Wer da gläubet und getauft wird

BWV 037 // zu Himmelfahrt

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe d’amore I+II, Streicher und Basso continuo

Die 1724 komponierte Himmelfahrtskantate BWV 37 schlägt gegenüber anderen Musiken zu diesem Festanlass verhaltenere Töne an, die jedoch die Verheissung der abschliessenden Zusagen Jesu besonders gut zur Wirkung bringen. Dementsprechend sind beginnend mit dem Eingangschor ihre Sätze rhetorisch sehr plastisch ausgearbeitet. Die Betonung des individuellen Bekenntnisses macht die zentrale Platzierung des verzierten Choralduetts «Herr Gott Vater, mein starker Held» zu einer ungewöhnlichen, aber schlüssigen Entscheidung. Es ist insofern weniger der unerreichbare Heiland, sondern der allen zugängliche Glaube, der in der Bassarie hörbar Flügel verleiht und so neues Leben verspricht – eine von Bach schnörkellos und doch unnachahmlich einladend vertonte Botschaft.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Matthias Helm

Chor

Sopran
Lia Andres, Simone Schwark, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Stephanie Pfeffer, Jennifer Ribeiro Rudin

Alt
Antonia Frey, Francisca Näf, Lea Pfister-Scherer, Jan Thomer, Sarah Widmer

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Tobias Mäthger, Sören Richter

Bass
Jean-Christophe Groffe, Valentin Parli, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Lenka Torgersen, Ildikó Sajgó, Christine Baumann, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Judith von der Goltz

Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Sarah Mühlethaler

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Oboe d’amore
Katharina Arfken, Ingo Müller

Fagott
Giovanni Battista Graziadio

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referentin
Heidi Eisenhut

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.05.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Komponist Choralzwischenspiele 6. Choral «Den Glauben mir verleihe»
Nicola Cumer

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
18. Mai 1724, Leipzig

Textdichter
Markus 16,16 (Satz 1); Philipp Nicolai (Satz 3); Johann Kolrose (Satz 6); Unbekannt (Sätze 2, 4, 5)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate «Wer da gläubet und getauft wird» war 1724 Bachs erste Leipziger Himmelfahrtskomposition; 1731 führte er das von einem unbekannten Librettisten getextete Werk anlässlich dieses Festtages erneut auf.

Der ein Wort des Markusevangeliums vertonende Eingangschor ist nicht sonderlich lang, doch von federnder Energie erfüllt. Bereits die sprechende Melodik des von Streichern und zwei Oboen d‘amore bestrittenen Orchestervorspiels führt nicht allein den gestischen Aufschwung «Wer da gläubet» ein, sondern zitiert womöglich verdeckt noch die Liedzeile «Dies sind die heilgen zehn Gebot» und nimmt so im Sinne des einheitsbetonten Bibelverständnisses der Zeit das mosaische Gesetz in Jesu Neuen Bund hinein. Im hell umarmenden A-Dur wird aus Glaube und Taufe ein bei aller Ernsthaftigkeit seligmachendes Geschehen, zu dem auf freundlichste Weise eingeladen wird. Dass selbst Bachs alle Konventionen sprengende Vertonungskunst in einem kirchenmusikalischen Generationsprojekt wurzelte, das von Meistern wie Telemann, Graupner und Stölzel geteilt und mitentwickelt wurde, macht dieser Satz wie wenige andere Kantatenchöre Bachs erahnbar.

Dass der folgenden Arie bei überlieferungsgetreuer Darbietung allein mit Tenor und Continuo einiges an Glanz fehlt, haben Forscher und Publizisten schon lange bemerkt. Zwar ist bereits die Vokalkantilene mit ihrer Einheit von Schmelz und Festigkeit zweifellos geeignet, die vom Text ausgesprochene Verbindung von Glaube und Liebe zu unterstreichen. Mit der angesichts unvollständig erhaltener Originalstimmen plausiblen Annahme des Verlustes mindestens einer obligaten Partie lassen sich jedoch gewisse Unselbständigkeiten insbesondere der Generalbasslinie sowohl erklären als auch nachschöpfend korrigieren; die hier eingespielte und von Masato Suzuki stammende Ergänzung einer Violinstimme stellen wir diesbezüglich zur Diskussion.

Mangelnde Energie kann man jedenfalls dem Beginn des folgenden Satzes nicht unterstellen, der sich als über dem Continuo frei imitierend geführte Choralbearbeitung von Sopran und Alt erweist. In dieser zunehmend verzückten Zweistimmigkeit finden sich sowohl die Vater- und Sohn-Natur des aufgefahrenen Gottes als auch die in der Liedstrophe Philipp Nicolais aufscheinende Braut- Bräutigam-Beziehung zwischen Jesus und der gläubigen Seele kongenial umgesetzt.

Nach so viel Christseligkeit klopft das folgende Bassrezitativ nochmals die Säulen der lutherischen Lehre fest, indem es sich entschieden von der Heilswirksamkeit «guter Werke» distanziert und stattdessen alles Gewicht auf den Glauben als Grund aller Rechtfertigung vor Gott legt. Gerade angesichts der majestätisch schimmernden Streicherbegleitung nimmt die eingangs gestellte Frage, ob und wie man es als Sterblicher wagen könnte, «das Antlitz Gottes anzuschauen», durchaus den Charakter einer Warnung an.

Die folgende Arie löst weder diese Fallhöhe auf noch nimmt sie der Fragestellung ihren Ernst. Sie spendet jedoch die nötige Kraft, um die Forderung nach Taufe und Treue als lebensspendendes Angebot für sich selbst anzunehmen. «Der Glaube schafft der Seele Flügel» – nicht im lichten Dur, aber mit kantigen Rhythmen und bildhaften Aufschwüngen macht die Musik Mut, das Gnadensiegel Jesu durch alle Anfechtung hindurch zu bewahren.

Johann Kolroses Choralstrophe «Den Glauben mir verleihe» fungiert als erstaunlich inhaltsreicher Abschluss einer Kantate, die zuweilen als für ein Hochfest zu wenig repräsentativ beschrieben wurde, die aber ganz viel vom Menschen, seinem Platz in Welt und Schöpfung und dem schwierigen Weg zu wahrer Empathie gegenüber sich selbst und dem Nächsten erzählt. Wie man den versteckten Feinheiten selbst dieses scheinbar schlichten Kantionalsatzes entnehmen kann, hat zumindest Bach dieser Vorlage einiges abgewinnen können.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

«Wer da gläubet und getauft wird, der wird selig werden.»

 

1. Chor

Für den Eingangschor hat der unbekannte Librettist aus dem Evangelium des Himmelfahrtstages (Markus 16, 14–20, das den Missions- und Taufbefehl sowie die Himmelfahrt umfasst) nur den einen Vers 16 ausgewählt, welcher der ganzen Kantate den Namen und ihr Thema gibt. Der Himmelfahrtsbericht des Markustextes wie auch jener der Epistel (Apostelgeschichte 1, 1–11) werden in der Kantate nicht aufgenommen. Bachs elegant fliessende Spruchvertonung kombiniert eine markante Eröffnungsgeste mit Quartaufsprung mit einem sanft herabsinkenden Motiv, sodass sowohl die strenge Forderung als auch die Süssigkeit des Evangeliums pr.sent sind. Später tritt eine aus der Instrumentaleinleitung übernommene Motivvariante hinzu, deren raschen Tonrepetitionen man den Motivkern des Liedes «Dies sind die heilgen zehn Gebot» und damit die für Luther so wichtige Einbeziehung des alttestamentarischen Gesetzes in die christliche Verkündigung ablauschen könnte.

2. Arie — Tenor

Der Glaube ist das Pfand der Liebe,
die Jesus für die Seinen hegt.
Drum hat er bloß aus Liebestriebe,
da er ins Lebensbuch mich schriebe,
mir dieses Kleinod beigelegt.

2. Arie — Tenor

In der Tenorarie wird der Glaube als Pfand der Liebe Jesu zu den Seinen besungen und als Kleinod bezeichnet, das bei Einschreibung ins Buch des Lebens beigelegt werde. Dass die quellenmässig überlieferte Form als Duett nur von Tenor und Continuo nicht der Bach‘schen Konzeption entsprach, wurde bereits 1960 vom Herausgeber Alfred Dürr vermutet. Allzu lapidar wirken angesichts der ausgedehnten Ritornellpassagen die knappen Continuoformeln. Der energisch deklamierenden Singstimme tritt darum eine rekonstruierte Violinpartie zur Seite.

3. Choral — Duett: Sopran, Alt

Herr Gott Vater, mein starker Held!
du hast mich ewig vor der Welt
in deinem Sohn geliebet.
Dein Sohn hat mich ihm selbst vertraut,
er ist mein Schatz, ich bin sein’ Braut,
sehr hoch in ihm erfreuet.
Eia, eia!
Himmlisch Leben wird er geben mir dort oben;
ewig soll mein Herz ihn loben.

3. Choral — Duett: Sopran, Alt

Beim Sopran-/Alt-Duett handelt es sich um die integrale 5. Strophe des Liedes «Wie schön leuchtet der Morgenstern» von Philipp Nicolai aus dem Jahr 1599. Inhaltlich ist es ein Dankgebet in der Sprache der damaligen auf die Kirche und den Himmel bezogenen Liebesmystik. Die hymnisch verzierte Kanonanlage der beiden Singstimmen wird durch eine bewegliche Generalbassstimme begleitet, die die Kerntöne der Liedmelodie umspielt.

4. Rezitativ — Bass

Ihr Sterblichen, verlanget ihr
mit mir
das Antlitz Gottes anzuschauen?
So dürft ihr nicht auf gute Werke bauen;
denn ob sich wohl ein Christ
muß in den guten Werken üben,
weil es der ernste Wille Gottes ist,
so macht der Glaube doch allein,
daß wir vor Gott gerecht und selig sein.

4. Rezitativ — Bass

Das als Accompagnato ausgestaltete Bassrezitativ betont die paulinische und lutherische Lehre, dass Werke (und das heisst: fromme Übungen und gute Taten) nicht zur Rechtfertigung und zum Heil führen, dass sie dennoch für das Glaubensleben und die Ethik eine wichtige Rolle spielen.

5. Arie — Bass

Der Glaube schafft der Seele Flügel,
daß sie sich in den Himmel schwingt,
die Taufe ist das Gnadensiegel,
das uns den Segen Gottes bringt;
und daher heißt ein selger Christ,
wer gläubet und getaufet ist.

5. Arie — Bass

In der Bassarie wird die Thematik weitergeführt und mit Bildern und Sätzen der Tauftheologie vertieft: Der Glaube schaffe der Seele Flügel, die Taufe sei das «Gnadensiegel», und so wird der Leitsatz des Evangeliums aus Markus 16, 16 nochmals zusammengefasst. Das Schlüsselwort «Glaube» verbindet beide Arien der Kantate; der Duktus ist hier aber trotz reicherer Besetzung schroffer und im Wechsel knapper Tutti-Einwürfe und verzückter Fortspinnungen kämpferisch befreit. Die im Mittelteil textlich bereits geleistete Abrundung durch den neuerlichen Verweis auf Glauben und Taufe ermöglicht den Verzicht auf ein ausgedehntes Dacapo.

6. Choral

Den Glauben mir verleihe
an dein’ Sohn, Jesum Christ, mein Sünd mir auch
verzeihe allhier zu dieser Frist.
Du wirst mir nicht versagen, was du verheißen hast,
daß er mein Sünd tu tragen und lös mich von der Last.

6. Choral

Der abschliessende Choral fasst die tragende Gewissheit zusammen in einem Gebet, das der 4. Strophe des Liedes «Ich dank dir, lieber Herre» Johann Kolroses aus der Zeit um 1535 entspricht.

Reflexion

Heidi Eisenhut

BWV 37 | Wer da gläubet und getauft wird

Letzten Sonntag vor 45 Jahren bin ich in der evangelisch-reformierten Kirche Rehetobel getauft worden. Als ich dieses Datum jüngst im Fotoalbum, das meine Mutter liebevoll gestaltet hatte, aufspürte, verstummte ich ob der wiederentdeckten beiden Seiten, die meiner Taufe in Wort und Bild gewidmet sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, falls Sie, wie ich, als Kleinkind getauft worden sind: Kennen Sie Ihren Tauftag? Und wenn ja, was bedeutet er Ihnen? Was bedeutet Ihnen Ihre Taufe?

Ich schwieg die beiden Seiten im Album durchweg unbeholfen an. Was bedeutet mir meine Taufe? Sorgfältig öffnete ich den Briefumschlag, der ins Album eingeklebt ist und in einer altertümlichen Schrift meinen Namen trägt. Darin steckte das Taufbüchlein, das Gebete und Texte zur Taufe versammelt. Auf der ersten Seite stiess ich auf meinen Taufschein, unterzeichnet von «J. Zolliker Pfr.», besiegelt durch einen Stempel des evangelischen Pfarramts. Johann Jakob Zolliker war von 1949 bis Ende Mai 1976 Pfarrer in Rehetobel. Meine Taufe war vermutlich seine letzte im Amt. Mich fasziniert der Gedanke, von einem Johann getauft worden zu sein. Auch wenn sich dieser Johann nach seinem zweiten Namen Jakob rufen liess. «Jakob», so heisst auch mein Vater und so hiess mein Grossvater väterlicherseits, bevor dann vom Urgrossvater zurück bis zum Urururururgrossvater alle den Namen Johannes trugen. Jakob bedeutet «Fersenhalter» oder «(Gott) beschützt / beschütze», Johannes heisst übersetzt «Gott ist gnädig» oder «Gott ist gütig».

Ich hatte das Taufbüchlein neben das Album gelegt, während ich den beiden Namen und deren Bedeutungen nachhing und mich meine Gedanken zur Frage lotsten, was die Menschen über die Jahrhunderte daran glauben lässt, dass Gott sie beschützt und gnädig ist. Dabei streifte mein Blick die beiden Fotos unten auf der ersten Albumseite, auf denen ich, eingewickelt in ein weisses Taufkleid, geliebt und behütet, einmal mit meinen Paten und einmal mit meinen Eltern abgebildet bin. Zwischen die Fotos hatte meine Mutter in schöner Handschrift den vom Pfarrer ausgewählten Taufspruch aus dem Buch Jesaja eingetragen: «Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.» (Jes. 54, 10) Gott wird immer gnädig sein, auch wenn das häufig nicht sofort erkennbar ist, verspricht dieser Satz, der historisch der Zeit des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr. zugeordnet wird. Das Grundvertrauen, dass Gott mitwirkt, dass ich hoffen darf, dass alles einen Sinn hat und letztlich Gerechtigkeit, Frieden und Liebe obsiegen, war und ist für viele Menschen Trost und Licht. Das kann befreiend sein! «Der Glaube schafft der Seele Flügel, | Dass sie sich in den Himmel schwingt» heisst es in unserer Kantate zu Christi Himmelfahrt. Die Taufe sei das «Gnadensiegel», das Privileg, den Glauben als «Pfand der Liebe» anzunehmen und durch ihn das eigene Leben zu gestalten und ewiges Leben zu erlangen.

Ich hob noch einmal mein Taufbüchlein auf, um seinem Inhalt eine zweite Chance zu geben, aber ich kam nicht bis zu den Texten. Ich hatte die Titelvignette entdeckt, eine Illustration von Konrad Grimmer (1915–1950) aus den 1940er-Jahren (Abb. 1). Sie zeigt ein Wolkenband, aus dem herab sich der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf einen mit Wasser gefüllten kelchartigen Taufstein stürzt. Das Wasser im Becken ist nicht ruhig, sondern gewellt, wie von unsichtbarer Hand bewegt.

Ich musste nicht lange überlegen, wo mir diese Darstellung in ähnlicher Form schon begegnet war. Ich musste nur die Augen schliessen – und ich möchte Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, dazu einladen, mich zu begleiten auf eine kleine Exkursion, die uns zunächst ins Kloster St. Johann in Müstair im Münstertal, im östlichsten Zipfel der Schweiz, führt und dann via Italien zurück in die Ostschweiz, in die Kirche Trogen.

Es war ein Sonntagmorgen im Juli 2019. Seit Jahren hatte ich wieder einmal in Müstair übernachtet, wenige Meter vom Kloster St. Johann entfernt. Der erwachende Tag lockte mich zur Klosterkirche, einem Ort, den ich mag, seit ich ihn kenne. Ich hatte Zeit. Eine Benediktinerin betete leise neben der Statue Karls des Grossen, des legendären Klostergründers. Sie bemerkte mich nicht, und ich achtete behutsam darauf, dass ich sie nicht störte. Ich setzte mich in eine der vorderen Bankreihen auf der linken Seite des Kirchenschiffs. Von dort aus hatte ich den Blick frei auf die Nordwand, in der mich nur etwas interessierte: die darin eingemauerte romanische Stuckplatte mit der Darstellung der Taufe Jesu (Abb. 2).

Lange überlegte ich mir, was mich an diesem 1000-jährigen Stuckrelief so fasziniert. Ich glaube, es ist mein Staunen darüber, dass seine Formvollendung in durchaus eigenständiger Interpretation des Motivs über die Jahrhunderte hinweg Zuversicht auszustrahlen vermag. Jesus Christus steht frontal im wellenartig aufgetürmten Wasser des Jordans. Im Zentrum der Darstellung ruht sein Nabel, der als Auge gestaltet ist. Seine richtigen Augen sind wach und rund, sein Gesichtsausdruck einladend freundlich. Die Taufe durch Johannes wurde bereits vollzogen. Der Heilige Geist in Gestalt einer aus einem Wolkenvorhang herabstürzenden Taube und die offene Linke über dem Herzen deuten darauf hin, dass Christus den Segen Gottes empfängt (Markus 1, 9–11) und mit seiner Rechten im Namen der Trinität Johannes weitergibt, der ihn in demütiger Haltung mit geöffneten Händen annimmt. Auf der anderen Seite des Jordans wartet ein Engel mit dem Gewand des Herrn, denn Christus würde im nächsten Augenblick aus dem Wasser steigen. Diese eindrückliche Momentaufnahme lässt den Schnabel der Taube mit Christi Scheitel und Nabel zu einer Linie verschmelzen, die im breiten Wellenberg wurzelt und Himmel und Erde miteinander verbindet. Zwei Säulen flankieren die Komposition, die ursprünglich bemalt war. Sie festigen die Ruhe und Beständigkeit, die das Gefüge ausstrahlt – trotz der Dynamik, die im Empfangen und Weitergeben des Segens steckt.

Die Darstellung der Taufe Jesu ist als Motiv seit über 1600 Jahren in der christlichen Ikonographie bekannt. Als Mosaik in Kuppeln von Baptisterien, als Relief auf Taufbecken und Gefässen, als Gemälde, Buchillustration oder Intarsienarbeit legt sie eine Erzählspur durch die Jahrhunderte, die mich angesichts unserer schnell- und kurzlebigen, bilder- und reizreichen Zeit gedankenversunken auf der Kirchenbank verharren liess. Die selbstbewusste Darstellung Christi als Mitte und Mittler gehört zu den Nuancen, die das Taufrelief von Müstair zumindest für mich zu etwas ganz Besonderem macht, über das ich auch weiterhin Informationen sammeln und reflektieren möchte.

Mit solchen Gedanken verliess ich den wunderbaren Ort. Die kleine Reisegruppe, zu der ich gehörte, setzte die Fahrt nach Italien fort. Die Frage nach der Taufe rückte in den Hintergrund. Anderes war wichtiger, bis eine gute Woche später, auf der Autostrada zwischen Livorno und Genua, die Ausfahrt «Carrara» mich augenblicklich zur Taufe zurückrief. Diesmal nicht in ein Kloster in den Bergen, sondern in eine – in unsere – Kirche in den Hügeln. Auslöser war erneut ein Johann: der Textilkaufmann Johannes Zellweger-Hirzel (1730–1802). Er liess um 1781 in Genua für die neu entstehende Kirche seines Heimatorts Trogen einen Taufstein aus carrarischem Marmor herstellen und über die Alpen transportieren (Abb. 3).

Das Kleinod hat ein kreisrundes Taufbecken, das auf einem Schaft in Kandelabergestalt sitzt, umrankt von Akanthusblättern. Ein kunstvoll geschmiedetes achteckiges (!) Gitter bietet Schutz. Und allen, die noch genauer hinschauen, zeigt der zunächst unscheinbar wirkende hölzerne Deckel des Taufbeckens eine Einlegearbeit mit der Darstellung der Taufe Jesu im Jordan (Abb. 4). Die Hautpartien von Christus und Johannes und die Taube sind aus kostbarem Elfenbein! Dieser Trogener Taufstein mit seiner transalpinischen Geschichte befand sich ursprünglich nicht an seinem heutigen Standort im Chor, sondern vor dem Chorbogen im Kirchenschiff (Abb. 5), direkt unter dem Deckengemälde, auf dem Christus bei der Segnung der Kinder (Lukas 18, 16) dargestellt ist (Abb. 6).

Als integrierende Mitte der reformierten Glaubensgemeinschaft war er umringt von Kirchenbänken, die vollbesetzt mit Menschen das Schiff, die Empore und den ganzen Chor ausfüllten. Als Nabel eines Mikrokosmos spendeten und spenden sein Wasser und die Hand und Worte der taufenden Pfarrperson das Privileg, dazuzugehören.

Sie haben es bemerkt, die Exkursion ist beendet, und ich bin wieder zurück im Hier und Jetzt. Die aus dem Wolkenvorhang herabstürzende Taube bewahrte mich davor, mich mit dem zweiten Teilsatz von Markus 16, 16 in meinem Taufbüchlein befassen zu müssen: «Wer da gläubet und getauft wird, der wird selig werden», hat Johann Sebastian Bach vertont. «Wer aber nicht gläubet, der wird verurteilt werden», hat er nicht vertont. Diese Weglassung ist mir sympathisch. Für mich ist die Kulturgeschichte, das Positive und Kreative der Jahrhunderte, die mannigfaltigen Ausdrucksformen der bildenden und darstellenden Künste, der Musik und Literatur und daraus hervorgehende Wunderdinge wie das Taufrelief von Müstair und der Taufstein von Trogen, Mutmacherin par excellence. Wie viel Wissen, Können, Hingabe und guter Wille steckt in all diesen Zeugnissen bis hin zum heutigen Tag! Und wenn noch das Wohlwollen der Menschen dazugezählt wird, die uneigennützig für andere Menschen da sind, die helfen, wo Unterstützung vonnöten ist, dann steht für mich das freundliche Gesicht Christi auf dem Stuckrelief in der Nordwand von Müstair für die Zuversicht, dass Glaube verstanden werden kann als etwas, das uns antreibt, unsere Fähigkeiten und Begabungen auf dieser Welt so einzusetzen, dass es uns gelingt, Freude und Liebe zu teilen. Das kann zufrieden machen, glücklich und erfüllt.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitmenschen aus nah und fern, in diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim zweiten Hören unserer heutigen Kantate und für die kommenden Pfingsttage Zeit zum Nachdenken – und zum Sein.

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Bildnachweise: Abb. 1 © EVZ-Verlag Zürich, Illustration: Konrad Grimmer (1915–1950); Abb. 2 © Stiftung Pro Kloster St. Johann Müstair, Foto: Suzanne Fibbi-Aeppli, 1987; Abb. 3–6 © Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Ein herzliches Dankeschön an Prof. Dr. Jürg Goll, Müstair, und Prof. Dr. Paul Michel, Zürich, für den inspirierenden Austausch zum Taufrelief in Müstair.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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