Gelobet seist du, Jesu Christ

BWV 091 // zum 1. Weihnachtstag

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Corno I+II, Timpani, Oboe I–III, Streicher und Basso continuo

Mit der am 25. Dezember 1725 erstaufgeführten Komposition «Gelobet seist du, Jesu Christ» BWV 91 legte Bach im Rahmen seines Choraljahrganges eine exemplarische Weihnachtskomposition vor. Trotz der in den umrahmenden Tutti-Chören beträchtlichen Klangentfaltung handelt es sich um eine überaus effizient geformte Kantate, deren angesichts des freudigen Festtags erstaunlich ernste Töne viel über das zeitgenössische Verständnis des Christfestes verraten.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 91

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Monika Mauch

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Peter Kooij

Chor

Sopran
Julia Schiwowa, Susanne Seitter, Alexa Vogel, Maria Weber, Mirjam Wernli Berli

Alt/Altus
Jan Börner, Francisca Näf, Antonia Frey, Alexandra Rawohl, Lea Scherer

Tenor
Clemens Flämig, Manuel Gerber, Sören Richter, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Eva Borhi, Petra Melicharek

Viola
Martina Bischof, Sarah Krone, Katya Polin

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Philipp Wagner, Ingo Müller, Ann Cathrin Collin

Fagott
Susann Landert

Corno
Olivier Picon, Thomas Müller

Timpani/Pauke
Martin Homann

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Dirk Börner

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Ludwig Stocker

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.12.2016

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Kirche St. Mangen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 6
Martin Luther (1524)

Textdichter Nr. 2-5
unbekannter Bearbeiter

Erste Aufführung
1. Weihnachtstag,
25. Dezember 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Der reichbesetzte Eingangschor kombiniert zunächst Liegetöne der Hörner und auffahrende Girlanden der Streicher und Oboen, bevor sich das gesamte Orchester in durchbrochene Fanfarenmotive stürzt. Dieser Eindruck entfesselter Gewalt würde auch zu einem Auferstehungskontext passen, beschreibt hier aber die Menschwerdung Christi als Ereignis von grundstürzender Bedeutung. In die mit militärischer Wucht um wechselnde harmonische Zentren kreisende Orchestermusik ist zeilenweise der Liedvortrag eingearbeitet, dessen rasante Koloraturen sich nur in den tänzerischen Synkopen des wie eine Verheissung verlängerten «Kyrieleis» entspannen.

Das nach e-Moll versetzte Sopranrezitativ ist ganz vom Staunen über das Wunder der Ankunft Christi durchzogen. Als könne allein der vertraute Gemeindegesang dieses Geschehen in Worte fassen, sind in den feierlichen Textvortrag Liedzeilen eingeschoben, die der an diesen Stellen ariose Generalbass mit modulierenden Vorimitationen auch motivisch in Bewegung setzt.

Die Tenorarie ist durch die Hinzufügung von drei Oboen erkennbar der Hirtenwelt zugeordnet. In einem gemessenen Dreiertakt voll weicher Punktierungen und zugleich im verschatteten a-Moll gesetzt, trägt sie den Widerspruch von elender Krippe und weltumspannender Herrlichkeit aus. Der Tenorsolist wirkt gleichsam eingepresst in seine irdische Existenz, in die im Mittelteil von weit oben das «ewge Licht» hineinleuchtet. Das Bassrezitativ meditiert im Glanz des beigefügten Streichersatzes über die Folgen der Christgeburt für den einzelnen Menschen. In der Einladung, den Schöpfer als Gast im eigenen Herzen zu empfangen, wird die Weihnachtsbotschaft zugleich individualisiert wie aktualisiert. Vor dem Hintergrund dieser unermesslichen Hoffnung wird das auf dem Weg zu Gottes Thron noch zu durchschreitende «Jammertal» in einer die gesamte Baritonlage füllenden Aufstiegsfigur gezeichnet, deren schmerzliche Halbtöne von auch für Bach ungewöhnlicher Drastik sind. Nach einer trugschlüssigen Wendung treten dabei Violine und Continuo um ganze vier Oktaven auseinander – plastischer liesse sich die Distanz von himmlischer und irdischer Sphäre kaum darstellen.

Zu ihrer Überwindung bedarf es einer kollektiven Anstrengung, die im folgenden Duett von einer über einem laufenden Bass ausgespannten Unisonostimme der Violinen geleistet wird, deren unaufhörliche Punktierungen und lapidare Kadenzformeln ein Gefühl unerbittlichen Getriebenseins evozieren. Sopran und Alt lassen hingegen aus ihrem imitierenden Beginn einen innigen Zwiegesang erwachsen, in dem der Gedanke der freiwilligen gewählten Armut wie des unausweichlichen Leidensweges Jesu mitfühlend Gestalt gewinnt. Anders, als manche Kommentatoren meinen, hat Bach die gegensätzlichen Schlüsselworte des Textes gerade nicht als musikalischen Kontrast vertont, sondern deutlich gemacht, dass für ihn beides zusammengehört: Die «Armut» ist Vorbedingung der «Himmelsschätze»; nur wenn wir Christus als leidenden Menschen annehmen, können wir auf die befreit aussingende Herrlichkeit der Engel hoffen. Daher wird auch das «menschliche Wesen» des Mittelteils in einer von Seufzern durchzogenen Figur gefasst, in der das Jammertal des Bassrezitatives wiederzukehren scheint. Offenbar bleibt es für Bach Teil der Conditio humana, leidend durch viel Trübsal zum Licht emporzustreben – dass Christus dies auf sich genommen hat, macht das Wunder der Weihnacht aus.

Im Schlusschoral wird dann in Wort und Ton des auf eine mittelalterliche Melodie zurückgehenden Lutherliedes nochmals ordentlich auf die Pauke gehauen, wobei die Hörner sich verzückte Zeilenschlüsse gestatten. Im Gestus trotziger Freude kommt das schwer errungene Vertrauen auf Gottes in der Krippe nahbar gewordene Liebestat zum Ausdruck. Nichts ist verloren, alles fängt mit diesem Kind an: Kyrieleis!

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Grundlage dieser Choralkantate ist das exakt zweihundert Jahre früher entstandene Lutherlied, das zu Bachs Zeit als Hauptlied des Tages galt. Ein unbekannter Dichter hat, wie üblich, die erste und die letzte Strophe wörtlich übernommen und die Binnenstrophen in Arien und Rezitative umgeformt. Die Kantate erklang im Frühgottesdienst in der Nikolaikirche mit einer Predigt über das Weihnachtsevangelium (Lukas 2, 1–14) von Superintendent Salomon Deyling sowie im Vespergottesdienst in der Thomaskirche mit einer Predigt zur Tagesepistel (Jesaja 9, 2–8) von Archidiakonus Johann Gottlob Carpzov.

1. Chor

Gelobet seist du, Jesu Christ,
daß du Mensch geboren bist,
von einer Jungfrau, das ist wahr,
des freuet sich der Engel Schar.
Kyrie eleis!

1. Chor
Am Anfang der Kantate steht die wörtlich übernommene erste Stro phe des Lutherliedes. Bach eröffnet die Weihnachtskantate seines grossangelegten Choraljahrgangs mit einem prachtvollen Kirchenliedchor, der durch die reiche Instrumentalbesetzung und besonders die Hörner und Pauken festlichen Glanz erhält. In den auffahrenden Tongirlanden des Orchesters mag man durchaus das Flügelschlagen der in der Kantate prominent erwähnten Engel sehen. In allem Gepränge erhält die abschliessende demütige Bitte «Kyrie eleis» einen besonderen Akzent.

2. Rezitativ und Choral (Sopran)

Der Glanz der höchsten Herrlichkeit,
das Ebenbild von Gottes Wesen,
hat in bestimmter Zeit
sich einen Wohnplatz auserlesen.
Des ewgen Vaters einigs Kind,
das ewge Licht von Licht geboren,
itzt man in der Krippe findt.
O Menschen, schauet an,
was hier der Liebe Kraft getan!
In unser armes Fleisch und Blut,
(und war denn dieses nicht verflucht, verdammt, verloren?)
verkleidet sich das ewge Gut,
so wird es ja zum Segen auserkoren.

2. Rezitativ und Choral (Sopran)
Das Rezitativ ist durch Tropierung entstanden, indem der Dichter zwischen die Zeilen des Lutherliedes entfaltende eigene Verse ein schob. Dieses von Bach gern verwendete Verfahren entfaltet in der Verbindung von Weihnachtslied und rezitativischer Anbetung besonderen Charme, zumal die bekannte Melodie gut hörbar in der Continuobegleitung zitiert wird. Dass der Textdichter die auf das menschliche Fleisch bezogene Schlüsselstelle «und war denn dieses nicht verflucht, verdammt, verloren?» wie eine Bühnenanweisung demonstrativ in Klammern setzt, betont ebenso den von der sängerischen Rezitation erwarteten szenischen Realismus wie die mit der Geburt Jesu verbundene Verabschiedung aller früheren Schuld.

3. Arie (Tenor)

Gott, dem der Erden Kreis zu klein,
den weder Welt noch Himmel fassen,
will in der engen Krippe sein.
Erscheinet uns dies ewge Licht,
so wird hinfüro Gott uns nicht
als dieses Lichtes Kinder hassen.

3. Arie
Im Unterschied zum vorausgegangenen Rezitativ mit seinen Einschüben bildet diese Arie eine gestraffte Zusammenfassung der Gedanken aus zwei Strophen des Lutherliedes. Bach komponiert dafür eine Art Polonaise, die durch die Besetzung mit drei Oboen das pastorale Kolorit der Hirtenwelt anspielt. Durch ihren kernig-eleganten Gestus, die heroische Tonlage des Tenors und die den normalen Stimmambitus und damit den Erdenkreis sprengenden Textausschläge verweist sie jedoch zugleich auf die unvergleichlich hohe Abkunft des Krippenkindes.

4. Rezitativ (Bass)

O Christenheit!
Wohlan, so mache dich bereit,
bei dir den Schöpfer zu empfangen.
Der große Gottessohn
kömmt als ein Gast zu dir gegangen.
Ach, laß dein Herz durch diese Liebe rühren;
er kömmt zu dir, um dich vor seinen Thron
durch dieses Jammertal zu führen.

4. Rezitativ
Den schlichten Worten Luthers vom Sohn Gottes, der als Gast in diese Welt gekommen ist, stellt der Dichter einen Appell an die Christenheit voraus, sich für den Empfang des himmlischen Gastes bereitzumachen. Der schimmernde Accompagnato-Streichersatz evoziert bereits die himmlische Herrlichkeit, während der harmonisch extrem geschärfte Schlussaufstieg den Gegensatz zum irdischen «Jammertal» fast schon überdeutlich macht

5. Arie (Duett Sopran, Alt)

Die Armut, so Gott auf sich nimmt,
hat uns ein ewig Heil bestimmt,

den Überfluß an Himmelsschätzen.
Sein menschlich Wesen machet euch
den Engelsherrlichkeiten gleich,
euch zu der Engel Chor zu setzen.

5. Arie
Durch Umdichtung der sechsten Strophe des Lutherliedes ist diese Arie entstanden. Bach zeichnet das mit der Christgeburt verbundene freiwillige Armwerden Gottes in einer verschachtelten Seufzerimitation der beiden Singstimmen, deren Duettbesetzung auf die Zweinatur Jesu anspielen könnte, wobei Bach dem «menschlichen Wesen» erneut die mühseligen Kreuzattribute beilegt. Über einem laufenden Continuo treibt eine punktierte Unisonostimme der Violinen den im ernsten e-Moll angesiedelten Satz mit grosser Entschlossenheit voran: Text und Musik schärfen in jeder denkbaren Weise die besondere Gnade und unverdiente Liebestat des Weihnachtswunders ein.

6. Choral

Das hat er alles uns getan,
sein groß Lieb zu zeigen an;
des freu sich alle Christenheit
und dank ihm des in Ewigkeit.
Kyrie eleis!

6. Choral
«Des freuet sich der Engel Schar» hiess es in der ersten Strophe. Beschlossen wird die Kantate mit der letzten Strophe, welche singt: «des freu sich alle Christenheit». Die Rückkehr des Bläsersatzes und vor allem die teilweise obligate zweite Hornstimme knüpfen an den grandios-festlichen Charakter des Eingangschores an.

Reflexion

Ludwig Stocker

Anwesenheit des Abwesenden

Über Bild und Skulptur und deren Annäherung an den Text der Weihnachtskantate «Gelobet seist du, Jesu Christ» (BWV 91)

Die Themen für mein Bild und meine Skulptur sind geradezu selbstverständlich. Sie stehen in Zusammenhang mit dem Fest, das wir heute mit der Weihnachtskantate von Bach und in den nächsten Tagen auch liturgisch feiern.
Das Bild verweist auf die Verkündigung an Maria, die Skulptur auf die Menschwerdung, auf Jesu Geburt und Weihnachten. Die Inkarnation ist ein geheimnisvolles Ereignis. Der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman sagt:
«Die Menschwerdung Christi ist das dunkelste aller Mysterien, das aber nach einer Figuration verlangt, weil es darin um die sichtbare Existenz des Göttlichen in der Person Jesu Christi geht».
Die Verkündigung des Engels an Maria ist vielleicht ein noch dunkleres Geheimnis, das in seiner Erzählform kraftvollen, fast mythischen Charakter aufweist. Verkündigungsdarstellungen gibt es in der Kunstgeschichte in sehr grosser Anzahl, sie spiegeln die Frömmigkeit und die Glaubensvorstellungswelt ihrer Zeit.
Darstellung von Christi Geburt, also Weihnachtdarstellungen, gibt es in noch grösserer Zahl, darunter von grossen Künstlern wie Giotto, Konrad Witz, Ghirlandaio, Tintoretto… bis zu den ungezählten Formen naiver Krippendarstellungen als Ausdruck der Volksfrömmigkeit.
Das Konzert des heutigen Abends bringt uns zum Bewusstsein, dass die Aufführung der Kantaten Bachs heute weitgehend nicht mehr in den ursprünglichen Kontext der Liturgie eingebettet sind. Die Aufführung der von tiefer Gläubigkeit getragenen Kantate ist, obwohl sie im sakralen Raum stattfindet, zu einer weitgehend weltlichen Konzertveranstaltung geworden. Dennoch behauptet sich Bachs Komposition auch im veränderten Umfeld – und zwar – wie ich meine – vor allem wegen ihrer hohen künstlerischen Qualität.
Auch mein Bild und die Skulptur sind keine kirchlichen Dauereinrichtungen mehr zur Vertiefung von Meditation, Gebet und Frömmigkeit. Sie werden nach den Festtagen wieder abgeräumt. Die Skulptur ist nicht aus Stein, sondern aus dem fragilen, gewichtslosen, ephemeren Material Polystyrol geformt. So wird geheimnisvoll Geistiges, eben Verkündigung und Inkarnation, in vergänglichen, ganz profanen Materialien dargestellt.
Wie kann ich das letztlich Unfigurierbare des Geheimnisses der Verkündigung und der Inkarnation heutzutage noch darstellen? Wie kann ich die Verkündigungsszene darstellen, die kein Mensch gesehen hat und die vollständig unserer Imagination und dem Glauben anheimgestellt ist, und wie den Engel, den Immateriellen, abbilden?
Wie können zeitgemässe Formen gefunden werden, die religiöse Themen auch für den aufgeklärten, kritischen Zeitgenossen, der vielleicht sogar Agnostiker oder Atheist ist, nachvollziehbar machen? Wo biblische Texte von aufgeklärten Zeitgenossen nicht mehr verstanden werden und der Glaube mehr und mehr verschwindet, berühren Musik, Bild und Skulptur, die ursprünglich Bezug zur Religion hatten, zunehmend auf rein ästhetischer und gemüthafter Ebene.
Ist hier die Rolle der Form angesprochen? Ich denke: ja. Denn Form und Farbe sprechen für sich. Die Autonomie des Kunstwerks, seine Losgelöstheit vom Literarischen, von erzählerischen Themen, ist ein Erfordernis, das in der Moderne ausgebaut und thematisiert wurde – zu Recht. War aber die Wirkung der reinen Form auf das Erleben eines Kunstwerks nicht immer schon unbewusste Tatsache?
Dazu zwei Beispiele: Eine altägyptische Königs- oder Götterstatue hat starke Wirkung auf den Betrachter, auch wenn er nichts weiss über deren inhaltlichen Botschaft oder deren Bedeutung. Eine Kantate von Bach hat zweifellos grosse Wirkung auf den Zuhörer, selbst wenn er den darunterliegenden Text nicht mehr versteht und oder nicht verstehen will. Auch rein instrumentale Werke, die in ihrer Tiefgründigkeit ohne Worte auskommen, wie die Goldbergvariationen oder Chaconne für Violine solo (BWV 1004), bewegen uns im Innersten. Die Wirkung eines Kunstwerks beruht sicher zu einem beträchtlichen Teil auf der Formstruktur eines Werkes.
Ein Gedankenexperiment: Welche Wirkung hätte unsere Bachkantate auf den Hörer, wenn die Gesangsstimmen durch Soloinstrumente ersetzt würden? Oder: Wie würde mein Bild wirken, wenn die darin gegenständlich dargestellten Teile durch rein abstrakte Farbkleckse ersetzt würden, also von Text und Figuration losgelöst wären? Wahrscheinlich ergäbe sich eine ganz andere Wirkung. Also ist es doch nicht ganz so, dass von inhaltlichen Teilen einer Komposition einfach abgesehen werden könnte.
Beschäftigen wir uns ganz sachlich und konkret mit der Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Am Anfang steht ein undefinierbares Fliessen durch den Kopf oder auch durch andere unbewusste Zonen: Gedanken und Gefühle, die manchmal nachts einströmen, auch Unruhe, Ängste erzeugen, und schliesslich doch wieder gefasst werden, im Wissen um die Zusammenhänge, die Gegenwärtigkeit, Gleichzeitigkeit von allem.
Es geht also um eine Bachkantate zum Weihnachtsfest und ich gedenke, passend dazu, ein Bild und eine Skulptur zu machen.

Überlegungen zum Bild – Verzicht auf Aureolen, eine Bedingung, um Zwischen­ Menschlichkeit entstehen zu lassen
Mein Anknüpfungspunkt zur Kantate war die Choralstrophe mit dem Text von Martin Luther im Eingangschor: «Gelobet seist du, Jesu Christ, / daß du Mensch geboren bist, / von einer Jungfrau, das ist wahr, / (…)»
Es galt also Erinnerungsarbeit zu leisten an ein heilsgeschichtliches Ereignis. Und ich wollte in einer erinnerungsvergessenden Zeit anknüpfen an Darstellungen religiöser Inhalte, an eine Zeit, da Kunst nicht primär Kunst, sondern Ausdruck glaubensinniger Verehrung war.
Eine tiefe Gläubigkeit prägte die mittelalterliche Kunst bis Mitte des 15. Jahrhunderts. Dann erfolgte ein Bruch. Diese Veränderung kann eindrücklich veranschaulicht werden an zwei sogenannten Kunsttraktaten, die im Abstand von nur etwa 50 Jahren verfasst wurden. Das erste stammt von Cennini, verfasst um 1390.
Es spiegelt die Kunstauffassung der Malerei des 14. Jahrhunderts. Cennini eröffnete sein Libro dell‘ Arte mit einer Anrufung Gottes, der Jungfrau Maria und der Heiligen.
Demgegenüber hat Leon Battista Alberti 50 Jahre später, als wichtiger Kunsttheoretiker seiner Zeit, seine Schrift über Malerei 1435 mit einer Hommage an die Mathematiker eingeleitet und Autonomie für den Gesichtspunkt des Malers gefordert. In diese Zeit fällt die Verkündigungsdarstellung von Piero della Francesca – um 1470 in Perugia geschaffen in einer Zeit des Umbruchs, der beginnenden Säkularisierung, in deren heftigsten Phase wir heute noch stecken.

Reflexion BWV 91 Skulptur Ludwig Stocker

Aus dem Gefühl heraus, ebenfalls in einer Zeit eines grossen Umbruchs zu stehen, habe ich aus Pieros Bild die Köpfe von Engel und Maria in meinem Bild zitiert. Die Aureolen, die im Bild Pieros noch über den Köpfen von Engel und Maria schweben, sind aber weggenommen. Die Szene wird dadurch zu einer zwischenmenschlichen Begegnung, zu einem Zwiegespräch, sie wird säkularisiert. Zitieren heisst in meinem Bild ein Fragment aus einem alten Bild zu übernehmen, weil es eine latente Seite in mir anspricht, als ob es mein Eigenes wäre. Im Wiedererkennen eines Vorgeprägten erkenne ich mich wieder. Es entsteht Gleichzeitigkeit.
So kann ich die eventuell auftauchende Frage: Hast du diese Köpfe selber gemacht mit ja und nein beantworten. Mit ja, weil ich sie im Bereich meiner Bild – Betroffenheiten gefunden und assimiliert habe. Sie wurden meine Köpfe. Nein, weil sie, so wie sie jetzt auf diesem Bild sind, von einer Xerox-Maschine, exakt nach meinen Anweisungen gemacht wurden.
Engel und Maria sind in einen neuen Zusammenhang ausgesetzt. Von einem markanten Einschub reiner Farbe (Rot, Gelb, Grün) und lichtem Weiss ins Bild geschoben, behaupten sich die Gesichter im ansonsten eher chaotischen Umfeld und werden dadurch wieder in den Bereich des Unerklärbaren zurückgeführt.
Die aus dem 15. Jahrhundert übernommenen Figurationen sind Spuren einer kulturellen Vergangenheit. Sie sind, mit den Worten des Philosophen Jean-Luc Nancy, «ein ‹Rest› oder eine ‹Reliquie›, vom religiösen Bau abgelöst, doch enthalten sie eine Forderung, die sich nicht verabschieden lässt».

Überlegungen zur Skulptur – die Entäusserung des Göttlichen als Vorausset­zung von Zuwendung
Das Sopranrezitativ in der Kantate inspirierte mich zur plastischen Darstellung. Der Beginn des Textes lautet: «Der Glanz der höchsten Herrlichkeit, / das Ebenbild von Gottes Wesen, / hat in bestimmter Zeit / sich einen Wohnplatz auserlesen.»
In der Skulptur sind zwei Bewegungen zu erkennen. Zum einen die nach oben ins Unendliche weisende, parallelverlaufende Vertikale. Zum anderen die verunsichernde, leicht abfallende Horizontale. Aus ihr ragen Dornen oder Antennen. Die Deutung bleibt dem Betrachter überlassen. Über dieser horizontalen Platte sehen wir eine Figuration in gebückter Haltung. Es ist die Haltung einer Zuwendung und beruht auf dem Gedanken der Kenosis. Das griechische Kenosis bedeutet, dass Jesus bei seiner Zuwendung zu uns, bei der Menschwerdung, seine Göttlichkeit ablegte, wortwörtlich entäusserte.
Die Skulptur ist aus bewegten plattenartigen Formen aufgebaut. Dadurch entsteht ein Volumen mit Leerräumen. Die Figur öffnet sich nach allen Seiten, auch ins Innere. Wir wissen, auf wen diese Öffnung verheissende Haltung hinweist. Sie weist auf die Inkarnation Jesu hin, die Bach in dieser wunderbaren Kantate besungen hat.

Zum Schluss: die Sehnsucht, in den Himmel vorzudringen
Ich sehe mein Bild von der Verkündigung und meine Skulptur der Kenosis als Einheit des Mysteriums von Weihnachten. Bild und Skulptur thematisieren die Anwesenheit des Abwesenden.
Ich habe dafür zwei unterschiedliche Gestaltungsweisen gewählt. Zum einen das Bild. Die Verkündigung ist eine zweidimensionale Gestaltung. Ein Bild berührt man nicht, wie ja auch der Engel bei der Verkündigung Maria nicht berührt hat. Das Geheimnis ist unfassbar. Zum andern die dreidimensionale Skulptur, die Menschwerdung. Eine Skulptur ist berührbar, sie ist haptisch, eben Menschwerdung in dieser Welt.
Was ist uns Spätgeborenen geblieben von Verkündigung und Inkarnation? Für den gläubigen Menschen vielleicht der so schwer zu verstehende Satz: «Nehmet und esset, das ist mein Leib». Geblieben ist uns auch im Zeitalter der Genmanipulation – des in weiten Tiefen erforschten Kosmos – der Aufklärung – des totgesagten Gottes, die Sehnsucht in den Himmel vorzudringen. Von dieser Sehnsucht kündet eine lange Tradition der künstlerischen Darstellungen von Verkündigung und Weihnachten, sie sind für viele von uns heute das zentrale Tor zu diesem Mysterium geblieben. Allen voran Bachs Weihnachtsmusik.

Literatur
Georges Didi-Huberman, Fra Angelico Unähnlichkeit und Figuration, Wilhelm Fink Verlag, München 1995
• Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums, Diaphanes Verlag, Berlin 2008

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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