Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben

BWV 102 // zum 10. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Oboe I+II, Traversflöte, Streicher und Basso continuo

Predigthafte Eindringlichkeit und beträchtliche musikalische Sogkraft zeichnen Bachs 1726 komponierte Kantate «Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben» aus. Ihr beeindruckend weiträumiger Eingangschor lässt allen Textgliedern eine gleichermassen sprechende Behandlung zuteil werden – ein reichhaltiges Material, das Bach noch um 1737 für wert befand, in das Kyrie seiner Missa brevis g-Moll BWV 235 einzugehen. Die extravagante Linienführung, zerrissene Faktur und eingedunkelte Harmonik der Ariensätze illustriert hingegen den allen unbussfertigen Seelen drohenden Schaden, der aus der Verachtung der göttlichen Gnade resultiert. Kulminierend im totentanzähnlichen Schlusschoral, stellen Musik und Text Takt für Takt beklemmende Fragen und lassen dabei wenig Raum zum abwartenden Ausweichen.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 102

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Ulrike Hofbauer

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Raphael Höhn

Bass
Matthias Helm

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Tomoko Mukoyama

Oboe
Andreas Helm, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Peter Gülke

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.08.2019

Aufnahmeort
St. Gallen // Kirche St. Mangen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
25. August 1726, Leipzig

Textdichter
Jeremia 5, 3 (Satz 1); Römerbrief 2, 4–5 (Satz 4); Johann Heermann (Satz 7); Anonym (Sätze 2, 3, 5, 6; Herzog Ernst-Ludwig von Sachsen-Meiningen)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate BWV 102 gehört zu jenem Jahrgang von 1726, der auf Dichtungen des Meininger Herzogs Ernst Ludwig zurückgeht und auch Kompositionen von Bachs dortigem Verwandten Johann Ludwig Bach einbezog. Gemeinsam ist diesem Typus, dass die Kantaten je von einem Dictum aus dem Alten und Neuen Testament ausgehen, was am 10. Sonntag nach Trinitatis mit seinem Evangelium von der Zerstörung Jerusalems (Lk 19, 41–48) eine besonders düstere Aura heraufbeschwor. Da Bach drei Sätze daraus als Parodievorlagen für seine Messen in F-Dur und g-Moll (BWV 233/235) heranzog, dürfte er diese Kantate besonders wertgeschätzt haben. Zudem ist eine von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel in Hamburg bearbeitete Fassung überliefert, die zur Grundlage des Erstdrucks von Adolf Bernhard Marx 1830 wurde und so für manche Quellenprobleme bei Bach im 19. Jahrhundert steht.

Der Orchestersatz des Eingangschores verknüpft im Wechselspiel von Streichern und Oboen elegische Grundierung und federnde Stringenz. Das Vorspiel kulminiert in kreisenden Repetitionen, die in eine Tutti-Invokation «Herr» leiten, aus der sich im Alt die eindringliche Fortspinnung «Deine Augen sehen nach dem Glauben» herausschält. Nach einer abgewandelten Wiederholung dieses Ablaufs werden die nächsten Textglieder – das abgerissene «Du schlägest sie» und das dem Bass anvertraute «Aber sie fühlen es nicht» – in den konzertanten Drive eingefügt. Eine Ritornell-Passage mündet in eine scheinbar neue Musik, die jedoch aus dem Motiv «Du schlägest sie» abgeleitet wurde und jetzt als Vokalfuge mit bogenförmiger Themengestalt und getupften Oboenschlägen daherkommt. Nachdem die über eine Stimmpaar-Passage angesteuerte Wiederkehr des A-Teils («Herr, deine Augen») aufgrund ihres bremsenden Orgelpunkts trügerische Schlusswirkung suggeriert hat, lässt Bach eine neuerliche Fuge über das noch fehlende Textglied «Sie haben ein härter Angesicht» folgen, die in ihrer planvollen Kontrapunktik und textdeutenden Strenge schulmässig fugenartig wirkt. Da sich die harmonischen Härten des Themas unbarmherzig durch die Stimmen ziehen, berührt die Musik schmerzlichste Affektbereiche, ehe das Orchester die diesmal echte Reprise einläutet. Dieser in jeder Hinsicht reife Kantatenchor gerät gerade in solistischer Chorbesetzung unglaublich schillernd und zwingend; angesichts solchen Ringens um die irrenden Weltkinder wirkt der plötzliche Dur-Schluss auf «Glauben» wie eine unwirkliche Epiphanie.

Es folgt ein nach B-Dur versetztes Bassrezitativ, das nach dem kolossalen Eingang zutraulich wirkt, obwohl die vom Verlust des Göttlichen im dünkelhaften Menschendasein redende Selbstbefragung schonungslos bleibt. Die Arie Nr. 3 gibt sich als f-Moll-Lamento, das als nahezu stillstehendes «Adagio»-Trio von Oboe, Alt und Continuo der Klage über die unbussfertigen Seelen Ausdruck verleiht. Bereits der erste Einsatz beider Oberstimmen ist heftig dissonant; die Continuostimme besteht fast nur aus Seufzerketten. Der Mittelteil («und die Straf auf sich zu laden») beginnt energischer, lässt jedoch in den melodischen Abrissen und greulich geweiteten Sprüngen das «von Gott getrennt sein» derart «störrig» hervortreten, dass nicht wenige Kirchenbesucher am Ohr und Verstand ihres Kantors gezweifelt haben mögen – insbesondere wenn man die nicht gleichschwebende Stimmung der im hohen Chorton stehenden Orgel einrechnet, die ein transponiertes Akkordspiel im kaum erträglichen es-Moll verlangte.

Nach dieser düsteren Szene mobilisiert das nach Es-Dur gerückte Arioso für Bass, Streicher und Continuo dank der tänzerischen 3 ⁄8-Bewegung einige Leichtigkeit, obwohl der Satz motivisch dicht gearbeitet ist und der von Bach feinsinnig als Folge von Fragen präsentierte Text an einer vorwurfsvollen Haltung festhält: «Verachtest du den Reichtum seiner Gnade, Geduld und Langmütigkeit?» Wie in einem Dialog mit verteilten Rollen wird danach mit Güte zur Umkehr geworben, wobei das zur «Buße locken» motivisch dem «Du schlägest sie» des Eingangschores verdächtig nahe steht. Nach einer weiteren rhetorischen Pause scheint dann der Stab endgültig gebrochen – doch gewährt die Rückkehr des Eingangsteils dem Sünder eine letzte Frist, die der nun übernehmende Sonntagsprediger gewiss wortmächtig ausdeutete. Dass Bach in seinem überzeichneten Arioso möglicherweise die Karikatur eines allzu selbstgerechten Kanzelpolterers vorlegte, lässt sich dem Höreindruck nach keineswegs ausschliessen.

Der zweite Kantatenteil beginnt wiederum mit einer g-Moll-Arie, wobei das Pathos der Tonart durch eine bewegliche Flötenkantilene über einer Basslinie gemildert wird, die durch den Zusatz «piano sempre e staccato» delikat gestaltet werden soll. Spätestens beim Einsatz der Tenorstimme stürzt jedoch erneut ein Terror der Drohungen auf die «allzu sichre» Seele ein, wobei das «Erschrecken» in bildhaften Abreissungen gezeichnet wird und auch die Gestik der Flötenstimme sich in den Intervallen verhärtet. Die schwer verständliche Passage «Denk, was dich würdig zähle der Sünden Joch» meint offenbar die Aufforderung, durch tätige Reue in Gottes Augen zu bestehen – das verstörende poetische Bild, dass Gottes Langmütigkeit mit einem «Fuß von Blei» gehe, «damit der Zorn hernach dir desto schwerer sei», evoziert lange vor allen Bremspedalen das furchterregende Potential entfesselter himmlischer Räumpanzer.

Auch das Rezitativ Nr. 6 ist in trübes c-Moll getaucht. Kaum wird eine haltende Stütze greifbar; zum paarigen Trauerläuten der Oboen spricht der Alt davon, wie rasch die Zeit der Busse der unvorbereiteten Todesstunde weichen kann. Und selbst der exquisit harmonisierte Schlusschoral führt dieses «Heute noch» mit totentanzartigen Bildern fort; selbst der Verweis auf Jesus als helfenden Grund aller Busse vermag in der zweiten Strophe die Szenerie nur wenig aufzuhellen. Wenn es das Ziel vormoderner Theologie war, einen ohnehin geängsteten Menschen vollständig zu brechen, dann scheint es hier erreicht – wirkt doch das gesamte Libretto der Kantate «Herr, deine Augen» wie ein peinigendes Verhör durch gleich drei allwissende Kriminalbeamte. Dass selbst die grössten Bachfreunde des 19. Jahrhunderts so etwas angesichts der «herrlichen Musik» als «verruchte deutsche Kirchentexte» (Zelter) empfanden, kann man ihnen nur bedingt verübeln.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Das für den 10. Sonntag nach Trinitatis vorgeschriebene Evangelium (Luk. 19, 41–48 – Jesu Klage über Jerusalem und die Tempelreinigung) gibt der Kantate, ohne dass direkt darauf Bezug genommen würde, die eindringliche Botschaft und das Predigthafte vor: der Ruf zur Umkehr. Der unbekannte Librettist, aus dessen in Thüringen mehrfach gedrucktem Kantatenjahrgang Bach im Laufe des Jahres 1726 auch etliche Vertonungen seines Meininger Verwandten Johann Ludwig aufführte, hat jedoch nicht nur aufrüttelnde Worte der Warnung, sondern auch eine liebevoll gemeinte Werbung Gottes um die Seele des Menschen formuliert. Diese Eindringlichkeit und beträchtliche musikalische Sogkraft zeichnen Bachs zum 25. August 1726 komponierte Kantate «Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben» aus. Ihr beeindruckend weiträumiger Eingangschor lässt allen Textgliedern eine gleichermassen sprechende Behandlung zuteil werden – ein reichhaltiges Material, das Bach noch um 1737 für wert befand, in das Kyrie seiner Missa brevis g-Moll BWV 235 einzugehen. Die extravagante Linienführung, zerrissene Faktur und eingedunkelte Harmonik der Ariensätze illustriert hingegen den allen unbussfertigen Seelen drohenden Schaden, der aus der Verachtung der göttlichen Gnade resultiert. Kulminierend im totentanzähnlichen Schlusschoral, stellen Musik und Text Takt für Takt beklemmende Fragen und lassen dabei wenig Raum zum abwartenden Ausweichen.

1. Chor

Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!
Du schlägest sie, aber sie fühlens nicht;
du plagest sie, aber sie bessern sich nicht.
Sie haben ein härter Angesicht denn ein
Fels und wollen sich nicht bekehren.

1. Chor

Der Einsatz ist ein ausführliches Teilzitat aus dem 5. Kapitel des Jeremia-Buches, das die Untreue des Volkes beklagt und zugleich – auch nach der als Strafe gedeuteten Eroberung Jerusalems und der Exilierung – nur Anzeichen von Verhärtung, aber keine Umkehr des Volkes sieht: «Sie wollen sich nicht bekehren.» Dieses Eindringliche findet sich auch in Bachs Tonsatz wieder, der aus einer zwischen Melancholie und Pathos oszillierenden g-Moll-Klanglichkeit sowie blockhaften Anrufungen des Vokalchors heraus immer wieder schneidende Soloverläufe, Wortvertonungen von grosser Bildkraft («Du schlägest sie») sowie ausgewachsene Fugendurchführungen entwickelt. Im Rahmen einer riesigen Dreiteiligkeit entfaltet Bach eine souverän vielschichtige Lesart des grimmen Bibeldictums; in der ausserordentlichen Ausdehnung des Satzes mag man einen Ausdruck des durch alle menschliche Verleugnung hindurch geduldigen göttlichen Werbens um den Glauben sehen.

2. Rezitativ — Bass

Wo ist das Ebenbild, das Gott uns eingepräget, wenn der verkehrte Will sich ihm zuwider leget? Wo ist die Kraft von seinem Wort, wenn alle Besserung weicht aus dem Herzen fort? Der Höchste suchet uns durch Sanftmut zwar zu zähmen, ob der verirrte Geist sich wollte noch bequemen; doch, fährt er fort in dem verstockten Sinn, so gibt er ihn ins Herzens Dünkel hin.

2. Rezitativ – Bass

Das Bassrezitativ beginnt mit zwei eindringlichen Fragen: Wo die von Gott gestiftete Ebenbildlichkeit des Menschen (Gen. 1, 26) und seine Gottesnähe und wo die Kraft des Gotteswortes geblieben seien, wenn ein verkehrter Wille, wenn ein verwirrter Geist der Verstockung und des Dünkels die Menschen regiere?

3. Arie — Alt

Weh der Seele, die den Schaden
nicht mehr kennt
und, die Straf auf sich zu laden,
störrig rennt,
ja von ihres Gottes Gnaden
Selbst sich trennt.

3. Arie – Alt

Ein rechter Klageruf ist diese Arie über eine Seele, die störrisch und ohne Blick für die Gefahren sich von der Gnade Gottes trennt! Bachs Vertonung im fahlen f-Moll kombiniert eine Continuostimme, die sich in schmerzhaften Seufzern langsam nach oben arbeitet, mit einer später vom Alt aufgegriffenen Oboenkantilene, die bereits dissonant einsetzt und danach Trugschlüsse, harte Sprünge und vergebliche kreisende Verläufe aneinanderreiht.

4. Arioso — Bass

Verachtest du den Reichtum seiner Gnade,
Geduld und Langmütigkeit?
Weißest du nicht, daß dich Gottes
Güte zur Buße locket?
Du aber nach deinem verstockten
und unbußfertigen Herzen häufest dir
selbst den Zorn auf den Tag des Zorns
und der Offenbarung des gerechten
Gerichts Gottes.

4. Arioso – Bass

Mit den Worten des paulinischen Römerbriefes (Kap. 2, 4–5) wird wiederum mit einer aufrüttelnden, rhetorischen Frage Gottes Geduld und Langmütigkeit, seine Güte in Kontrast zur Unbussfertigkeit des Menschen gesetzt. Es wird auch auf die Folgen – das gerechte Gericht Gottes – hingewiesen. Nach dem zähen Adagio der Altarie wirkt das geschwinde 3∕8-Arioso deutlich kraftvoller und zielbewusster, was vor allem im zweiten Teil eifernde Predigttöne keineswegs ausschliesst.

5. Arie — Tenor

Erschrecke doch,
du allzu sichre Seele!
Denk, was dich würdig zähle
der Sünden Joch.
Die Gottes Langmut geht auf einem
Fuß von Blei,
damit der Zorn hernach dir desto
schwerer sei.

5. Arie – Tenor

Die den zweiten Kantatenteil eröffnende Tenorarie setzt dieses Werben Gottes um die Seele des Menschen fort: «Erschrecke doch, du allzu sichre Seele!» – bedenken solle sie die Folgen, die Versklavung durch die eigenen Sünden. Die finstere Drohung des Textes bekommt durch den fragilen Klang der Traversflöte eine fremdartige Färbung. Dass die instrumentale Obligatstimme in einer wohl späteren Aufführung (durch J. S. Bach?) einem Violino piccolo übertragen wurde, passt zu ihrer stellenweise recht geigerischen Motivik.

6. Rezitativ — Alt

Bei Warten ist Gefahr;
willt du die Zeit verlieren?
Der Gott, der ehmals gnädig war,
kann leichtlich dich vor seinen Richtstuhl
führen. Wo bleibt sodann die Buß? Es ist
ein Augenblick, der Zeit und Ewigkeit, der
Leib und Seele scheidet; verblendter Sinn,
ach kehre doch zurück, daß dich dieselbe
Stund nicht finde unbereitet!

6. Rezitativ – Alt

Auch das Altrezitativ nimmt diesen warnenden, aber auch werbenden Ton auf: Weshalb Zeit verlieren und zuwarten mit Busse und Umkehr, bald sei es zu spät: «Es ist ein Augenblick, der Zeit und Ewigkeit, der Leib und Seele scheidet» – in jener Stunde solle man nicht unvorbereitet sein! Das jeweils auf schwacher Taktzeit nachschlagende Oboenpaar verstärkt wie ein Medium des inneren Nachsinnens die flehentlich-ernste Textaussage.

7. Choral

Heut lebst du, heut bekehre dich!
Eh morgen kömmt, kanns ändern sich;
wer heut ist frisch, gesund und rot,
ist morgen krank, ja wohl gar tot.
So du nun stirbest ohne Buß,
dein Leib und Seel dort brennen muß.

Hilf, o Herr Jesu, hilf du mir,
daß ich noch heute komm zu dir
und Buße tu den Augenblick,
eh mich der schnelle Tod hinrück,
auf daß ich heut und jederzeit
zu meiner Heimfahrt sei bereit.

7. Choral

Die Kantate schliesst mit einem Choral des bedeutenden Kirchenlieddichters Johann Heermann (1585–1647), der das Anliegen der ganzen Kantate zusammenfasst: «Heut lebst du, heut bekehre dich!» – und deshalb sollte man «heute und jederzeit» zur «Heimfahrt» bereit sein…

Reflexion

Peter Gülke

Am 25. August des Jahres 1726, dem zehnten Sonntag nach Trinitatis, ging es in der Thomaskirche zu Leipzig recht alttestamentlich zu – nicht nur weil Bach in der Kantate BWV 102 Jeremias und den Apostel Paulus mit einer Passage aus dem Römerbrief zitiert, einem massiv-nachdrücklichen «Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe», worin der alte, zornig drohende Gott deutlicher spricht als der liebe Gott der späteren Evangelisten, sondern auch weil die Musik dies reflektiert.

Wenn es eines Beweises bedürfte, dass Bach wusste, mit welchen Aussagen und Kontexten er umging, erbrächte ihn allein die Arie «Weh der Seele, die den Schaden nicht mehr kennt…», eine seiner kühn ausgreifenden Erfindungen – musikalische Prosa, ein von Dissonanzen, Vorhalten, Querständen strotzendes Geflecht zweier chromatisierend gewundener Stimmen (Alt und Solooboe), deren Führung alte Klageformeln dichtestmöglich aneinanderreiht. Bezeichnenderweise nahm er die Arie zehn Jahre später, wenig verändert, als «Qui tollis» in die F-Dur-Messe BWV 233 auf, dem liturgischen Text damit eine subjektiv geschärfte Eindringlichkeit verschaffend, der man bei «Qui tollis»-Vertonungen selten begegnet. Offenbar sollte die Arie verdeutlichen, was ein vorab zorniger Gott und die augustinische «Logik des Schreckens» (Kurt Flasch) dem Gläubigen auferlegen, lediglich in den Rezitativen durch zage Hinweise auf den lieben, verzeihenden Gott aufgehellt. Innerhalb der Kantaten zwischen dem Trinitatis-Sonntag 1726 und Karfreitag 1727, in die immerhin «Ich will den Kreuzstab gerne tragen» und «Ich habe genung» gehören, steht BWV 102 als dunkelste, skrupulöseste. Als hätten die Verfasser – neben Bach ein in Meiningen ansässiger, namentlich nicht bekannter Textdichter – verdeutlichen wollen, dass man es sich mit Glaubensdingen schwer machen müsse, dass zu wahrer, tiefer Gläubigkeit auch der Hintergrund von Zweifeln gehöre. Bei der «Weh»-Arie darf man an Kierkegaards «Furcht und Zittern» denken.

Sofern wir die folgende Arie (neben der Einleitung der sperrigste Text) richtig verstehen – der hochkompetente Alfred Dürr war ratlos –, riskiert Bach in ihr noch mehr: Hatte er Töne und Worte zuvor enigmatisch-innig verwoben, so hält er sie hier weit auseinander, scheint es auf fortwährenden Widerstreit, aufs Nicht-zueinander-Passen, auf den Eindruck anzulegen, die Musik verhöhne die Worte, aus ihr sprächen die, die des Paulus Standpauke nicht hören wollen: Zu dieser (Römerbrief II, 4–5) munter bewegtes 3/8-Vivace! Zudem veranstaltet Bach Verwirrspiele, indem er die vier- oder sechstaktigen Perioden, die zum Gepräge der vermeintlich simplen Musik gehören, gegeneinander verschiebt. Und, als sei dies immer noch nicht genug, betont er «falsch» («Verachtest», «Geduld»), was dank raschen Tempi besonders auffällt; wenn er bei «locket» oder «deinem verstockten und unbussfertigen Herzen» kleine Wendungen penetrant wiederholt, weiss man nicht, ob dies als Verhöhnung der Worte zu verstehen sei. Wie sehr ist das, bei Bach unvermutet, «negative Musik»? In der Oper kennt man es längst, so bei dröhnend positiven Triumphauftritten von Herrschaften, denen man den Triumph nicht gönnt. Hier freilich geschieht noch mehr – Worte und Musik stehen gegeneinander, scheinen sich gegenseitig zu dementieren.

Wie sehr reden in der Musik die verstockten Herzen, gegen die der Text wütet? – Die Töne von sich aus können es nicht beantworten; so dürfen wir es nur – und müssen es doch angesichts der allenthalben bei Bach spürbaren theologischen Sensibilität – als möglich mitdenken. Hat er gar die zweierlei Furcht direkt kontrastieren wollen, von denen Pascal spricht? – Grosse Denker «erfinden» nicht nur, sondern finden bzw. beantworten, was seinerzeit gefühlt, gedacht, diskutiert worden ist! «Superstition et concupiscence. Scrupules, désirs mauvais. Crainte mauvaise: crainte, non celle qui vient de ce qu’on croit Dieu, mais celle de ce qu’on doute s’il est ou non. La bonne crainte vient de la foi, la fausse crainte vient du doute. La bonne crainte, jointe à l’espérance, parce qu’elle nâit de la foi, et qu’on espère au Dieu que l’on croit: la mauvaise, jointe au désespoir, parce qu’on craint le Dieu auquel on n’a pont de foi. Les uns craignent de le perdre, les autres craignent de le trouver.»

Auch ausserhalb solcher Hintergründe finden sich Sinn- und Wortverdeutlichungen allenthalben, von Symbolismen bis ins vordergründig Deklamatorische reichend. Dass die titelgebende Wendung «Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben» nach einer 20-taktigen, prachtvoll konzertierenden Einleitung in satztechnisch unterschiedlicher Konstellation sechsmal wiederholt wird, ehe der Text zum rhetorisch verdeutlichten «Du schlägest sie, du plagest sie» fortgeht, mutet im Hinblick auf das Auge Gottes, dem nichts verborgen bleibt, programmatisch an. Wenn Bach aus «Du schlägest…» ein Fugenthema macht, multipliziert er den schlagenden Gestus, als dürfe das kontrapunktische Procedere sich nicht vor jenen schieben; ähnlich im zweiten Fugato («Sie haben ein härter Angesicht als ein Fels und wollen sich nicht bekehren»), wo bei «Fels» als dem Zeichen der Verstocktheit jedes Mal der nach oben gerichtete Tritonus («diabolus in musica») hervorsticht. Der Wehruf auf des, auf dem Oboe und Solistin in der Arie Nr. 3 einsetzen, bezieht den affektiven Nachdruck wesentlich daraus, dass er unvermittelt wie von aussen in die Musik hineinzufallen scheint, zu der bequemer stimmig auch c passen würde. «Langmüthigkeit» im Arioso Nr. 4 erscheint als langgezogener Schlusston; zu Beginn des zweiten Teils (Nr. 5) muss der Sänger fünfmal in gezackten Figuren «erschrecken», bevor ihm fortzufahren erlaubt ist – wie viel Nachdruck qua Kontrast erhalten dadurch die langen Noten bei Schwerpunktworten: «Joch», «denk», «Langmuth», «geht», «Blei», «schwerer»! Im Recitativo accompagnato Nr. 6 gehört zur Drohung, dass keine Zeit zu verlieren sei («Beim Warten ist Gefahr»), die 26-mal gleichbleibend wiederkehrende Figur der Oboen. Mit «Heut lebst du, heut bekehre dich, / eh morgen kommt, kann‘s ändern sich» schliesst der Schlusschoral textlich direkt an.

Da die Kontexte der Bibelworte Bach, seinem Textdichter und den Gläubigen klar waren, bedurfte es eines Scharniers, einer semantischen Kurve. Die von Jeremia flankierten Mahnungen des Paulus hatten ursprünglich die nahe bevorstehende Parusie vorausgesetzt, Christi Wiederkehr samt Jüngstem Gericht («…das Himmelreich ist nahe»), und von hierher ihre «demagogische» Dringlichkeit bezogen. Wie immer Paulus‘ Briefe inzwischen heilig waren, «ein Donner, ein universaler Donner, der durch die ganze Welt hallt» (John Donne) – da die Parusie mittlerweile 17 Jahrhunderte auf sich warten liess, erschien die Drohung nur mehr historisch. Obgleich in den Texten der Kantate mitgesetzt, werden die einstmaligen Hintergründe nirgendwo angesprochen; indes scheinen sie in der Berufung auf den älteren, zornigen Gott – erst die zweite Choralstrophe redet Jesus direkt an – und der Mahnung durch, es sei keine Zeit zu verlieren. Die aber – mors certa, hora incerta – lässt sich auch aufs Sterben beziehen, und dem wendet sich die Kantate im Accompagnato Nr. 6 mit «Es bleibt ein Augenblick, / der Zeit und Ewigkeit, der Leib und Seele scheidet» unverkennbar zu. Mit den Worten der Strophen 6 und 7 des Chorals «So wahr ich lebe, spricht dein Gott» kommt der Schlusschoral hier endgültig an.

Zuvor indes ist das musikalisch bereits mit dem schliessenden G-Dur der Nr. 6 geschehen, folgerichtig zumal, da das g-Moll des Einleitungschors in der den zweiten Teil eröffnenden «Erschrecke dich»-Arie wieder aufgenommen war, mit ihm übrigens, eher im Satzuntergrund, die wechseltönig beginnende Schleiferfigur.

Neben dem Eingangschor und der «Weh»-Arie Nr. 3 hat Bach auch die «Erschrecke dich»-Arie Nr. 5 später anderweitig verwendet – ein Zeichen, wie sehr er die Stücke schätzte, auch deshalb sie unabhängig von einem Zusammenhang wünschte, der sie an ein einziges, bestenfalls alle Jahre wiederkehrendes Datum band. Die gezackte «Erschrecke dich»-Figur freilich erschien ihm allzu stark vom Wortsinn her geprägt; ohne den Satz eingreifend zu verändern, hat er das Thema als «Quoniam» umgeschrieben. Bei der Übernahme des Einleitungschors als Kyrie der g-Moll-Messe BWV 235 mag mehr Zeitdruck mitgespielt haben; trotz geringfügiger Umgestaltungen lässt sich die ursprüngliche Prägung durch die Worte bei beiden Fugatothemen kaum vergessen, das «Schlagen» hinter «Christe eleison», der auf den Tritonus fixierte «Fels» bei der Schlusssilbe im zweiten «Kyrie eleison».

Grosso modo ähnelt der Grundriss der Kantaten jener Zeit denen von Bachs Vetter Johann Ludwig, von denen er 18 in den allsonntäglich fälligen Aufführungen berücksichtigt hat. Hierbei mag neben dem unbegreiflichen Arbeitspensum auch der Hinblick auf die am nächsten Karfreitag (1727) fällige Matthäuspassion eine Rolle gespielt haben. Wie gut lässt sich vorstellen, dass das auch für Erfahrungen gilt, die Bach in der Kantate BWV 102 mit der Verflechtung theologischer und dramaturgischer Aspekte, u.a. den Positionswechseln der Musik, gemacht hatte!    

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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