Es ist das Heil uns kommen her

BWV 009 // zum 6. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Traverso, Oboe d’amore, Streicher und Basso Continuo

Zu welch individuellen Lösungen Bach im Rahmen seines Choraljahrgangs in der Lage war, macht die zum 6. Sonntag nach Trinitatis 1724 komponierte Kantate «Es ist das Heil uns kommen her» auf charmante Weise deutlich.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 9

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Julia Doyle

Alt/Altus
Alex Potter

Tenor
Charles Daniels

Bass
Peter Harvey

Chor

Sopran
Mirjam Berli, Olivia Fündeling, Guro Hjemli, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Alexandra Rawohl, Damaris Rickhaus, Lea Scherer

Tenor
Daniel Issa, Achim Glatz, Sören Richter, Nicolas Savoy

Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, Daniel Pérez, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Amandine Beyer (special Guest), Plamena Nikitassova

Viola
Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe d’amore
Kerstin Kramp

Fagott
Susann Landert

Flauto Traverso/Traversflöte
Marc Hantaï

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Amandine Beyer

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.03.2014

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 7
Paul Speratus, 1523

Textdichter Nr. 2-6
unbekannter Dichter

Erste Aufführung
6. Sonntag nach Trinitatis,
20. Juli 1732 (?)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Nicht durch «Werke», Verdienste und Leistungen also, sondern «aus Gnad und lauter Güte» kommen Gnade und Rechtfertigung in diese Welt und in das getröstete Gewissen – diese kopernikanische Wende Martin Luthers macht der Eingangschor mit seiner sanften und liebreizenden Klanggestalt aus Traversflöte und Oboe d‘amore einladend hörbar. Der schwingende Dreiertakt und das leuchtende E-Dur vereinigen sich zu einem klingenden Bild der Gewissheit und Leichtigkeit einer nicht länger von Äusserlichkeiten geknechteten Gotteskindschaft.

Das folgende Bassrezitativ kommt mit seiner pessimistischen Anthropologie demgegenüber zu einem bestürzend realistischen Befund, der begreiflich macht, warum jeder auf Gesetz und Disziplin gegründete Bund an der menschlichen Schwäche scheitern muss. Mit dieser sensibel vertonten Archäologie der lutherischen Rechtfertigungslehre machen Komponist und Dichter zugleich verständlich, warum es eines von aller Leistungsökonomie befreiten Heilsangebotes bedurfte.

Die Tenorarie kommentiert diesen priesterlich-objektiv vorgetragenen Befund in subjektiver Weise, in deren geschärftem Ton noch die Tiefe der Verdammnis nachzittert, der der sündige Mensch als Protagonist dieser dramatischen Selbstanklage knapp entrann. Im Gestus einer unbarmherzig dahinjagenden Gigue und in der e-Moll-Tonalität der Matthäuspassion treibt die Violine den angesichts der unerfüllbaren Forderung schier verzweifelten Sänger vor sich her.

Das nächste Bassrezitativ schliesst an die Predigt des Satzes zwei an, indem es Christi Liebestat als für alle Menschen stellvertretende Erfüllung des Gesetzes in Erinnerung ruft. Der dadurch ermöglichte Neuanfang wird als innige Ankunft in Jesu Armen vorgeführt, die alles Seufzen in einer ariosen Schlussbewegung aufnimmt und löst.

Darauf antwortet die als Quintett für Singstimmen, Holzbläser und Continuo konzipierte Arie «Herr, du siehst statt guter Werke auf des Herzens Glaubensstärke» mit einer zugleich federnden wie kunstvollen Musik, die beispielhaft vorführt, wie das von der Anlage eines Doppelkanons verkörperte strenge Gesetz durch den belebenden Hauch der Liebe vermenschlicht wird. Wenn es eine Komposition gibt, in der sich Bachs Ideal einer kunsthaften Entfaltung der göttlichen Harmonie mit der lutherischen Rechtfertigungslehre trifft, dann ist es dieser zugleich einschmeichelnde wie tiefgründige Satz, der als Zwiegesang zugleich zeigt, dass dem innigen Herzensgespräch und dem gemeinsamen Musizieren eine unvergleichliche Kraft innewohnt. Die Reduktion der Stimmenzahl im Mittelteil unterstreicht das Wesentliche – der Höchste sieht allein den «Glauben an», Schmuck und Aufputz sind entbehrlich.

Darauf folgt mit der dritten Bassrezitation eine erneute Befragung im Ton eines seelsorgerlichen Gesprächs, die das tröstliche Evangelium als unerschöpflichen Quell des Vertrauens benennt, bevor der Schlusschoral zum festen Beharren in aller Verlassenheit und Ungewissheit aufruft. Dass Tradition und Buchstabe hier gegen das «Nein» des Herzens ins Feld geführt werden müssen, macht deutlich, welche Mühe die Einsicht in das Walten einer höheren Macht bereiten kann – denn dass Gott gerade dann und dort am Werk sei, wo man ihn am meisten vermisst, konstituiert ein ethisches paradox, das schon für Bachs Zeitgenossen schwerer aufzulösen war als jeder musikalische Trugschluss.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Diese Choralkantate nimmt nicht ausführlich auf das Evangelium des Sonntags (Matthäus 5, 20–26) Bezug, sondern folgt dem Lied «Es ist das Heil uns kommen her» von Paul Speratus, einem Zeitgenossen Luthers. Der unbekannte Bearbeiter übernahm die erste und die zwölfte Strophe wörtlich, liess die beiden letzten Strophen, welche ein gereimtes Vaterunser enthalten, weg und schuf aus dem Text der Binnenstrophen Rezitative und Arien. Bachs Kantate ist ein wahrscheinlich 1732 komponierter «Nachzügler», mit dem Bach eine Lücke in seinem Choraljahrgang von 1724 /25 schloss. Verschiedene Umbesetzungen und Nachträge belegen Wiederaufführungen nach 1740 sowie später noch durch Bachs Sohn Wilhelm Friedemann in Halle. Auffällig ist die Aufeinanderfolge dreier dem Bass übertragener Rezitative, die die Kantate wie eine um ariose Einschübe erweiterte Predigt über Luthers Rechtfertigungslehre erscheinen lässt.

1. Chor

Es ist das Heil uns kommen her
von Gnad und lauter Güte;
die Werk’ die helfen nimmermehr,
sie mögen nicht behüten;
der Glaub’ sieht Jesum Christum an,
der hat g’nug für uns all getan,
er ist der Mittler worden.

1. Chor
Im Eingangschor erklingt das Thema der Kantate: Der Mensch wird nicht aufgrund guter Werke gerechtfertigt, sondern aufgrund des Glaubens an ­Jesus Christus. Der beschwingte ¾-Takt, das leuchtende E-Dur und die prägende Dreiklangsmotivik verleihen dem Konzertsatz einen beherzten Charakter, der durch die Solostimmen Traversflöte und Oboe d’amore apart eingefärbt wird. Bach setzt der Sopranmelodie des Chores auffällig bewegliche und selbständig geführte Begleitstimmen entgegen, die sich durch motivische Geschlossenheit auszeichnen.

2. Rezitativ (Bass)

Gott gab uns ein Gesetz, doch waren wir
zu schwach,
dass wir es hätten halten können.
Wir gingen nur den Sünden nach,
kein Mensch war fromm zu nennen;
der Geist blieb an dem Fleische kleben
und wagte nicht zu widerstreben.
Wir sollten im Gesetze gehn
und dort als wie in einem Spiegel sehn,
wie unsere Natur unartig sei:
Und dennoch blieben wir dabei.
Aus eigner Kraft war niemand fähig,
der Sünden Unart zu verlassen,
er mocht auch alle Kraft zusammenfassen
.

2. Rezitativ
Das Rezitativ ist aus den Strophen 2 und 3 des Liedes geschöpft. Es handelt vom Gesetz Gottes. Die Menschen können es nicht erfüllen und wollen in seinem Spiegel auch ihre Fehler nicht erkennen. Das Rezitativ reiht in resignativem Tonfall eine Betrachtung der menschlichen Schwäche an die andere und leitet dabei unmerklich in das finster-erregte e-Moll über.

3. Arie (Tenor)

Wir waren schon zu tief gesunken,
der Abgrund schluckt uns völlig ein,
die Tiefe drohte schon den Tod,
und dennoch konnt in solcher Not
uns keine Hand behülflich sein.

3. Arie
Hier folgt der Bearbeiter nicht dem Lied von Spe­ratus, sondern schildert mit eigenen Worten noch drastischer die aussichtslose Lage des gefallenen Menschen. Die zwischen bedrohlich grollenden und bestürzend dünnen Passagen schwankende Continuolinie malt im Verein mit der markant absinkenden und beständig zerrissenen Violinstimme das Bild eines felsigen Kraterrandes, über den die Singstimme förmlich herabzustürzen scheint. Verzweiflung und Angst verbinden sich mit der Einsicht, eine verdiente Strafe zu erleiden. Dass Bach durch ein verändertes Da capo auch formal die Konvention bricht, verdeutlich die Hilflosigkeit aller menschlichen Erfahrung und des mosaischen Gesetzes.

4. Rezitativ (Bass)

Doch musste das Gesetz erfüllet werden;
deswegen kam das Heil der Erden,
des Höchsten Sohn, der hat es selbst erfüllt
und seines Vaters Zorn gestillt.
Durch sein unschuldig Sterben
liess er uns Hülf’ erwerben;
wer nun demselben traut,
wer auf sein Leiden baut,
der gehet nicht verloren.
Der Himmel ist vor den erkoren,
der wahren Glauben mit sich bringt
und fest um Jesu Armen schlingt.

4. Rezitativ
Jesus sagte, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen (Matthäus 5, 17). Wer auf die Erlösungstat Jesu vertraut, «der gehet nicht verloren» – eine tröstliche Wendung, die Bach nicht unerwartet durch den Übergang zum Arioso hervorhebt.

5. Arie (Duett Sopran, Alt)

Herr, du siehst statt guter Werke
auf des Herzens Glaubensstärke,
nur den Glauben nimmst du an.
Nur der Glaube macht gerecht,
alles andre scheint zu schlecht,
als dass es uns helfen kann.

5. Arie
Dieser Arie liegt eine Kernstelle aus dem Römerbrief zugrunde: «Gerecht wird ein Mensch durch den Glauben, unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert.» (3, 28). Das zart-beschwingte, dabei jedoch höchst kunstvolle Quartett zweier Oberstimmenpaare (Flöte/Oboe sowie Sopran/Alt) über dem Continuo erweist sich als geniale Deutung dieser Aussage. In der vom lieblichen Bläserklang und den einschmeichelnden Stimmverschlingungen verkörperten Süsse des Glaubens ist die Strenge des (kanonischen!) Gesetzes gleichsam aufgehoben, was Herz und Sinne hörbar schweben lässt. Der auf die Dreistimmigkeit konzentrierte Mittelteil schärft diesen heilbringenden Zusammenhang nochmals ein. In Friedemann Bachs Hallenser Fassung wurden beide Bläserstimmen von der Orgel ausgeführt.

6. Rezitativ (Bass)

Wenn wir die Sünd’ aus dem Gesetz erkennen,
so schlägt es das Gewissen nieder;
doch ist das unser Trost zu nennen,
dass wir im Evangelio
gleich wieder froh
und freudig werden:
dies stärket unsern Glauben wieder.
Drauf hoffen wir der Zeit,
die Gottes Gütigkeit
uns zugesaget hat,
doch aber auch aus weisem Rat
die Stunde uns verschwiegen.
Jedoch, wir lassen uns begnügen;
er weiss es, wenn es nötig ist,
und brauchet keine List an uns:
Wir dürfen auf ihn bauen
und ihm allein vertrauen.

6. Rezitativ
Es geht um die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz: Das Gesetz lässt den Menschen seine Sünde erkennen und «schlägt das Gewissen nieder», die frohe Botschaft des Evangeliums erhebt ihn und stärkt den Glauben. Leider lässt der Librettist die folgende Liedstrophe aus, der zufolge es kein rechter Glaube wäre, wenn er nicht in der Liebe tätig ist. Erst die nächste Strophe wird aufgegriffen: Auf Gottes Güte ist Verlass, auch wenn wir es nicht immer erkennen. Durch die regelmässigen Absätze und die sonore Stimmlage erhält auch dieses Rezitativ einen sehr predigthaften Tonfall.

7. Choral

Ob sich’s anliess, als wollt’ er nicht,
lass dich es nicht erschrecken,
denn wo er ist am besten mit,
da will er’s nicht entdecken;
sein Wort lass dir gewisser sein,
und ob dein Herz spräch lauter Nein,
so lass doch dir nicht grauen.

7. Choral
Die Strophe singt von der Glaubensgewissheit. Gott ist den Menschen oft in jenen Zeiten am nächsten, in denen sie sich von ihm verlassen fühlen. Der verhalten fliessende Satz zeigt die im Eingangschor kämpferisch-strahlende Melodie von einer verinnerlichten Seite. Das inwendig zweifelnde «Nein» hat Bach mit einer störrischen Vorhaltswendung eingefangen.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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