet, verleihen die drei mit dem Chor mitlaufenden Posaunen dem auch dank seiner phrygischen Tonalität fremdartig eingefärbten Satz priesterliche Gravität und Kraft. Dass er die Continuostimme weitgehend vom Singbass löst, gibt Bach Gelegenheit, den Textaffekt durch harmonische Akzente zu verstärken und den Satz vom Fundament her in Bewegung zu halten.

2. Rezitativ — Tenor

Sie lehren eitel falsche List,
was wider Gott und seine Wahrheit ist;
und was der eigen Witz erdenket
– o Jammer! der die Kirche schmerzlich kränket –
das muß anstatt der Bibel stehn.
Der eine wählet dies, der andre das,
die törichte Vernunft ist ihr Kompaß;
sie gleichen denen Totengräbern,
die, ob sie zwar von außen schön,
nur Stank und Moder in sich fassen
und lauter Unflat sehen lassen.

2. Rezitativ – Tenor

Die erste Zeile des Rezitativs ist noch ein wörtliches Zitat aus der zweiten Strophe des Lutherliedes, die Bach hier auch musikalisch aufgreift. Danach verbindet der unbekannte Librettist die Motive des Liedes mit einer harschen Vernunftkritik und auch mit drastischen Jesusworten, welche falsches Schriftgelehrtentum mit aussen schön übertünchten, innen aber modrigen Gräbern (Matthäus 23, 27) vergleichen. Bach verdeutlicht die polemischen Textaussagen mit der ganzen abbildenden Deklamationskraft seiner Rezitativkunst.

3. Arie — Alt

Tilg, o Gott, die Lehren,
so dein Wort verkehren!
Wehre doch der Ketzerei
und allen Rottengeistern;
denn sie sprechen ohne Scheu:
Trotz dem, der uns will meistern!

3. Arie – Alt

Die Altarie ist eine Paraphrase der 3. Lutherstrophe, in welcher die Klage in eine Vertilgungsbitte übergeht: Gott möge «Ketzerei und allen Rottengeistern» wehren. Bach entwirft dafür keine donnernde musikalische Predigt im Bassregister, sondern ein auf den ersten Blick fragiles Gebilde aus Solovioline, Alt und Continuo, dessen lapidare Formelhaftigkeit und (seltene) Staccatovorschrift ein Element der Schärfe und Distanzierung in die Musik trägt, das sich in den textbezogenen Koloraturen der Singstimme sowie den Triolenketten der Streicherpartie zu beträchtlichem Eifer steigert.

4. Rezitativ — Bass

Die Armen sind verstört,
ihr seufzend Ach! ihr ängstlich Klagen
bei soviel Kreuz und Not,
wodurch die Feinde fromme Seelen plagen,
dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein.
Darum spricht Gott: Ich muß ihr Helfer sein!
Ich hab ihr Flehn erhört,
der Hilfe Morgenrot,
der reinen Wahrheit heller Sonnenschein
soll sie mit neuer Kraft,
die Trost und Leben schafft,
erquicken und erfreun.
Ich will mich ihrer Not erbarmen,
mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.

4. Rezitativ – Bass

Das Rezitativ dramatisiert die schon im Psalm 12 wie auch in Luthers Nachdichtung kräftige Phantasie: Gott selbst ergreife nun das Wort und kündige den bedrängten Armen an, dass er sie nicht im Stich lassen, sondern ihnen zu Hilfe eilen werde. Und dann folgen schöne, tröstliche Bilder vom «Morgenrot » der Hilfe, vom «hellen Sonnenschein» der Wahrheit, die den Armen Trost und neues Leben schaffen werden. Der Satz bekommt durch den ausdrucksstarken Textvortrag und die hinzugefügten Streicherstimmen zunächst einen ausgeprägten Lamentocharakter, der im Moment der arios beschleunigten göttlichen Zusage einem warm verbindlichen Gestus weicht.

5. Arie — Tenor

Durchs Feuer wird das Silber rein,
durchs Kreuz das Wort bewährt erfunden.
Drum soll ein Christ zu allen Stunden
in Kreuz und Not geduldig sein.

5. Arie – Tenor

Luther verstärkt die Metapher des Psalms, dass das Wort Gottes im Schmelztiegel geläutertes Silber sei, dies mit dem Hinweis auf die am Kreuz bewährten Worte Christi. Sie sollen den Christen ein Vorbild an Geduld und Ausdauer geben. Diese für die Menschen zugleich tröstliche wie fordernde Aussage einer prozesshaften Verwandlung («Reinigung im Feuer») wird im Rahmen des ernsten g-Moll-Satzes durch permanente gegenläufige Bewegungen vor
allem des Continuo sowie die in sich gleichsam gespiegelte arbeitsame Vokaldevise ausgedrückt. Dass Bach dem Tenorsolisten eine gleichwertige orchestrale Oberstimme entgegensetzen wollte, lässt sich aus deren Besetzung mit Violine sowie beiden Oboen erkennen.

6. Choral

Das wollst du, Gott, bewahren rein
für diesem arg’n Gschlechte,
und laß uns dir befohlen sein,
daß sichs in uns nicht flechte.
Der gottlos Hauf sich umher findt,
wo solche lose Leute sind
in deinem Volk erhaben.

6. Choral

Die letzte Strophe folgt wieder dem Wortlaut der zweitletzten Strophe des Lutherliedes: Es schliesst mit einer vom Tutti der Sänger und Instrumente vorgetragenen Bitte um Bewahrung in argen Zeiten und einem schwierigen Umfeld.

Reflexion

Rainer Hank

Liebe Kantatengemeinde

Die heutige Bachkantate «Ach Gott, vom Himmel sieh darein» hat mich in einen Strudel widersprüchlicher Gefühle versetzt. Als Katholik empört mich die Kantate, nachdem ich gelesen habe, dass der zugrunde liegende reformatorische Choral Luthers in Lübeck im Jahr 1529 als eine Art protestantischer «Flashmob» am Ende des katholischen Gottesdienstes eingesetzt wurde, um die Katholiken niederzusingen. Die Sache hat funktioniert, was mich dann auch ein bisschen fasziniert, weil sich hier etwas über die Macht der Musik zeigt. Als Freund eines kritischen Rationalismus hat mich die Kantate aufgeregt wegen ihrer Verdammung der Vernunft als «töricht», was schwer zu akzeptieren ist. Als Journalist indessen bin ich überrascht von der hellsichtigen Wahrnehmung der zerstörerischen Wirkung einer Welt der «Fake News». Es ist eine Welt, in der man sich auf nichts und niemand verlassen kann.

Ich gebe Ihnen in den kommenden fünfzehn Minuten Impressionen dieser meiner Erregung. Dabei will ich mich konzentrieren auf das Tenorrezitativ «Sie lehren eitel falsche List».

I.

Ich beginne mit den «Fake News». Dreh- und Angelpunkt für die Kantate ist Psalm 12, in dem es – in der ökumenischen Einheitsübersetzung – heisst: «Unter den Menschen gibt es keine Treue mehr. / Sie lügen einander an, einer den anderen, / mit falscher Zunge reden sie.» Unser Tenor singt entsprechend: «Sie lehren eitel falsche List.»

Ist das nicht unsere Erfahrung im beginnenden 21. Jahrhundert, wo unklar geworden ist, was Wahrheit und was Lüge ist?[1] Ehemals selbstverständliches Vertrauen schwindet. Da vermag uns unser Tenorrezitativ nur vordergründig zu beruhigen, wenn er daran erinnert, dass alles schon einmal dagewesen sei. Natürlich: Seit Menschen sprechen können, lügen sie sich an. Wir täuschen einander, gehen anderen auf den Leim und geben vor zu sein, was wir nicht sind. Menschen haben seit jeher Gerüchte gestreut, Intrigen gesponnen und einander in die Irre geleitet. Fürstenhöfe unterhielten während der italienischen Renaissance spezielle Kanzleien, die Falschmeldungen erfanden und sie im Volk verbreiteten. Das weiss der Psalmist, das weiss der Dichter unserer Kantate: «Unter den Menschen gibt es keine Treue mehr. / Sie lügen einander an, einer den anderen, / mit falscher Zunge reden sie.»

Doch die Maschinerie der Täuschung erfährt in unserer Gegenwart eine gefährliche Zuspitzung. Ich zitiere Zachary Wolf. Der Mann ist Digitaldirektor des Fernsehsenders CNN. Auf die Frage, warum es so schwierig sei, über Donald Trump als Journalist zu berichten, antwortet er: «Weil wir nie wissen, was er meint, wenn er Worte sagt.» Die Produzenten von Fake News, so könnte man mit dem unbekannten Dichter der Kantate sagen, gleichen Totengräbern, die, obzwar von aussen schön, nur Stank und Moder in sich fassen und lauter Unflat sehen lassen. Der Zusammenhang von Sagen und Meinen ist destruiert, «weil wir nie wissen, was er meint, wenn er Worte sagt».

Lassen Sie mich an einem prominent gewordenen Beispiel, der sogenannten «Pizzagate-Verschwörung», deutlich machen, woran ich denke: Einer im amerikanischen Wahlkampf 2016 verbreiteten Legende nach waren Mitglieder der Demokratischen Partei in Amerika und die Besitzer einer Pizzeria in Washington in die Geschäfte eines Kinderpornorings involviert. Diese komplett erfundene Geschichte wurde von Verschwörungstheoretikern auf ihren Internetseiten geteilt, darunter auch auffallend vielen russischen Webseiten. Die Geschichte erregte grosses Aufsehen, weil der Fall einen mit einem Sturmgewehr bewaffneten Zivilisten auf den Plan rief, der in der Pizzeria auftauchte, um dort auf eigene Faust als eine Art von Sheriff polizeiliche Ermittlungen anzustellen. Die Erfindung – eine Fiktion – hat reale Folgen!

Dass Verschwörungen und Verleumdungen aufgrund von Fake News heute so leichtes Spiel haben, beruht auf zwei Umständen: 1. Nachrichten – ob wahr oder unwahr – in die Welt zu setzen, ist in Zeiten des Internets so einfach wie noch nie. Wir Journalisten haben unser professionell bewährtes Monopol auf die Herstellung von «wahren» Nachrichten auf dramatische Weise verloren. 2. In Echokammern des Internets haben es Verschwörungstheorien besonders leicht, Akzeptanz zu finden. Das liegt vor allem an der Dynamik sogenannter Informations- und Konformitätskaskaden. Statt kritischer Prüfung geht es nur noch um Selbstbestätigung und Selbstbestärkung. Das frei Erfundene erhält auf diese kaskadenartige Weise hohe Plausibilität bei denen, die Interesse haben, daran zu glauben.

Als Journalist möchte ich verzweifeln, weil ich immer darauf vertraut habe, dass das Ethos unseres Berufes nicht zuletzt auf der Einhaltung der Regeln des Handwerks beruht. Aber ich komme zugleich nicht darum herum, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch eine Nähe zwischen der Logik der Massenmedien und der Logik des Populismus gibt: Dramatisierung, Emotionalisierung, Simplifizierung und Personalisierung sind womöglich in übertriebenem Masse zu Darstellungsmitteln des Journalismus geworden, eingesetzt, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Aufmerksamkeit für unsere Texte zu erhalten. Dramatisierung, Emotionalisierung, Simplifizierung und Personalisierung sind aber eben auch genuine Artikulationsformen des Populismus. Aufmerksamkeitsregeln der Medien und populistische Logik überschneiden sich. Die Nähe fällt auf, die Ähnlichkeit ist irritierend[2].

Haben also auch wir Journalisten uns – um Karl Popper zu zitieren – vom «Ruf der Horde» verführen lassen?[3] Wir, die wir nur allzu gerne über Scharlatane der Fake News von oben herab urteilen, wären dann selbst Teil des Problems und nicht (nur) Agenten der Lösung. Die Kritiker der Elche sind eben häufig selber welche!

II.

Kommen wir zur Vernunft.

Welche Mittel haben wir gegen eine Welt der «Fake News», in der «einer den anderen anlügt und es unter den Menschen keine Treue mehr gibt»? Für uns Kinder der europäischen Aufklärung ist die Antwort eindeutig: Wir müssen emphatisch am Begriff der Wahrheit festhalten. Natürlich kann man die Welt so oder anders sehen, je nach Standpunkt und Weltanschauung. Ungehörig aber ist es, den Anspruch aufzugeben, mit anderen in Wettbewerb um eine angemessene Weltanschauung treten zu wollen. Skandalös ist es, den Anspruch auf Wahrheit zu suspendieren und uns in den Echokammern der Lüge einzurichten.

Es ist die Vernunft, die in der abendländischen Tradition der Herstellung von Wahrheit zu dienen hat. Vernunft, so nennen wir das Vermögen zu erkennen – unter Zuhilfenahme von Argumenten und mit Bezug auf Gründe. Und mit der Bereitschaft, uns von der Empirie korrigieren zu lassen. «Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Was tun Sie, Sir?», ist eines meiner Lieblingszitate von John Maynard Keynes. Das ist Gegengift gegen alle Konformitätskaskaden. Man kann es auch mit dem gerade 90 Jahre alt gewordenen Philosophen Jürgen Habermas so formulieren: Festhalten am Anspruch auf Wahrheit heisst, sich dem «zwanglosen Zwang des besseren, weil einleuchtenden Arguments» zu beugen[4]. Dem zwanglosen Zwang! Dieser Zwang, so scheint mir, ist der entscheidende Punkt, dem sich jene verweigern, die sich vom «Ruf der Horde» haben verführen lassen. Sie nämlich lehren «eitel falsche List».

Warum ich auf der Vernunft hier so herumhacke, liegt auf der Hand. Der Dichter des Kantatenlibrettos in der Tradition von Luthers Vernunftkritik ist komplett anderer Ansicht als die europäische Aufklärung. Für ihn ist Unterwerfung unter den Zwang der Wahrheit stiftenden Vernunft gerade nicht Rettung aus der Welt der Lüge. Ganz im Gegenteil hält der Kantatendichter die Vernunft selbst für die Ursache der spaltenden Lüge. Wer die «törichte Vernunft» zum Kompass wählt, wer nur dem eigenen «Witz», will heissen, seinem Verstand folgt, wird nie zur Wahrheit gelangen, sondern nur Stank und Moder, lauter Unflat hinterlassen. «Der eine wählet dies, der andere das»– in diese Unordnung der Beliebigkeit hat nach Luther die Vernunft uns geführt. Wie könnte sie uns daraus erlösen?

Über Luthers Vernunftbegriff gibt es eine schier uferlose theologische Literatur, mit der ich Sie hier nicht behelligen will[5]. Um es salopp zusammenzufassen: Luther hält ganz und gar nichts von der Vernunft. Er nennt sie bekanntlich «die höchste Hur, die der Teufel hat», auch «Frau Hulda» und ironisch «Herrin Vernunft und Metze». Luther: «Aber des Teufels Braut ratio, die schöne Metze, (…) sie ist die höchste Hure, die der Teufel hat. Die anderen groben Sünden sieht man, aber die Vernunft kann niemand richten.» Luther braucht diesen radikal negativen Vernunftbegriff, damit auf der anderen Seite die «heilwertige Gnade» umso heller leuchten kann. Die Vernunft kennt nur «Abgötter», weil Gott selbst sich nicht durch Vernunft, sondern nur durch Gnade den Menschen offenbart. Die Verdammung der Vernunft ist der Preis der Rechtfertigungslehre.

Ich gestehe: An dieser Stelle bin ich froh, katholisch zu sein, weil die katholische Tradition (von Thomas von Aquin bis zu Karl Rahner) der (uns vom Schöpfer geschenkten) Vernunft mehr an Wahrheitserkenntnis zutraut, als der Dichter unseres Kantatenlibrettos es tut. Ich gestehe ebenfalls und wiederhole es, dass ich glaube, dass in der heutigen Welt nur ein emphatisches Bekenntnis zum kritischen Rationalismus gegen den lügnerischen Tribalismus, das Stammesdenken des «Rufs der Horde» hilft. Mit einer Verteufelung der Vernunft kommen wir nicht weiter. Das haben die viel gescholtenen Kulturprotestanten im 19. Jahrhundert offenbar gespürt, die im Programmheft zitiert werden: «So etwas kann nur noch Mormonen und Pietisten behagen» – so der deutsche Cellist und Chorleiter Ludwig Bischoff im Jahr 1852.

Kurzum und grob zusammengefasst: Unsere Kantate beschreibt treffend die zersetzende Kraft einer Welt der Lüge, in der der Konnex zwischen Sagen und Meinen aufgehoben ist. Dem stimme ich zu. Aber ich vermag dem Dichter ganz und gar nicht zu folgen, wenn er gut lutherisch der törichten Vernunft die Verantwortung für diese desaströse Lage in die Schuhe schiebt. Vielmehr gälte es, in der Vernunft die Rettung zu erkennen. Kritischer Rationalismus als Weg zur Wahrheit, so heisst die Parole.

III.

Damit könnte ich enden. Ich will aber eine relativierende Irritation als Coda dann doch nicht verschweigen.

Ist es nicht auch das Problem unserer Zeit, dass der «zwanglose Zwang zur Verständigung»  (Habermas), die Verpflichtung auf den rationalen Diskurs gerade fragil und brüchig geworden ist? Ist der «Ruf der Horde» nicht auch eine Protestbewegung gegen die arrogante Vernünftigkeit der Eliten – also von uns, die wir hier sitzen –, die wir unsererseits einen Zwang ausüben, nämlich den Zwang der kommunikativen Vernunft, den wir als alternativlos präsentieren und dem sich alle unterwerfen müssen? Wer es nicht tut, hat aus Sicht der Eliten das Recht auf Zugehörigkeit verwirkt. Wenn der Türsteher der Vernunft zum Diskurs nur zulässt, wer der Vernunft sich unterwirft, dann wird der Diskurs protektionistisch. Das kann man nur «töricht» nennen.

Zwang bleibt Zwang, auch wenn es der Zwang der Vernunft ist. Auf diesen Einwand gibt Jürgen Habermas selbst (wenngleich in anderem Kontext) eine an Sören Kierkegaard angelehnte überraschende Antwort, die merkwürdig an unser Tenorrezitativ erinnert: «Das Individuum ist gerechtfertigt (…) wenn und weil es sich von einer ‹höheren Macht› geliebt weiss. Wenn es sich leidenschaftlich dem Glauben (und also nicht der Vernunft, R.H.) hingibt, ja seinen ‹Verstand verabschiedet› und weiss, dass sein in allem Tun ohnehin verfehltes ‹Selbstsein› unverfüglich geborgen ist.»[6]

Sollen wir also aus der Verzweiflung darüber, dass die Vernunft heute ihre Mission nicht mehr gut erfüllt, dann doch – quasi als die bessere Alternative – auf den Glauben hoffen? Glaube wäre, so gesehen, immerhin eine «Option» in Zeiten der Lüge und der schwindenden Überzeugungskraft der Vernunft[7]. So jedenfalls klingt das Bittgebet der Altarie in unserer Kantate, die sich an das Tenorrezitativ anschliesst: «Tilg, oh Gott, die Lehren, / so dein Wort verkehren!»

Hören wir einfach die Kantate «Ach Gott, vom Himmel sieh darein» ein zweites Mal.

[1] Meine Analyse der «Fake News» schliesst sich dem vorzüglichen Essay von Romy Jaster und David Lanius an: «Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen.» Reclam: Stuttgart, 2019.

[2] In Anlehnung an Niklas Luhmann («Die Realität der Massenmedien», Wiesbaden, 2004) wird der Gedanke der Nähe zwischen Populismus und Medien von der Politikwissenschaftlerin Paula Diehl in mehreren Arbeiten entwickelt. Vgl. Paula Diehl: «Why Do Right-Wing Populists Find So Much Appeal in Mass Media?» In: Dahrendorf-Forum Hertie School of Governance, Berlin, 20. Oktober 2017.

[3] Unter dem popperianischen Titel «Der Ruf der Horde» hat der peruanische Dichter Mario Vargas Llosa gerade seine «intellektuelle Biographie» vorgelegt (Suhrkamp-Verlag: Frankfurt, 2019).

[4] Vgl. dazu u.a. Charles Larmore: Der Zwang des besseren Arguments. In: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. Suhrkamp-Verlag: Frankfurt, 2001, S. 106–125.

[5] Ich nenne hier aus der Sekundärliteratur nur: Udo Kern: Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Martin Luther. In: Rainer Rausch (Hrsg.): Glaube und Vernunft. Wie vernünftig ist die Vernunft? Hannover, 2014, S. 55/71. Karl-Heinz zur Mühlen: Der Begriff ratio im Werk Martin Luthers. In: ders.: Reformatorisches Profil. Studien zum Werk Luthers. Göttingen, 1995, S. 154–173. Reinhold Rieger (Hrsg.): Martin Luthers theologische Grundbegriffe. Von «Abendmahl» bis «Zweifel». Tübingen, 2017 (Vernunft: S. 308–311). Während die theologische Literatur zu Luthers Vernunftbegriff uferlos ist, ignorieren die Philosophen das Thema nahezu komplett.

[6] Ich entnehme diese Geschichte einem Artikel des Tübinger Philosophen Manfred Frank zu Habermas‘ 90. Geburtstag in der «Zeit» vom 13. Juni 2019. Habermas antwortet auf Manfred Franks Einwand, die Vernunft sei prinzipiell instabil, mit dem hier zitierten Verweis auf Sören Kierkegaard und den Glauben an die Liebe einer «höheren Macht», nicht ohne freilich anschliessend zu beteuern, dass er persönlich sich diesem Ausweg Kierkegaards nicht anschliessen könne.

[7] Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Verlag Herder: Freiburg, 2012.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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