Jesu, der Du meine Seele

BWV 078 // zum 14. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto traverso, Oboe I+II, Corno, Fagott, Streicher und Continuo

Die Kantate «Jesu, der du meine Seele» BWV 78 gehört zu den kontrastreichsten Schöpfungen innerhalb des Bachschen Kantatenschaffens. Entstanden zum 14. Sonntag nach Trinitatis 1724, hat Bach damit eine selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich reichhaltige Synthese verschiedenster Satztraditionen und Stilidiome vorgelegt.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 78

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Akteure

Solisten

Sopran
Julia Neumann

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Markus Volpert

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Leonie Gloor, Damaris Nussbaumer

Alt/Altus
Antonia Frey, Jan Börner, Lea Scherer

Tenor
Manuel Gerber, Clemens Flämig, Marcel Fässler

Bass
Manuel Walser, William Wood, Chasper Mani

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Martin Korrodi, Sylvia Gmür, Mario Huter, Yuko Ishikawa, Marjolein Streefkerk

Viola
Joanna Bilger, Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Luise Baumgartl, Martin Stadler

Fagott
Rogério Conçalves

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein

Corno
Olivier Picon

Orgel
Ives Bilger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Ruediger Goerner

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
22.08.2008

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 7
Johannes Rist, 1641

Textdichter Nr. 2-6
Unbekannt

Erste Aufführung
14. Sonntag nach Trinitatis,
10. September 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate beginnt mit einem Eingangschor, der auf geniale Weise die Form einer zeilenweise durchgeführten Choralmotette für Singstimmen mit der Wiederholungsstruktur einer Passacaglia über ein absteigendes Bassthema sowie mit Elementen eines Instrumentalkonzertes verbindet. Wie es Bach dabei gelingt, die Motive zwischen den verschiedenen Orchestergruppen immer wieder zu vertauschen und sogar umzukehren, wie er in das Korsett der strikt bassgebundenen Instrumentalperioden einen stets abwechslungsreichen und dabei wunderbar sprachbezogenen Vokalsatz einzufügen weiss, ist von grösster Kunsthaftigkeit.

Nach diesem kontrapunktisch-konstruktiven Kraftakt hat Bach mit dem folgenden Duett «Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten» einen kalkulierten Stilbruch gewagt. Über einem beschwingten Continuofundament, das Bach in einer späteren Aufführung durch die Hinzunahme eines gezupften Violone noch weiter profiliert hat, überbieten sich die beiden Singstimmen Sopran und Alt in einem zugleich virtuosen wie einschmeichelnden Zwiegesang. Der Satz ist ganz vom Gedanken des barmherzigen Eilens geprägt; zugleich scheint er nach den Passionsklängen des christusbezogenen Eingangschores den Blick in das schlichtere Menschengemüt zu eröffnen. Dass ebendieser Mensch jedoch aus eigener Kraft keine Hilfe finden kann, macht das folgende Tenorrezitativ schlagartig deutlich: Es bedarf zunächst der Zerknirschung des Herzens und der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, die in die demütige Bitte um Vergebung münden. Über schwer atmenden Basstönen hat Bach dazu eine vokale Kantilene komponiert, die nicht zufällig den Reueauftritten des Petrus in seinen Passionen verblüffend ähnelt. In der folgenden Arie setzt Bach den Leitgedanken der «Erleichterung» in sensibler Weise um, wozu vor allem der Wechsel zum zarten Pizzicato im Continuo beiträgt. Die heroisch aufstrebende Geste des Soloinstrumentes scheint dabei zunächst dem flüchtigen Klang der Traversflöte und der traurig-verzagten Tonart g-Moll zu widersprechen. Doch hat Bach damit exakt das Gefühl einer Befreiung und Stärkung komponiert, die nicht aus eigenem Verdienst erfolgt. Die tastende Flötenstimme wirkt dabei wie die am letzten Sintfluttag ausgesandte Taube, die das Verstummen der strafenden Wetter im weiten Flug erkundet.

Das in ein warmes Streichergewand und die trinitarische Tonart Es-Dur gekleidete Bassrezitativ entfaltet dagegen eine priesterliche Geste: aus dem subjektiven Bussgespräch wird eine dogmatische Aussage, aus Hoffnung Gewissheit im Vertrauen auf die Zusage der Schrift. In einem harmonisch reichen Andante-Arioso findet schliesslich die Vereinigung des glaubenden Herzens mit dem gekreuzigten Erlöser ihren musikalischen Ausdruck. Die noch immer von Seufzern schwere und allezeit stockende Singstimme wird dabei von einem expressiven Streichersatz förmlich getragen.

Gut lutherisch folgt aus dieser Rechtfertigung im Glauben nicht nur der Trost, sondern auch die Gewissheit, selbst in einer feindseligen Welt bestehen und wirken zu können. Die anschliessende Bassarie weist daher einen zwar weiterhin ernsten, jedoch auch tänzerischen Duktus auf. Der Singstimme tritt dabei eine virtuos konzertierende Oboe gegenüber.

Dass beide Arien durchkomponiert sind und auch die Rezitative sich zu einem Arioso hin öffnen, hat über die grossartige Musik hinaus strukturelle Gründe. Stücke dieser Art sind nicht als um einen einzigen Affekt kreisende Kommentare zu verstehen, sondern sie treiben stationsweise eine Entwicklung voran, die die Kantate als kleine Passion und als Abbild des lutherischen Abendmahlsverständnisses und Gottesdienstes erscheinen lassen. Der abschliessende Choral bekräftigt diese Aussage und weitet sie als Zusage in die «süsse Ewigkeit» hinein.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

Jesu, der du meine Seele
hast durch deinen bittern Tod
aus des Teufels finstern Höhle
und der schweren Seelennot
kräftiglich herausgerissen
und mich solches lassen wissen
durch dein angenehmes Wort,
sei doch itzt, o Gott, mein Hort!

2. Arie (Sopran, Alt)

Wir eilen mit schwachen, doch emsigen
Schritten,
o Jesu, o Meister, zu helfen, zu dir.
Du suchest die Kranken und Irrenden
treulich.
Ach höre, wie wir die Stimme erheben,
um Hülfe zu bitten!
Es sei uns dein gnädiges Antlitz erfreulich!

3. Rezitativ (Tenor)

Ach! ich bin ein Kind der Sünden,
ach! ich irre weit und breit.
Der Sünden Aussatz, so an mir zu finden,
verlässt mich nicht in dieser Sterblichkeit.
Mein Wille trachtet nur nach Bösen.
Der Geist zwar spricht: ach! wer wird mich erlösen?
Aber Fleisch und Blut zu zwingen
und das Gute zu vollbringen,
ist über alle meine Kraft.
Will ich den Schaden nicht verhehlen,
so kann ich nicht, wie oft ich fehle, zählen.
Drum nehm ich nun der Sünden
Schmerz und Pein
und meiner Sorgen Bürde,
so mir sonst unerträglich würde,
ich liefre sie dir, Jesu, seufzend ein.
Rechne nicht die Missetat,
die dich, Herr, erzürnet hat!

4. Arie (Tenor)

Das Blut, so meine Schuld durchstreicht,
macht mir das Herze wieder leicht
und spricht mich frei.
Ruft mich der Höllen Heer zum Streite,
so stehet Jesus mir zur Seite,
dass ich beherzt und sieghaft sei.

5. Rezitativ (Bass)

Die Wunden, Nägel, Kron und Grab, ,
die Schläge, so man dort dem Heiland gab, ,
sind ihm nunmehro Siegeszeichen,
und können mir verneute Kräfte reichen.
Wenn ein erschreckliches Gericht,
den Fluch vor die Verdammten spricht, ,
so kehrst du ihn in Segen. ,
Mich kann kein Schmerz und keine Pein bewegen, ,
weil sie mein Heiland kennt; ,
und da dein Herz vor mich in Liebe brennt, ,
so lege ich hinwieder,
das meine vor dich nieder. ,
Dies mein Herz, mit Leid vermenget, ,
so dein teures Blut besprenget, ,
so am Kreuz vergossen ist, ,
geb ich dir, Herr Jesu Christ.

6. Arie (Bass)

Nun du wirst mein Gewissen stillen,
so wider mich um Rache schreit,
ja, deine Treue wird’s erfüllen,
weil mir dein Wort die Hoffnung beut.
Wenn Christen an dich glauben,
wird sie kein Feind in Ewigkeit
aus deinen Händen rauben.

7. Choral

Herr, ich glaube, hilf mir Schwachen,
lass mich ja verzagen nicht;
du, du kannst mich stärker machen,
wenn mich Sünd und Tod anficht.
Deiner Güte will ich trauen,
bis ich fröhlich werde schauen
Dich, Herr Jesu, nach dem Streit
in der süssen Ewigkeit.

Reflexion

Rüdiger Görner

«Bekenntnisgesang»

Die Kantate «Jesu, der du meine Seele» macht die Umkehr zum Thema, das Umwenden von seelischer Krankheit in Zuversicht, von Fluch in Segen, von Wort in Klang.

Wir sind gewohnt, Worte wie Münzen umzudrehen; die Chiffren ihrer Rückseite halten wir oft für wichtiger als den durch Sprachgewohnheit ermittelten Nennwert ihrer Bedeutungen.
Aber kommt es nicht ebenso auf die Gestimmtheit der Worte an, will sagen: auf ihre Temperierung? Gestimmtheit verleiht die sich mit dem Wort verbindende Stimme; sie entlockt ihm seinen seelischen Gehalt.
Und der Mensch im Zustand der Gestimmtheit, wie verhält es sich mit ihm? Er ist eingestimmt auf etwas, mit diesem Etwas in Tuchfühlung, mehr noch: von ihm durchwirkt. Stimmung ist ein Zu- stand, eine seelisch-körperliche Verfassung, die alle wahrgenommenen Gegenstände in Zustände überführt. Der Genfer homme de lettres und Tagebuchschreiber Henri-Frédéric Amiel sprach mitten im 19. Jahrhundert von der Landschaft als einem Seelenzustand. Paul Valéry ging ein Jahrhundert später noch weiter, wenn er behauptet: «Der Satzbau ist eine Fähigkeit der Seele.» Dazwischen steht, wie so oft, Nietzsche mit der Behauptung, dass wir im sprachstabilisierenden Glauben an die Grammatik noch Reste von Gottesvertrauen zeigten. Alles dies sind Aufweise von Stimmungen: Auf eine Landschaft eingestimmt sein oder auf die Sprach-und Kommunikationsregeln, das bezeichnet einen Prozess der seelischen Anverwandlung. In solcher Gestimmtheit wird selbst das Wort zu einer Zustandsform und einem Zeichen für Befindlichkeiten.
Bachs Kantatenkompositionen vermitteln den Worten des Glaubens ihre Temperierung. Sie bestehen geradezu aus wohltemperierten musikalisierten Worten und Sprachfolgen. Sie rufen auf, aber ohne Schalmeien und Posaunen; denn sie rufen zur Besinnung – noch genauer: Sie singen sich in die Selbstbesinnung. «Jesu, sei mein Hort», diese Anrufung reimt unsere Kantate auf «Wort»: das Wort als Hort, als ein schützender, bergender Ort, wo die Seele zu sich selbst findet. Aber diese Seele weiss sich auch im Chor geborgen, mit dem dieses Aufeinanderabstimmen beginnt und zu dem die Arien und Rezitative wieder zurückführen.
«Herausgerissen» reimt auf «wissen», das meint: Drastisches muss geschehen, damit Einsicht und Erkenntnis erfolgen können, Wissen um Seelennot in der Höhle des Bösen und das Wissen um den erlösenden Opfertod. Zur inneren Dramaturgie dieser Kantate gehört, dass alle Erlösungsgewissheit im Rezitativ infrage gestellt wird. Diese beiden grossen Rezitative, das erste zumal, bestehen aus wunden Punkten. Rezitative ringen ja ohnehin um Gestimmtheit, um Stimme und Melodie; sie klingen musikalisch eher ungesichert, stehen scheinbar im Schatten der melodiösen Arien.
«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.» Diese Behauptung Friedrich Schillers trifft mitten in die Problematik geistlicher Dichtung und Kunst; denn die Seele entspricht zunächst dem nicht sprachlichen Bereich, in dem göttlicher Geist qua hauch, im Sinne des pneuma, wirkt. Der künstlerische Ausdruck jener Sphäre muss notwendigerweise das Pneumatische in eine Form sinnlicher Konkretheit überführen, die das göttliche Wehen, den rein geistigen Atem also, sich selbst entfremdet.
Kunst, und sei sie noch so vollendet, kann nach dieser betont protestantischen ikonoklastischen Sicht der Dinge nur Entstellung des Göttlichen sein. Allenfalls im Lied bleibt dieser Atem des Göttlich- Geistigen annähernd erhalten, wobei das Rezitativ, diese eigentümliche Form halben Sprechens und halben Singens, eine nicht unproblematische Zwischenstellung einnimmt. Denn im Rezitativ spricht sich – im Falle unserer Kantate – Seelennot aus und gleichzeitig versucht es sich wieder und wieder zum Gesang aufzuschwingen. Es verrät die Not der Seele und strebt zur Welt des Gesangs, um so am göttlichen Atem teilhaftig zu werden.
Friedrich Schleiermacher, der Theologe unter den Kunsttheoretikern der Romantik, die sich anschickte, Bach neu zu entdecken, sprach vom Rezitativ als einem «Wollen zum Gesang» und produktiven Zwischenbereich, als Form permanenten Übergangs vom Wort in den Gesang und vom Gesang ins Wort, ohne dass je eine Seite wirklich ganz erreicht werde.
Der Architektur und inneren Dramatik dieser siebenteiligen geistlichen Kantate vom September 1724 entsprechend geschieht nun das Entscheidende, Bewegende in diesen beiden grossen Rezitativen. Das Ich exponiert sich, ruft sich selbst wiederholt auf, benennt das Skandalon: «Ich bin ein Kind der Sünden», «Ich irre weit und breit», «Mein Wille trachtet nur nach Bösem». Diesem «Willen zum Bösen», der von einer Intensität zeugt, welche jene der «Blumen des Bösen» Baudelaires vorwegzunehmen scheint, dieser Welt des Verlockenden, Negativen hat unser Kantaten-Ich zunächst kaum etwas entgegen- zusetzen. Und es bekennt: «… das Gute zu vollbringen, / Ist über alle meine Kraft.»
Aber dieses Rezitativ ist eben auch der Ort der Selbsterforschung. Und diese gewissenhaft betriebene Erkenntnis der bisherigen eigenen Gewissenlosigkeit erweist sich schliesslich nicht nur als eine Einsicht, sondern als Kraft, die eine innere Kehre vorbereitet. Sie vollzieht sich dann im zweiten Rezitativ, welches das erste gleich- sam spiegelt.
Die Dramatik dieser Kantate besteht darin, dass sich der einsichtige Sünder zur Kehre bekennt, indem er sich rückhaltlos Jesu aus- liefert, mit Luther gesagt: «überantwortet». Das ist hier wörtlich zu verstehen: Der Sünder gibt Antworten über sich, bevor ihn ein an- derer gefragt hätte. Freilich handelt es sich dabei um Antworten auf die Fragen des eigenen Gewissens und das auf eine Art, die protestantischer nicht sein könnte. Diese Kantate feiert das Gewissen, die innere Befriedung des Menschen durch Jesus, die Heilung des see- lisch Kranken durch das Erschauen der Ewigkeit.
Was nun meint «Gewissen»? Ein inneres Wissen über die Seele, über die Beweggründe unseres nächsten Schrittes, den man etwas grosszügig «handeln» nennt, der aber auch ein von Bedenken, Skrupeln bedingter Rückschritt sein kann. «Gewissen» hat mit seelischer Gestimmtheit zu tun; es spürt und kennt das leiden an der eigenen Schwäche als einem Signum des Ichs. Aber es weiss auch um die Kraft, die von dieser Einsicht ausgeht; es ist letzte Instanz, Einheit des Ethischen und Vernünftigen, ist Herzwissen.
Auffällig ist, dass die Musik Bachs auf die komplexe seelische Verfassung dieses Kantaten-Ichs, das im Wir aufgehoben sein will, mit einer entsprechend komplexen Formenvielfalt antwortet. Viel- schichtige polyphone Variationen wechseln ab mit schlichten Choralmelodien. Das Hauptthema des ersten Teils baut sich durch viel- fache Variationen passacagliahaft auf, so als wollte die Vertonung sagen: Dieses Thema soll einen nicht mehr loslassen. In welcher seelischen Verfassung man sich auch befinde, immer soll es erkennbar bleiben. Denn zu wichtig ist die Grundaussage dieser Kantate: Die Seelennot muss einen bestimmten Grad erreicht haben, um sich aus- sprechen, aussingen zu können.
Bei allem musikalischen Formenreichtum dieser Kantate ist es je- doch nicht die musikalische Kunst, die sich «aufspielt», in den Vordergrund drängt, dominieren will und sich als Quelle der Erlösung anbietet. Im Mittelpunkt bleibt die Gestalt des Glaubens, das Ringen um Ausdruck, das ernste, äusserst konzentrierte Wechselspiel von Wort und Ton, bis es sich zu einer «fröhlichen», frohsinnigen Haltung durchringen kann.
So schlicht der Text wirkt, so vielschichtig sind seine Zusammenhänge. Diese Solokantate wurde für den 14. Sonntag nach Trinitatis geschrieben, dessen Bibelleitwort dem 17. Kapitel des Evangeliums nach Lukas entstammt, und zwar der Episode von den zehn Aussätzigen, denen Jesus zwischen Samaria und Galiläa begegnet. Sein Wort «reinigt» sie, auch wenn nur aus einem von ihnen ein wirklich Gläubiger werden sollte. Zwar ist er vom Aussatz gereinigt, aber sein neu gewonnener Glaube wird ihn zunächst erneut zum Aussenseiter machen. Unklar bleibt, was mit ihm geschieht. «Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dir geholfen.» Dieses Wort Jesu ist bei Lukas des Samariters Wegzehrung.
Das erste Rezitativ dieser Kantate reagiert auf die biblische Text- Vorlage, indem es von «der Sünden Aussatz» spricht. Geht Lukas je- doch von der physischen Seite des Leidens aus, von der Lepra, und vom Glauben als Mittel der heilung, so fragt die Kantate nach der Sünde und dem seelischen leiden, das es mit Aussatz assoziiert. Anders gesagt: Der Aussätzige ist ausgegrenzt; der an Gewissensqualen, an seelischem Aussatz aufgrund seiner Sünden leidende aber fühlt sich ausgegrenzt.
Das poetische Material dieser Kantate beruht auf einem von Jo- Hannes Rist im Jahre 1641 verfassten Kirchenlied, einem Seelentrost in der trostlosen Zeit des Dreissigjährigen Krieges. Diese Zeit ist ihrerseits «aussätzig» gewesen, weil befallen von machtpolitisch funktionalisierten konfessionellen Glaubenskämpfen.
Jenes Jahr 1641 ist jedoch auch geistesgeschichtlich von Bedeutung. Descartes hatte seine «Meditationen über die Erste Philosophie» veröffentlicht und damit eine Diskussion ausgelöst, die schliesslich zur aufklärerischen Religionskritik führen sollte. War Descartes noch von der Möglichkeit ausgegangen, dass es Erkenntnisse gebe, die von der Erfahrung unabhängig sind, wie etwa die Gotteserkenntnis, behaupteten seine Kritiker, vor allem Thomas Hobbes und Pierre Gassendi, die unbedingte Erfahrungsabhängigkeit allen Wissens und Erkennens. Gassendi kritisierte vor allem die von Descartes vertretene scharfe Trennung von Geist und Körper, ein auch für Rists Kirchenlied und Bachs Kantate, dessen Librettist unbekannt geblieben ist, wesentliches Thema; denn die Sünde, das Böse ist physisch konnotiert, wie der Ausdruck «der Sünden Aussatz» illustriert. Der heilende Glaube, jedoch auch die Musik selbst, vergeistigt diesen Zustand. Descartes entscheidend abwandelnd, behauptet diese Kantate: Ich leide, aber glaube, also bin ich.
Kann man aber bei dieser Bachschen Kantate, wie gesagt, man schreibt das Jahr 1724, in irgend einer Weise doch von einer «Erlösung durch Kunst» sprechen? Kunstreligion und Opernhaus als Kathedralenersatz, das sind doch Phänomene, die einer späteren Zeit angehörten, auch wenn sie sich unschwer auf diese glaubenskünstlerische Vorarbeit rückbeziehen lassen. unter dem Stichwort «Religion in der Musik» notierte der konfessionellem Glauben abtrünnig gewordene Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche in seinem letzten Schaffensjahr folgende These: «Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, ‹Jungfräulichkeit›, ‹Erlösung› redet da noch mit! … Daß die Musik vom Worte vom Begriffe absehen darf – oh wie sie daraus ihren Vortheil zieht, diese arglistige Heilige, die zu allem zurückführt, zurückverführt, was einst geglaubt wurde!»
Das, genau das ist die Gegenwelt zur Bachschen Kantate, die gerade nicht vom Wort absieht, keine Arglist kennt, keine Verführung und vor allem nichts «Uneingeständliches», wie Nietzsche so unnachahmlich formuliert. Denn gerade das ist diese Kantate, «eingeständlich»; sie wirkt geständig, will sagen: Sie bezeugt den Prozess des geständig werdenden Ichs.
Die wunde Seele dieser Kantate spricht, um noch einmal Schillers These aufzugreifen, aber zu verkehren, weil sie eine andere seelische Qualität erstrebt, eine pneumatisch-apostolische Erfahrung im Zustand glaubensvermittelter Gelöstheit. Es bedarf dann wiederum eines «beseelten Ohrs» (Georg Trakl), um den ganzen Gehalt dieser Kantate zu erahnen.
«Jesu, der du meine Seele» offenbart sich als ein Wort-Klang- Werk, das die Umkehr zum Thema macht, das umwenden von seelischer Krankheit in Zuversicht, von Fluch in Segen, von Wort in Klang oder in rezitativischen Anklang. Es ist eine Kehre, von der Friedrich Hölderlin sagen wird, als er in seiner die Gegenwart des Göttlichen beschwörenden Dichtung «Friedensfeier» fordert: «Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.» «Jesu, der du meine Seele» offenbart sich als ein Wort-Klang-Werk, das die Umkehr zum Thema macht, das umwenden von seelischer Krankheit in Zuversicht, von Fluch in Segen, von Wort in Klang. Das ist vor allem eine an den Dichter selbst gestellte Forderung, durch sein Schaffen dafür zu sorgen, dass der Mensch nicht ausgerechnet dann verstummen muss, wenn seine Angst in Glückserfahrung sich wendet und er sich aus- sprechen will. Kunst bietet damit sinnlich-geistige Anhalts- und orientierungspunkte im Chaos unserer zwangsläufig bruchstück- haften Welterfahrung.
Auf unsere Kantate übertragen bedeutet das: dass, wenn der Fluch sich kehrt, wir uns sprechend und singend zu fassen wissen, zu sagen, was dies für uns meint. Dass wir nicht nur ergriffen stammeln vor dem licht wie des Bildkünstlers Zubaráns heiliger Franziskus, sondern uns durch die Art unseres Ausdrucks der Hoffnung, der Gnade würdig erweisen, indem wir ergreifend sprechen und singen. So behauptet denn diese gerade in solchem Sinne urprotestantische Kantate, dass auch der Glaube ein Problem des Sichausdrückens sei, der sprachlichen Ethik, der musikalischen Beseelung des Gemeinten und des Einverleibens des Geistes, ein Phänomen, das den Leib leichtert und den Geist Schwert. Bach kam es auch in dieser Kantate darauf an, sicherzustellen, dass wir in unserer jeweiligen Zeit, die uns nie wirklich ganz gehört, von solchen (leidens- und heilungs-)Erfahrungen ein Lied singen können.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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