Schwingt freudig euch empor

BWV 036 // zum 1. Advent

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe d’amore I+II, Fagott, Streicher und Continuo

Mit «Schwingt freudig euch empor!» hat Bach eine lichte Kantate vorgelegt, die in besonderer Weise für den Advent geschaffen scheint, der keine rauschende Festperiode ist, sondern eine Zeit der ernsthaften Vorbereitung darstellt, die dennoch wie von einem warmen Kerzenschein erleuchtet wird. Dieser schlüssige Gesamteindruck erstaunt insofern, als Bach dafür mehrere weltliche Vorstadien für Köthener und Leipziger Auftraggeber heranzog, um sie zunächst in eine von seinem Schüler Kirnberger überlieferte fünfsätzige geistliche Kantate zu verwandeln, die 1731 durch Aufnahme dreier Choralsätze zu einer zweiteiligen Predigtkantate ausgebaut wurde. Damit entstand eine für Bachs Reifezeit ungewöhnliche Form, die gänzlich auf Rezitative verzichtet und die durch drei unterschiedliche Strophen des Liedes «Nun komm, der Heiden Heiland!» Züge einer Choralpartita mit freien Einschüben aufweist. Etwa um 1735 muss Bach dann die Cantus-firmus-freien Sätze der Kantate für einen Vertreter der Leipziger Juristenfamilie Rivinus rückprofaniert haben («Die Freude reget sich», BWV 36b).

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 36

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Nuria Rial

Alt/Altus
Claude Eichenberger

Tenor
Johannes Kaleschke

Bass
Klaus Häger

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Jennifer Rudin

Alt/Altus
Olivia Heiniger, Antonia Frey, Corinne Grendelmeier Nipp

Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Chasper Mani, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
John Holloway (special Guest), Renate Steinmann, Christine Baumann, Silvia Gmür, Sabine Hochstrasser, Martin Korrodi

Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Luise Baumgartl, Martin Stadler

Fagott
Susann Landert

Orgel
Markus Maerkl

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Urs Widmer

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
14.12.2007

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 3, 5, 7
Umdichtung vielleicht von Christian Friedrich Henrici (Picander),
zwischen 1723 und 1726

Textdichter Nr. 2, 6, 8
Martin Luther, 1524

Textdichter Nr. 4
Philipp Nicolai, 1599

Entstehungszeit
1731

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Der Eingangschor verrät mit seiner federnd-durchsichtigen Setzart seine Herkunft aus einer weltlichen Gratulationsmusik. Auch die neue Textversion passt mit ihrem hörbaren Aufschwung hinauf «zu den erhabnen Sternen» perfekt zur musikalischen Bewegungsrichtung. Der bei aller Beschwingtheit verhaltene Gestus («Doch, haltet ein! Der Schall darf sich nicht weit entfernen») und die echoartigen Oboenpassagen machen weite Teile des Satzes zu einer komponierten Version innerer Freude.

Mit dem zugleich verinnerlichten wie ausdrucksstarken Choralduett «Nun komm, der Heiden Heiland!» wendet sich die Kantate direkt dem adventlichen Bereich zu. Die Choralmelodie wird bereits im eröffnenden Continuoritornell zitiert, das zwei Oberstimmen einführt, deren expressive Linienführung an eine Petit Motet französischer Art erinnert. Gestützt wird die feinsinnige Konstruktion von sempre piano spielenden Instrumenten, die mit Oboen d‘amore sowohl klangfarblich als auch textdeutend ideal besetzt sind.

Die kunsthafte Trioanlage der ausgedehnten Tenorarie nimmt diesen zarten Tonfall auf. Die «sanften Schritte» der göttlichen «Liebe» werden im Duett von Singstimme und Oboe d‘amore auf betörende Weise hörbar, bevor der B-Teil der Arie mit Wendungen wie dem verzückten Absinken auf «Wenn sie den Bräutigam erblicket» das Zusammentreffen von Seelenbraut und Christus als überwältigende Begegnung plausibel macht.

Der Choral «Zwingt die Saiten in Cythara!» lässt im kraftvollen vierstimmigen Gesang die Vorfreude auf das Weihnachtsfest bereits antönen. Dem mit eleganten Bassdurchgängen ausgestatteten Satz war in der geistlichen Frühfassung noch die siebente Strophe des Lutherliedes zugewiesen («Wie bin ich doch so herzlich froh»).

Der zweite Teil der Kantate beginnt mit einer aus voller Bassistenbrust gesungenen Begrüssung des ersehnten «werthen Schatzes», die von einem aufgeräumten Streichersatz getragen wird. Der stete Austausch des markanten «Willkommen»-Kopfmotivs zwischen Generalbass, Sänger und Streichern kann dabei als dialogische Geste verstanden werden. Daran schliesst sich mit «Der du bist dem Vater gleich» eine neuerliche Vertonung des Leitchorals der Kantate an, die mit einem in sich beschleunigten Dreiertakt arbeitet, in den der dem Tenor übertragene Cantus firmus eingearbeitet ist.

Die Sopranarie greift auf die Klangwelt der von der göttlichen Liebe handelnden Tenorarie des ersten Teils zurück. Die Sordino-Vorschrift der Solovioline setzt die «Dämpfung» als Reduktion des Klanges wörtlich um, was die Atmosphäre innerer Verzücktheit unterstreicht, die diesen Satz wie die gesamte Kantate zu einer Apotheose des zwar schwachen, jedoch tätig hoffenden Menschen werden lässt, dessen vom Geist verstärkte Seele nach Gott dürstet und «schreit» und der so bereit ist, den kommenden König in sein Herz einziehen zu lassen.

Ein Choralsatz über die doxologische letzte Strophe des Lutherchorals («Lob sei Gott dem Vater g’ton») beschliesst mit herber Strenge eine Kantate, die sich trotz der experimentellen Zusammenstellung durch innere Entsprechungen auszeichnet und die auch ohne dramatische Rezitative eine Geschichte erzählt, die von leiser Hoffnung und baldiger Erfüllung handelt.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Erster Teil

1. Chor

Schwingt freudig euch empor
zu den erhabnen Sternen,
ihr Zungen, die ihr itzt in Zion fröhlich seid!
Doch haltet ein!
Der Schall darf sich nicht weit entfernen,
es naht sich selbst zu euch der Herr
der Herrlichkeit.

2. Choral (Duett Sopran, Alt)

Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.

3. Arie (Tenor)

Die Liebe zieht mit sanften Schritten
sein Treugeliebtes allgemach.
Gleichwie es eine Braut entzücket,
wenn sie den Bräutigam erblicket,
so folgt ein Herz auch Jesu nach.

4. Choral

Zwingt die Saiten in Cythara
und laßt die süße Musica
ganz freudenreich erschallen,
daß ich möge mit Jesulein,
dem wunderschönen Bräutgam mein,
in steter Liebe wallen!
Singet,
springet,
jubilieret, triumphieret, dankt dem Herren!
Groß ist der König der Ehren.

Zweiter Teil

5. Arie (Bass)

Willkommen, werter Schatz!
Die Lieb und Glaube machet Platz
vor dich in meinem Herzen rein,
zieh bei mir ein!

6. Choral (Tenor)

Der du bist dem Vater gleich,
führ hinaus den Sieg im Fleisch,
daß dein ewig Gotts Gewalt
in uns das krank Fleisch enthalt.

7. Arie (Sopran)

Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
wird Gottes Majestät verehrt.
Denn schallet nur der Geist darbei,
so ist ihm solches ein Geschrei,
das er im Himmel selber hört.

8. Choral

Lob sei Gott, dem Vater ton,
Lob sei Gott, sein’m eingen Sohn,
Lob sei Gott, dem Heilgen Geist,
immer und in Ewigkeit!

Reflexion

Urs Widmer

«Vater Ton und Engelein Chor»

Am schönsten ist es, am einfachsten wäre es, vor Ihnen einfach nur begeistert von der Musik Johann Sebastian Bachs zu schwärmen, von diesem immer neuen Wunder, diesem so überwältigend reichen Werk, das wie ein Matterhorn in der musikalischen Hügellandschaft seiner Zeit steht. Bachs Musik ist längst so etwas wie der Urmeter aller Musik geworden, die DIN-Norm, an der wir alles messen, was später kam, Haydn, Mozart, Beethoven und auch noch Bartók oder Webern. An Bach wird alles gemessen, auch heute noch.
Natürlich wird es in meinen Worten zwischen den beiden Aufführungen der Kantate mit der Titelzeile «Schwingt freudig euch empor» auch ein paar Bemerkungen zur Musik geben. Ein Kantatentext lebt nicht ohne seine Musik, und die Musik dieser Kantate  ist gewiss besonders eindrucksvoll. Aber ich will hier vom Text sprechen.
Er hat drei Autoren. Einen, dessen Namen wir nicht mehr kennen und der vielleicht Christian Friedrich Henrici ist, der sich selber Picander nannte, Philipp Nicolai, dem wir das Kirchenlied «Wie schön leuchtet der Morgenstern» verdanken und der seit mehr als hundert Jahren tot war, und den berühmtesten von allen, der aller­dings schon vor fast zweihundert Jahren gestorben war: Martin Luther. Sein Choral «Nun komm, der Heiden Heiland», der so etwas wie das Rückgrat der Kantate bildet, war damals der Number-one-Choral der Protestanten – jedermann konnte ihn auswendig –, und  er ist heute noch einer der beliebtesten. Bach brauchte oder ver­brauchte für seine Kirchenkantaten viele Texter, schliesslich hat er dreihundert Kirchenkantaten geschrieben, viele in Zyklen und für einen spezifischen Kirchentag. Zweihundert von ihnen sind erhal­ten. Das war ein gewaltiges Unternehmen. In den ersten Leipziger Jahren, ab 1723 also, schuf Bach an die fünf Kantatenjahrgänge, das heisst Folgen von jeweils etwa sechzig Kantaten für alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahrs. Woche für Woche: den Text fertig stellen, eine halbe Stunde Musik komponieren, proben, zur Aufführung bringen. Das war viel, auch für einen Bach, und wir müssen anneh­men, dass keine der Aufführungen so sorgfältig einstudiert war, wie wir das heute gewohnt sind und wie wir es hier erleben. Es gibt Zeugnisse von Zeitgenossen Bachs (und von ihm selber), die uns nahelegen anzunehmen, dass vieles sozusagen prima vista gesun­gen und gespielt wurde. Da waren die Musiker und die Sänger wohl froh, wenn sie überhaupt den Ton trafen und den Text korrekt entzifferten. Für eine sorgfältige Deutung von Musik und Text hatten sie wohl kaum Zeit.
Auch unsere Kantate BWV 36 «Schwingt freudig euch empor» ist für einen besonderen Tag geschrieben worden, für den ersten Advent. Die heutige Aufführung trifft den Tag nicht punktgenau, aber annähernd. Der erste Advent ist kein schwarzer Tag im Kirchenjahr, wie etwa der Karfreitag, sondern ein freudvoller. Das prägt den Charakter des Texts und der Musik. «Nun komm, der Heiden Heiland»: Jedermann damals freute sich zusammen mit Luther, und auch Bach freute sich gewiss ohne jede Verstellung. Er war zwar nur neun Jahre älter als Voltaire, der ein – aus christlicher Sicht – frecher Freidenker wurde, und er war aufmerksam und feinfühlig genug, die frühen Signale der Aufklärung zu verspüren, die auch an den sicheren Fun­damenten der Religiosität rüttelten. Trotzdem gingen ihm gewiss Zeilen wie «Schwingt freudig euch empor, / zu den erhabnen Sternen, / ihr Zungen, die ihr jetzt in Zion fröhlich seid!» ganz natürlich von den Lippen, und auch daran zweifelte er gewiss nicht: «Es naht sich selbst zu euch der Herr der Herrlichkeit.»
Dass der Hauptteil des Textes – vom Luther-Choral und der Nicolai-Strophe einmal abgesehen – anonym ist, will nicht heissen, dass Bach den erstbesten und nächstgelegenen Text genommen hätte. Im Gegenteil, er war beständig auf der Suche nach geeigneten Texten. Er war da weitgehend sein eigener Herr, verhandelte mit  den Librettisten (auch Bach hatte ein Budget, das er nicht überzie­hen durfte) und liess auf eigene Rechnung Textbücher drucken. Aber gute Textdichter zu finden war gar nicht so einfach. Denn ers­tens brauchte Bach ja sehr viele Texte, und zweitens war die kirchli­che Herrschaft über die Dichtung seit Luther zerbrochen und der unpersönliche, also allgemein gültige und entsprechend gut repro­duzierbare sakrale Stil untergraben. Die Dichter, die Bachs und eben nicht mehr Luthers Zeitgenossen waren, schrieben keineswegs mehr bevorzugt oder gar ausschliesslich Texte, die für Kirchenzwecke un­mittelbar verwendbar gewesen wären. Ja, schon Luther war – wie Bach in der Musik – zu seiner Zeit ein ziemlich einsamer Gigant der Kirchendichtung gewesen und es weiterhin geblieben. Denn zwar stieg im 17. Jahrhundert die Zahl der dichtenden Theologen ins Unermessliche, aber all diesen schreiblustigen Pfarrherren sind – das denken die, welche sich durch diesen Textberg hindurchgefressen haben – kaum Werke von Rang zu verdanken.
Bach also fand zuweilen durchaus Texte vor, aber er liess sie oft und gern und mit geringerem oder grösserem Glück des Gelingens für seine eigenen Bedürfnisse eigens anfertigen. Sein Liebling war wohl der Leipziger Christian Friedrich Henrici, genannt Picander – dass er der Autor unserer Kantate sei, ist keineswegs gesichert –, ein begabter Dichter mit einem, aus der damaligen protestantischen Sicht, angreifbaren Lebenswandel – Wein, Weib und Gesang, so scheint es –, und es wirft nebenbei ein vielleicht unerwartetes Licht auf Bach, dass dieser sich von Picanders Eskapaden keineswegs irritieren liess, sondern, mag sein, an ihnen sogar sein Vergnügen fand. Jedenfalls blieb er Picander freundschaftlich verbunden, auch wenn ihm die gute Gesellschaft Leipzigs mit zunehmendem Misstrauen begegnete. Das macht uns auf Bachs Unangepasstheit aufmerksam – einer wie er war kein Fürstenlakei und kein Kirchenlamm –, nein, es war ganz unvermeidlich, dass er sich an seiner Umgebung immer wieder rieb. Wir Nachgeborenen übersehen das nur immer wieder, weil Bach weder in aufgeklärten noch revolutionären Zeiten lebte. Die Macht der absolutistisch regierenden Herren war immer noch  so intakt, dass man einen Posten, den man innehatte, nicht einmal kündigen durfte. Man war zu seinem Beruf verurteilt, auch wenn man ihn nicht mehr oder – was Bachs Fall wurde – gern woanders ausüben wollte. Tatsächlich wurde Bach 1717 einen Monat lang in­haftiert, weil er nach Köthen gehen wollte, und danach, als er un­beugsam blieb, ungnädig entlassen. In den Weimarer Hofakten heisst es dazu: «Eod. d. 6. Nov. ist der bisherige Concert­-Meister und Hof­-Organist Bach wegen seiner halsstarrigen Bezeügung und zu erzwin­gender Demission auf der Landrichter Stube arretieret und endlich den 2. Dezember darauf mit angezeigter Ungnade Ihme die dimission durch den Hofsecretarius angedeutet und zugleich des Arrests befreyet worden.» Dem Waldhornisten Adam Andreas Reichardt aus Bachs Weimarer Orchester erging es noch schlechter: Immer wenn er um seine Ent­lassung einkam, wurde er zu einhundert Schlägen und Gefängnis verurteilt. Nachdem er – was sehr verständlich ist – sich heimlich aus dem Staub gemacht hatte, wurde er für vogelfrei erklärt und in effigie gehängt. Bach, immerhin, machte einigermassen legal Karriere. Auch wenn seine Dienstherren allesamt nicht wussten, was sie an ihm hatten – den grössten Musiker seiner Zeit, im Wettstreit mit dem fernen Händel, der den Engländern gehörte –, wurde sein Kön­nen nicht ignoriert. Schliesslich war er und galt er auch als der bedeutendste Orgelvirtuose seiner Zeit, vermochte jeden Konkurrenten an die Wand zu spielen und tat dies auch zuweilen. Bach gehörte zu denen – wie Vivaldi im fernen Venedig –, die fast wie die Jazzmusiker heute ohne Mühe zu improvisieren imstande waren. Eine harmonische Vorgabe genügte ihm, und er legte los.
Ihm – und seiner ganzen Zeit – war eine offen psychologisierende Vertonung einer Textvorlage fremd, auch wenn er einem Wort des Schmerzes durchaus einen individuellen schmerzvollen Klang bei­ gesellen konnte. Aber er hatte, ganz in den Gewohnheiten seiner Epoche, keine Probleme damit, die verschiedensten Texte für dasselbe Musikstück zu verwenden. Auch unsere Kantate «Schwingt freudig euch empor» ist eine sogenannte Parodie. Eine Parodie nicht etwa im heutigen Sinn, also keine Verballhornung, und der Begriff hatte auch nichts Abwertendes. Er bedeutete einfach, dass der Kom­ponist für eine schon bestehende Musik einen neuen Text einsetzte. Die Kantate BWV 36 ist zu einem grossen Teil eine solche Parodie, denn es gab sie schon zuvor – bereits 1725 – mit einem weltlichen Text, der mit dem ersten Advent nichts zu tun hatte. Sie war eine Geburtstagskantate für einen Lehrer, deren Text, obwohl durch und durch weltlich, dem Sinn und Geist der Kirchenkantate nicht allzu fern ist. Beziehungsweise umgekehrt, auch der Kirchentext ist, dem Anlass entsprechend, freudvoll und heiter, denn schliesslich freut auch er sich auf einen Geburtstag, jenen in Bethlehem. In der Folge­ Zeit verwendete Bach die Kantate gleich mehrmals, so zum Geburts­tag der Fürstin Charlotte Friederike Wilhelmine zu Anhalt-Köthen (1726), dann auch zu Ehren eines Mitglieds der Leipziger Juristenfa­milie Rivinus, und endlich eben als Kirchenkantate zum 1. Advent. Immer die gleiche Musik, beinah. Denn in der Fassung mit dem Text, den wir heute hören, musste Bach Teile der ersten Fassung dann doch als zu äusserlich empfunden haben und formte sie um. Trotzdem ist die Nähe zur ursprünglichen Geburtstagskantate nicht zu überhören.
So ein Vorgehen war nicht nur effiziente Zweitverwertung – das gewiss auch –, sondern bewahrte auch Schönes davor, ein einziges Mal nur von einer Handvoll Geburtstagsgästen gehört worden zu sein. Nun erklang es nochmals, an einem guten Ort und vor einem Publikum, das sich, über den kirchlichen Gebrauchswert hinaus, von der Schönheit der damals ja noch ungewöhnlichen Musik Bachs ergreifen liess. Bach war eben für seine Zeitgenossen, besonders für die unbedarfteren unter ihnen, nicht, noch nicht das Mass aller Dinge, sondern irritierte im Gegenteil all die, die am bisher Ge­wohnten festhalten wollten. Er war unendlich viel kraftvoller, lei­denschaftlicher, sinnlicher als die Kirchenmusiker um ihn herum, gar als sein Vorgänger, Johann Kuhnau, der seine Kirchenschäfchen nie mit ungewohnten oder heftigen Kompositionen überrascht hatte. Bachs Musik erschreckte vor allem die orthodox-protestanti­schen Mitglieder des Rats, die seine Arbeitgeber waren. Sie fürchte­ten das Opernhafte, Dramatische, Lebensvolle wie der Teufel das Weihwasser. Dass Musik – und die für sie verwendeten Texte – auch Freude auslösen konnten, war ihrem strengen Glaubensverständnis zuwider, so sehr übrigens, dass Bach der vielleicht einzige Komponist der Geschichte wurde, der sich in seinem Vertrag verpflichten musste, keine allzu gute Musik zu schreiben. Der Anstellungsver­trag hält Bach an, «zu Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen die Music dergestalt einzurichten, dass sie nicht zu lang währen, auch also beschaffen sein möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.»
Wie wir wissen, hat sich Bach nicht daran gehalten. Er war zu sehr Theatraliker und Melodiker, dass er dem Gebot, in seinen Texten, in der Musik gar auf alles Sinnliche zu verzichten, hätte folgen können oder wollen. Gerade unsere Kantate ist ein Beispiel dafür. Sie stammt aus dem Jahr 1731, aus Bachs reifen Jahren also. «Schwingt freudig euch empor zu den erhabnen Sternen»: das sind ihre ersten Worte. Und so geht sie weiter: «ihr Zungen, die ihr jetzt in Zion fröhlich seid! / Doch haltet ein! / Der Schall darf sich nicht entfernen, / es naht sich selbst zu euch der Herr der Herrlichkeit.»
In der Geburtstagskantate für den Herrn Rivinus liest sich das, zur gleichen Musik, so: «Die Freude reget sich, erhebt die muntern Töne, / denn dieser schöne Tag lässt keinen ruhig sein. / Verfolgt den Trieb, nur fort, ihr treuen Musensöhne, / und liefert jetzt den Zoll in frommen Wünschen ein!»
Das ist natürlich nicht das Gleiche. Zwischen der kommenden Geburt Christi und der stattgehabten Geburt des Juristen Rivinus gibt es ja durchaus bedeutende Unterschiede. Dennoch: Auch in der Kir­chenkantate dominiert von Anfang bis Ende ein Ton uneingeschränkter Freude. Ja, gleich schon in der Arie des Tenors wird der Text ziemlich weltlich, offen sinnlich, um es genauer zu sagen. Es ist von der Liebe die Rede, und: «Gleichwie es eine Braut entzücket, / wenn sie den Bräutigam erblicket, / so folgt ein Herz auch Jesu nach.» Und schon sind wir – obwohl in einer Kirchenkantate! – mitten im schönsten Hochzeitsfest: «Zwingt die Saiten in Cythara / und lasst die süsse Musica / ganz freudenreich erschallen, / dass ich möge mit Jesulein, dem wunderschönen Bräutgam mein, / in steter Liebe wallen!» So spricht eine verliebte Braut, auch wenn sie hier eine Männerstimme hat, so sollen wir alle empfinden, wir Zuhörerinnen und Zuhörer sollen alle in Liebe wallen, und zwar «mit Jesulein, dem wunderschönen Bräut­gam», wie es im Text heisst. Der Diminutiv und das noch sehr jugendliche Alter des Bräutigams – wir stehen vier Wochen vor seiner Geburt – machen das Wallen unserer Liebe allerdings einigermassen unschuldig. Ganz verschwindet die erotische Konnotation nicht aus dem Text. Der Ton sinnlicher Freude wird bis zum Schluss, bis kurz vor dem Schluss, beibehalten. «Willkommen, werter Schatz!» wird der kommende Heiland begrüsst. «Zieh bei mir ein!» Die Musik unterstreicht die Lust des Texts. Allerdings will ich Ihnen mein Gefühl nicht unterschlagen, dass die Texte der Kantate auch nicht annä­hernd die Höhe ihrer Vertonung erreichen. Als in der protestanti­schen Kirche – nach Luther, nach Gerhardt, nach Gellert – die dich­terische Kraft längst erloschen war, erlebte sie – wir sind heute die späten Ohrenzeugen – in der Musik erst ihren Höhepunkt. Bachs Musik ragt, wie dies ein grosser Kenner der Dichtung jener Zeit, Walter Muschg, formuliert, «wie eine Pyramide in die moderne Zeit und gibt ihr einen Begriff davon, welcher Art die Kunst ist, die für den Gottes­ dienst geschaffen wird». Erst ganz am Ende nimmt Bach den weltli­chen Ton wieder zurück. Er setzt Luthers berühmte Verse an den Schluss: «Lob sei Gott dem Vater ‚ton, / Lob sei Gott sein’m eingen Sohn, / Lob sei Gott dem Heilgen Geist, / immer und in Ewigkeit!» Mich rührt die sichere Frömmigkeit Luthers – ich lebe in andern Zeiten, mich hat die sichere Frömmigkeit verlassen‚ aber ich frage mich bei der Zeile «Lob sei Gott dem Vater ‚ton» dennoch jedesmal, warum der Vater «Ton» heisst. Ich dachte, er heisst Gott. Es ist wohl wie mit je­ner Zeile in dem schönen Weihnachtslied, die «Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor» lautet. Ich nahm schon und gerade als Kind immer an, dass der Engelein, der da hoch oben schwebt, eben Chor heisst, der Engelein Chor, ungewöhnlicher Name, aber bei En­geln ist ja nicht alles wie bei uns. Umso mehr bei Gott Vater. Mögen uns also Vater Ton und Engelein Chor sicher durch die dunkle Vor­weihnachtszeit geleiten, in die diese Kantate so viel Licht bringt.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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