Erfreut euch, ihr Herzen

BWV 066 // zum 2. Osterfesttag

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Tromba, Oboe I+II, Fagott, Streicher und Continuo

«Es strahle die Sonne, es lache die Wonne, es lebe Fürst Leopold ewig beglückt» – dieser klangprächtige Schlusssatz der Köthener Serenade von 1718 rückte bei der Leipziger Umarbeitung als Eingangschor mit dem neuen Text «Erfreut euch ihr Herzen, entweichet ihr Schmerzen, es lebet der Heiland und herrschet in euch» an den Beginn der Osterkantate BWV 66, von der ein Textdruck aus dem Jahr 1731 erhalten ist.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 66

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Alex Potter

Tenor
Julius Pfeifer

Bass
Dominik Wörner

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Jennifer Rudin, Noëmi Sohn, Alexa Vogel

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Katharina Jud, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Raphael Höhn, Nicolas Savoy

Bass
Fabrice Hayoz, Manuel Walser, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Martin Korrodi, Christine Baumann, Sabine Hochstrasser, Yuko Ishikawa, Ildiko Sajgo

Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein, Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Katharina Arfken, Dominik Melicharek

Fagott
Dorothy Mosher

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Gottlieb F Hoepli

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
29.04.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Unbekannt

Erste Aufführung
Zweiter Osterfesttag,
10. April 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

«Es strahle die Sonne, es lache die Wonne, es lebe Fürst Leopold ewig beglückt» – dieser klangprächtige Schlusssatz der Köthener Serenade von 1718 rückte bei der Leipziger Umarbeitung als Eingangschor mit dem neuen Text «Erfreut euch ihr Herzen, entweichet ihr Schmerzen, es lebet der Heiland und herrschet in euch» an den Beginn der Osterkantate BWV 66, von der ein Textdruck aus dem Jahr 1731 erhalten ist. Die leichte und eingängige Faktur der vom beschwingten Orchestersatz geprägten Komposition kommt auch im geistlichen Kontext wirkungsvoll zur Geltung, wobei die in den zweistimmigen Fortgang eingeschalteten chorischen Rufe nun nicht mehr dem anhaltinischen Provinzpotentaten, sondern der Akklamation des himmlischen Siegesfürsten dienten. Die ad libitum vorgesehene und weitgehend mit Violine oder Oboe parallel geführte Trompete ist offenbar eine Leipziger Zutat, mit der Bach beim Ausschreiben seiner neuen Partitur gezielt das österliche Kolorit verstärkte. Der im Original merklich devot angelegte Mittelteil («Ach Himmel, wir flehen») illustriert nun das «ängstliche Zagen» der Jünger angesichts des überwältigenden Ostergeschehens.

Das Bassrezitativ kleidet seine gewichtige Botschaft von der Auferstehung Jesu und dem für alle Zeit überwundenen Tod in einen dichten Streichersatz, der erst am Schluss in eine gelöste «Osterfanfare» mündet. Demgegenüber mobilisiert die anschliessende Bassarie mit ihrem reichen Streicher- und Holzbläsersatz den Prunk der höfischen Festmusik, um das dem Höchsten gebührende «Danklied» in glänzender Weise zu intonieren. Der Sänger bewegt sich dabei wie ein virtuoser Fagottist in einem zugleich eingängigen wie differenziert instrumentierten Orchestertanz.

Einen wiederum skeptischen Grundzug weist das folgende Rezitativ auf, das nach einem trostgewissen Beginn («Bei Jesu Leben freudig sein») die etwas unvermittelt eingeführten allegorischen Figuren «Furcht» (Alt) und «Hoffnung» (Tenor) in einen ariosen Dialog führt, der von sprachlichen Kontrasten lebt («Mein/Kein Auge sieht den Heiland auferweckt») und den Widerstreit von Zuversicht und Zweifel in die Bitte um Gewissheit und Stärkung überführt.

Daran schliesst sich ein Duett mit solistischer Violine an, das die Dialogstruktur der Köthener Huldigungsmusik beibehält, sie nun aber in den simultanen Ausdruck von Auferstehungsglaube und Klage um den «entrissenen» Heiland verwandelt, der sich erst im Mittelteil zu einem kämpferischen Miteinander beider Singstimmen aufrafft («Nun ist mein Herze voller Trost»). Diesen Duktus greift der für Leipzig neu komponierte Schlusschoral auf, dessen dreifacher «Alleluja!»-Ruf die versammelte Gemeinde in einen zugleich archaischen wie zeitlos kraftvollen Ostergesang einbezieht, der hier mit den für die alte Orgelkunst charakteristischen Zeilenzwischenspielen erklingt. Dass die so teuer erkaufte Auferstehung ein tiefernstes Fest darstellt, wird an Bachs österlichen Choralsätzen immer wieder unmittelbar einleuchtend.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Diese Osterkantate ist als Umarbeitung, als sog. «Parodie» der Glückwunschkantate BWV 66a zum Geburtstag von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen aus dem Jahre 1718 entstanden. Der unbekannte Librettist hatte die anspruchsvolle Aufgabe, einen neuen geistlichen Text zu erfinden, welcher im Versmass und in den verschiedenen Affekten auf die vorhandene Musik passt. Auch die dialogische Form musste übernommen werden: Anstelle der «Glückseligkeit Anhalts» und der «Fama» (röm. Mythologie: Gottheit des Ruhmes und des Gerüchts) sind jetzt die Furcht und die Hoffnung miteinander im Gespräch. An einzelnen Stellen nimmt der Text Bezug auf die Schriftlesungen des Festtages: Die Predigt des Petrus über Christus aus Apostelgeschichte 10 und die Erscheinung Christi bei den Jüngern in Emmaus aus dem 24. Kapitel des Lukasevangeliums.

1. Chor

Erfreut euch, ihr Herzen,
entweichet, ihr Schmerzen,
es lebet der Heiland und herrschet in euch.
Ihr könnet verjagen
das Trauren, das Fürchten,
das ängstliche Zagen,
der Heiland erquicket
sein geistliches Reich.

1. Chor
Dass Christus auferstanden ist und lebt, ist Grund zur Freude. Die Worte des «Heilandsrufes» klingen an: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» (Matthäus 11, 28). Der ausgedehnte Chorsatz ist dreiteilig angelegt (A B A), mit einem ruhigen Mittelteil. Das Bläsertrio mit zwei Oboen und Fagott konzertiert im musikalischen Wettstreit mit den Streichern.

2. Rezitativ (Bass)

Es bricht das Grab und damit unsre Not,
der Mund verkündigt Gottes Taten;
der Heiland lebt, so ist in Not und Tod
den Gläubigen vollkommen wohl geraten.

2. Rezitativ
Den Gläubigen ist «wohlgeraten», denn durch den auferstandenen Christus sind sie vor Gott gerechtgesprochen.

3. Arie (Bass)

Lasset dem Höchsten ein Danklied erschallen
vor sein Erbarmen und ewige Treu.
Jesus erscheinet, uns Friede zu geben,
Jesus berufet uns, mit ihm zu leben,
täglich wird seine Barmherzigkeit neu!

3. Arie
Ein tänzerisch bewegtes Danklied für Gottes unverbrüchliche Treue und für Jesus, der Frieden gibt (Joh. 20, 19) und zum Leben beruft (Joh. 14, 19).

4. Rezitativ à 2 und Arioso (Duett Furcht: Altus, Hoffnung: Tenor)

Hoffnung
Bei Jesu Leben freudig sein
ist unsrer Brust ein heller Sonnenschein.
Mit Trost erfüllt auf seinen Heiland schauen
und in sich selbst ein Himmelreich erbauen,
ist wahrer Christen Eigentum.
Doch weil ich hier ein himmlisch Labsal habe,
so sucht mein Geist hier seine Lust und Ruh,
mein Heiland ruft mir kräftig zu:
«Mein Grab und Sterben bringt euch Leben,
mein Auferstehn ist euer Trost.»
Mein Mund will zwar ein Opfer geben,
mein Heiland, doch wie klein,
wie wenig, wie so gar geringe,
wird es vor dir, o grosser Sieger, sein,
wenn ich vor dich ein Sieg-
und Danklied bringe.
Hoffnung
Mein Auge sieht den Heiland auferweckt,
Furcht
Kein Auge sieht den Heiland auferweckt,
Hoffnung
es hält ihn nicht der Tod in Banden.
Furcht
es hält ihn noch der Tod in Banden.
Hoffnung
Wie, darf noch Furcht in einer Brust entstehn?
Furcht
Lässt wohl das Grab die Toten aus?
Hoffnung
Wenn Gott in einem Grabe lieget,
so halten Grab und Tod ihn nicht.
Furcht
Ach Gott! der du den Tod besieget,
dir weicht des Grabes Stein, das Siegel bricht,
ich glaube, aber hilf mir Schwachen,
du kannst mich stärker machen;
besiege mich und meinen Zweifelmut,
der Gott, der Wunder tut,
hat meinen Geist durch Trostes Kraft gestärket,
dass er den auferstandnen Jesum merket.

4. Rezitativ à 2 (und Arioso)
Mit diesem Satz beginnt der Dialog zwischen Furcht (Alt) und Hoffnung (Tenor). Die Hoffnung sieht auf den auferstandenen Christus und ist überzeugt: «Wie darf noch Furcht in einer Brust entstehen?» Die Furcht hingegen fühlt sich noch unsicher und bekennt: «Ich glaube, aber hilf mir Schwachen, du kannst mich stärker machen», eine Haltung, welche bis heute die Situation des glaubenden Menschen charakterisiert. Der Dialog ist rezitativisch angelegt, doch mit mehreren dramatisierenden Einschüben: melodisch ausgestaltet das Zitat der Heilandsworte vom Grab und Sterben, sowie eine imitatorische Konfrontation der gegensätzlichen Positionen in einem Duett.

5. Arie (Duett Furcht: Altus, Hoffnung: Tenor)

Altus
Ich furchte zwar des Grabes Finsternissen
und klagete mein Heil sei nun entrissen.
Tenor
Ich furchte nicht des Grabes Finsternissen
und hoffete mein Heil sei nicht entrissen.
Beide
Nun ist mein Herze voller Trost,
und wenn sich auch ein Feind erbost,
will ich in Gott zu siegen wissen.

5. Arie (Duett)
Ein tänzerisch bewegtes Danklied für Gottes unverbrüchliche Treue und für Jesus, der Frieden gibt (Joh. 20, 19) und zum Leben beruft (Joh. 14, 19).

Schliesslich obsiegt die Hoffnung über alle Furcht und Klage. Die Dialogpartner bekennen, ähnlich wie die beiden Jünger in Emmaus: «Nun ist mein Herze voller Trost.» (Psalm 73, 26). Die Solovioline fügt dem Duett (12/8 Takt in A-Dur) einen konzertanten Glanz bei, der an die Festlichkeit der ursprünglichen Geburtstagskantate erinnert.

6. Choral

Alleluja! Alleluja! Alleluja!
Des solln wir alle froh sein,
Christus will unser Trost sein.
Kyrie eleis.

6. Choral
Mit der dritten Strophe des mittelalterlichen Liedes «Christ ist erstanden» endet die Kantate: «Christus will unser Trost sein». Das Wort «Trost» wurde im Mittelalter ganzheitlicher verstanden als heute und meinte Zuversicht, Lebensmut, Vertrauen und Sicherheit.

Reflexion

Gottlieb F. Höpli

«Von der Individualität zur Einsamkeit»

Die Kantate «Erfreut Euch, ihr Herzen» redet dem Selbstbewusstsein des Christen das Wort und entwickelt die Vision moderner Individualität. Aber auch die Vereinsamung des Einzelnen in unserer Zeit mag hier ihren Ursprung haben.

Ich gestehe: Es hat eine Weile gedauert, bis die Stimmen zu mir gesprochen haben, die in dieser Kantate ertönen. Gemeint sind weder die drei wunderbaren Solopartien noch die schöne Bassarie, weder die Duette zwischen Tenor und Alt noch die sie virtuos umspielende Solovioline, und auch nicht die strahlenden Bläser – nein, ich meine die Stimmen, die aus dem Text der Kantate mit uns reden.
Denn die Musik der Kantate geht dem Liebhaber und auch dem «anfahenden Organisten» – so bezeichnet Bach im Orgelbüchlein den Studiosus auf der Orgel – und uns Heutigen in weiten Teilen unmittelbar zu Herzen, ganz im Gegensatz zum Kantatentext. Nichts anderes als Bachs Musik ist der Grund der allmonatlichen Aufführungen im appenzellischen Trogen in den kommenden 20 Jahren.
Über diese Musik zu sprechen fiele mir nach der Devise meines Lehrers Emil Staiger, des Meisters der literarhistorischen Interpretation, um vieles leichter. Weil die Vermittlungsarbeit des reflektierenden Interpreten darin bestehe, «zu begreifen, was uns ergreift» (keiner hat den hermeneutischen Zirkel der Interpretation prägnanter beschrieben!). Doch wer über Musik reflektiert, läuft bekanntlich Gefahr, in den Tonfall von Wackenroder und Tiecks frühromantischen «Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders» (1796) zu verfallen.
So wenden wir uns dem Kantatentext aus anonymer Feder zu: einem Text, der für diese Gattung der sakralen Vokalmusik typisch, für Bach selbst, für die Kirchenbesucher in der Leipziger Thomaskirche an jenem zweiten Osterfesttag des Jahres 1724 und mithin auch für uns bedeutsam sein muss. Die zahlreichen Stimmen in diesem Kantatentext, von denen bereits gesprochen wurde, kommen zum Teil von weit her. Sie sprechen miteinander, sprechen mit den Gläubigen – und sie sprechen auch zu uns. Es ist ein ganzes Stimmengeflecht, dem sich der Hörer gegenübersieht.
Die erste Stimme, die am weitesten entfernte, ruft:

«Es strahle die Sonne,
es lache die Wonne,
es lebe Fürst Leopold ewig beglückt.
Ach Himmel, wir flehen,
die frohe Zeit sechzigmal wieder zu sehen,
gib Höchster, was unsern Regenten erquickt.»

Der Leser merkt sofort: diese Verse stammen nicht aus dem Text der Kantate «Erfreut euch, ihr Herzen». Wer aber den Text des Eingangschors unserer Kantate aufmerksam liest («Erfreut euch, ihr Herzen, / ent­weichet, ihr Schmerzen»), erkennt sofort, dass die Musik auf beide Texte passt. Oder sollte man eher sagen: Beide Texte passen auf die Musik?
Der hier zitierte Text bildet nämlich den Schluss einer «Serenata», die Bach 1718, zum 24. Geburtstag seines Köthener Dienstherrn, des musikliebenden Fürsten Leopold zu Anhalt-Köthen komponiert und aufgeführt hat. Über diese Form der Verwendung früherer Vorlagen, der Parodie, wie sie auch von anderen Kantaten her bekannt ist, gäbe es vieles zu sagen, Praktisches und Grundsätzliches. Zum Beispiel, dass Bach auf Karfreitag 1724 die Johannespassion schrieb und, in Zeitnot geraten, für die beiden folgenden Ostertage bereits existierende Kantaten umarbeitete.
Es sollte aber in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass die Freude über einen Geburtstag und die Freude über die Auferstehung von sehr ähnlichen Affekten geprägt ist. Tatsächlich spielen Affekte, die Kunst, genau definierte und typisierte Gemütslagen darzustellen und beim Publikum zu erregen, in der Musik des Barock eine ganz zentrale Rolle. Kommt hinzu, dass Johann Sebastian Bach zu einem Geburtstag immer noch mehr einfällt als manchem Komponisten zu einem kirchlichen Hochfest …
Näher an unser Ohr als der Text der Köthener Hofmusik dringen die Stimmen, die in der Kantate «Erfreut euch, ihr Herzen» einen Dialogus, eine Art Streitgespräch, zwischen Hoffnung (Tenor) und Furcht (Alt) halten. Die beiden Affekte geben der menschlichen Ambivalenz vor dem Ostermysterium Ausdruck, und sie sind auch dem heutigen Christen nicht unbekannt. Zwar nicht in der barocken Wortwahl, aber doch in der zwiespältigen Haltung: «(…), / ich glaube, aber hilf mir Schwachen, / du kannst mich stärker machen; / (…)». Denn der Zweifel – das hat unsere säkularisierte Gegenwart anscheinend ganz vergessen – ist ja nicht das Kennzeichen des Ungläubigen, des Nicht-interessierten, auch nicht des Besserwissenden, sondern das Charakteristikum des gläubigen, suchenden, um seinen Glauben ringenden Menschen!
Beim Blick auf die Kantate als Ganzes fällt das Strahlen auf, der ohrenfällige Jubel über die Auferstehung, der da erklingt. Besonders ergreifend im Fall jener tausendjährigen Stimme, die ganz zum Schluss aufklingt und gleich wieder verstummt: die dritte Strophe aus dem ältesten liturgischen Ostergesang deutscher Sprache, «Christ ist erstanden», der auf eine noch ältere lateinische Vorlage zurückgeht. Der uralte Ostergesang sei in allen drei Strophen in Erinnerung gerufen (unser inneres Ohr hört dabei vielleicht die alte dorische Tonart mit ihren Ganztonschritten mit):

«Christ ist erstanden von der Marter alle;
des solln wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein.
Kyrieleis.

Wär er nicht erstanden,
so wär die Welt vergangen;
seit dass er erstanden ist,
so lobn wir den Vater Jesu Christ.
Kyrieleis.

Halleluja,
Halleluja,
Halleluja!

Des solln wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein.
Kyrieleis.»

Mit dieser uralten Ostersequenz hat Bach, so will es uns scheinen, eine Art zusätzlichen Glaubensstempel unter die Kantate gedrückt, ähnlich den drei Buchstaben, die er unter viele seiner Werke setzte: SDG – Soli Deo Gloria.
Spätestens an dieser Stelle sind wir Heutigen nun unausweichlich konfrontiert mit dem Glaubensinhalt des Ostergeschehens: Die Auferstehung Christi, das ist nichts für laue Christen und Rationalisten, das ist «hard stuff». Können wir Zeitgenossen zu Weihnachten die Geburt eines Babys armer Leute im fernen Morgenland noch irgendwie rührend finden, verlangt die Auferstehung Christi einen ganz anderen Positionsbezug: Glaubst du an die Erlösung durch die Opferung des Gottessohnes in der Passion, an seine Auferstehung und seine Himmelfahrt? Nicht zufällig misst die orthodoxe Kirche dem Ostergeschehen eine ganz andere, eine zentrale Bedeutung im Kirchenjahr zu. Die Osternacht in der orthodoxen Liturgie mit ihren Auferstehungsrufen und ihrem nicht enden wollenden Jubel – die ich bisher gewiss zwanzigmal mitfeiern durfte – ist ein unvergleichliches, überwältigendes spirituelles Erlebnis!
Doch der Kernbotschaft des Kantatentextes haben wir uns damit immer noch nicht genähert. Noch immer klingt sie wie aus weiter Ferne zu uns herüber. Und doch verbindet unsere Gegenwart mit dem Text zumindest an einer zentralen Stelle viel mehr, als der erste Blick wahrzunehmen vermag.
Fragen wir nach: Was macht denn im Text dieser Kantate den «wahren Christen» aus? im Tenorrezitativ heisst es dazu:

«Mit Trost erfüllt auf seinen Heiland schauen
und in sich selbst ein Himmelreich erbauen,
ist wahrer Christen Eigentum.»

«In sich selbst ein Himmelreich erbauen»: Das ist nun wahrlich ein reformatorisches, ein fast schon pietistisch angehauchtes Statement! Wir finden es nirgendwo anders vor, weder bei den Katholiken noch bei den Orthodoxen und auch nicht in einer anderen Weltreligion: Der Einzelne ist, ich selber bin ganz allein in der Lage, in mir «selbst» ein «Himmelreich» zu «erbauen»! Ohne geistliche oder weltliche Erlaubnis, ohne priesterliches Mittlertum, ohne fürstlichen Gnadenerlass! Dieses Herauslösen des Einzelnen aus den vielfältigen horizontalen und vertikalen Bindungen der mittelalterlichen Welt wird ungeheure Konsequenzen haben. Hier beginnt ein Prozess der Emanzipation, der Lockerung und der Loslösung, schliesslich das Kappen von Bindungen, die dann auch vor der Bindung des Menschen an Gott – und nichts anderes bedeutete ja «religio» – nicht Halt machte. Ein Prozess, der im Laufe der Zeit immer weiter gehen wird. Er führt auf direktem Weg zur Aufklärung, von Kant 1784 als «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» definiert, und zum imperativ «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!».
Dazu braucht es keinen personalisierten Gott mehr, dazu reicht seit Kant das Bewusstsein «des gestirnten Himmels über mir und des moralischen Gesetzes in mir» – weil der aufgeklärte Mensch eben annehmen darf, dass dieses Bewusstsein bei seinem Nächsten ebenso vorhanden sei. Der aufgeklärte Optimismus, in der besten aller Welten zu leben, hat dann bekanntlich nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 bereits einen nachhaltigen Knacks erhalten, wie wir etwa aus Voltaires «Candide» wissen.
Der Entwicklungsstrang der Individualisierung liesse sich bis in die Gegenwart weiterzeichnen. Das würde freilich den Rahmen dieser Reflexion sprengen. Nur so viel noch: Individualisierung bedeutet auch Vereinzelung, ja Vereinsamung. Die Einsamkeit des modernen Menschen ist nicht mehr nur ein dominantes Thema der heutigen Kunst und Literatur, sondern beschäftigt inzwischen auch die Soziologen und sogar die Städteplaner. Letztere müssen das städtische Wohnraumangebot, den urbanen Raum, immer mehr auf die dominierende Spezies der Singles ausrichten.
Bei der Rückkehr zum Anfang der Kantate lässt uns das nun geschärfte Gehör rasch erkennen, was uns heute vom Geist der Kantate trennt:
Die Verse «Erfreut euch, ihr Herzen, / entweichet, ihr Schmerzen, (…)» wären zwar durchaus in der heutigen, säkularisierten Welt und auch schon vor hundert Jahren vorstellbar – aber nicht mehr als Jubel über den Sieg des Heilands über Not und Tod, über den Trost mithin, den er uns damit verschafft, sondern beispielsweise in einem Reklameslogan über die Wirkung eines Schmerzmittels aus den Zwanzigerjahren. Die Pharmabranche hat der heilenden Wirkung des Glaubens längst den Rang abgelaufen! So müssten denn die folgenden Zeilen, in denen vom Heiland und seinem geistlichen Reich die Rede ist, erneut umgedichtet werden, etwa auf den Namen eines prominenten Medikaments, vielleicht gar eines Psychopharmakons! Man wird mir nachsehen, wenn ich mich dieses Versuchs enthalte.
Zwar hat der moderne Mensch seine Bindungen ans Jenseits nicht völlig gekappt. Es darf sogar behauptet werden, dass die Sehnsucht nach einer solchen Anbindung eher wieder gewachsen ist. Aber der Ausgangspunkt ist jetzt der individuelle Lebensentwurf, der selber bestimmen will, in welchen Formen und Riten sich diese Bindung abzuspielen habe – «bottom up» statt «top down», wie es heute heisst. Sichtbares Beispiel dafür sind etwa die oft überaus peinlichen, selbstgebastelten Riten, die sich Menschen ausdenken, wenn sie beim Bund fürs Leben dann doch nicht gänzlich auf das Serviceangebot der Kirchen verzichten wollen. An die Stelle von Johann Sebastian Bach und der Orgel treten dann gut gemeinte Freundesworte, Gitarre und Schlagzeug und eine vielfach ziemlich unterirdische musikalische Qualität. ich finde – dies ist meine persönliche Meinung –, dass sich unsere Landeskirchen und ihr Personal in dieser Beziehung heute zu viel bieten lassen!
Ein letztes Mal soll nun vom Himmelreich die Rede sein, das der Mensch in sich selbst erbauen kann, ja soll. Spätestens seit Immanuel Kant hat dies aber auch zur Folge, dass der Mensch selber dafür verantwortlich ist, wenn er es nicht schafft, in sich selbst paradiesische Zustände zu erschaffen. Und das ist, seitdem im letzten Jahrhundert die Nabelschau, der Blick in die Abgründe der menschlichen Seele so enorme Fortschritte gemacht haben, nicht einfacher geworden …
Ein Wort noch zu den Abgründen der Seele: Des Griechen Pindar pädagogischer Aufruf an den Menschen, «Werde, der du bist», ist ja bei Nietzsche bereits zum ominösen «Wie man wird, was man ist» geworden – es ist der Untertitel des zerrissenen Spätwerks «Ecce homo», das der Philosoph und Verächter des Christentums kurz vor seinem Zusammenbruch geschrieben hat: «Ecce homo» – der Ausruf des Pontius Pilatus beim Anblick Jesu Christi, kurz bevor er der Passion Christi, die er nicht aufhalten konnte, ihren Lauf liess.
Doch der Passion folgte die Auferstehung. Niemand wird behaupten wollen, dass die Menschen in einer Gegenwart voller Ängste, Passionen und Obsessionen sich nicht nach einer wie auch immer gearteten Erlösung sehnen. Aber von den beiden Dialogpartnern der Kantate «Erfreut euch, ihr Herzen», der Furcht und der Hoffnung, schwingt heute ganz eindeutig die Furcht obenauf. Dafür sind zu einem guten Teil auch die Medien verantwortlich – in dem Masse, wie für den Zeitungsmenschen in der Regel nur schlechte Nachrichten Good News sind. Deshalb sind Medien denkbar schlechte Träger guter Nachrichten und gewiss keine simplen Abbildungen der Realität. «Erfreut euch, ihr Herzen, / entweichet, ihr Schmerzen» wäre für sie nur schlagzeilenträchtig, wenn es sich um einen Ausnahmezustand für einen Tag handelt, zum Beispiel am Tag einer königlichen Hochzeit wie an diesem 29. April 2011, dem «Royal Wedding». Die Medien stehen, nicht erst heute, sondern seit es sie gibt, im Dienst des barocken Affekts der Furcht, stellen diese in allen möglichen Zuständen dar und wollen sie bei ihrem Publikum so dramatisch wie möglich erregen. Sie gleichen damit aufs Haar der Fama aus der Köthener Geburtstagsserenata.
Das mag nun aber der legitime Anlass sein, diesen unösterlichen Gedankengang zu verlassen und von der Serenata zur Kantate zurückzukehren! Hoffnung, ja sogar ein Stück «Himmelreich in uns selbst» vermag uns auch heute die wunderbare Musik Johann Sebastian Bachs verschaffen.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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